Politische Bildung muss nicht neutral sein
In der politischen Bildungs- sowie der Präventionsarbeit kommt es gegenwärtig zu tiefgreifenden Verunsicherungen im Umgang mit rechten, diskriminierenden und antidemokratischen Sichtweisen. Dürfen politische Bildner(innen) und Lehrer(innen) derartigen Äußerungen gegenüber Stellung beziehen? Können politische Bildungsveranstaltungen explizit gegen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus organisiert werden? Wie politisch darf politische Bildungsarbeit sein?1
Ihren Ausgangspunkt sowie zugleich ihre Lösung finden diese Fragen im politischen Neutralitätsgebot des Grundgesetzes. Dessen eigentlicher Bedeutungsgehalt wird jedoch immer wieder missinterpretiert oder aber von rechtsextremen beziehungsweise rechtspopulistischen Akteur(inn)en bewusst verfremdet. So instrumentalisiert insbesondere die Partei Alternative für Deutschland (AfD) das Neutralitätsgebot immer wieder dahingehend, dass es den schulischen und außerschulischen politischen Bildnern(inne)n Wertneutralität vorschreibe.2 Zugleich wird von staatlicher Seite bei der Vergabe öffentlicher Fördermittel an außerschulische politische Bildner(innen) die Forderung nach "politischer Neutralität" erhoben.3 Auch in diesem Zusammenhang ist es vor allem das politisch rechte Spektrum, das Verunsicherung über die Bedeutung des Neutralitätsgebots hervorruft, um dann die miterzeugte Stimmungslage zu nutzen, indem es diese eigenmächtig umformuliert und dadurch politischen Druck erzeugt.So bemerkt etwa die AfD Sachsen in ihrem letzten Wahlprogramm, dass Schule kein Ort der Indoktrination sein dürfe. Sodann behauptet sie jedoch, dass der renommierte Verein "Schule ohne Rassismus" unter dem "Deckmantel des Antirassismus" einen "Kampf gegen die AfD und ihre politischen Positionen führe".4 Diese Instrumentalisierung des politischen Neutralitätsgebots durch rechtspopulistische, rechtsextreme sowie Akteur(inn)e(n) der "Neuen" Rechten führt jedoch zu einem performativen Widerspruch: Die demokratischen Prinzipien werden benutzt beziehungsweise missbraucht, um politische Meinungsvielfalt einzuschränken und anderen ihre Legitimation zur politischen Positionierung abzuerkennen.5 Um den dadurch entstehenden Herausforderungen begegnen zu können, braucht es zunächst ein juristisch fundiertes Verständnis des politischen Neutralitätsgebots.
Es gilt Unparteilichkeit, nicht
Wertefreiheit
Wenngleich der Grundsatz der Neutralität nicht ausdrücklich in der Verfassung normiert ist, leitet er sich aus einer Zusammenschau verschiedener zentraler Prinzipien des Grundgesetzes ab.6 Dazu zählen insbesondere das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), das Prinzip der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG), das Parteienprivileg (Art. 21 GG), die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) sowie die Wahlrechtsgrundsätze (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG).Nimmt man diese Prinzipien in ihrer Gesamtheit in den Blick, ergibt sich auch der maßgebliche Inhalt des Neutralitätsgebots.
In der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (fdGO), die das Grundgesetz etabliert, geht alle Staatsgewalt vom Volk aus und wird von diesem in Wahlen, Abstimmungen und durch besondere Organe der Legislative, Exekutive und Judikative ausgeübt (siehe Art. 20 Abs. 1 und 2 GG).7 Damit diese Wahlen die ihnen zugedachte demokratische Legitimation vermitteln können, muss zum einen die Stimmabgabe selbst frei von Zwang und unzulässigem Druck erfolgen (Art. 38 Abs. 1 GG). Zum anderen müssen die Bürger(innen) ihre Meinung in einem freien sowie offenen Prozess bilden und Entscheidungen fällen können.8 So gesehen muss sich die Willensbildung immer vom Volk hin zu den Staatsorganen vollziehen und gerade nicht umgekehrt.9
Garant eines gelingenden Prozesses der freien Meinungs- und Willensbildung durch das Volk sind aus verfassungsrechtlicher Perspektive dabei die politischen Parteien, die verschiedene gesellschaftliche Überzeugungen bündeln und auf der parlamentarischen Ebene repräsentieren. Aus diesem Grund müssen ihnen im Wettbewerb um die Stimmen der Wähler(innen) stets die gleichen Chancen gewährt werden.10 Dieses sogenannte Parteienprivileg schützt die Parteien folglich nicht um ihrer selbst willen, sondern stets in ihrer Funktion im gesamtgesellschaftlichen demokratischen Prozess der freien Meinungsfindung und Willensbildung. Greift der Staat selbst oder in Form einer Vertreterin oder eines Vertreters in dieses Privileg ein, indem er sich zugunsten oder zulasten einer politischen Partei positioniert, wird dadurch nicht nur der Gleichheitssatz, sondern auch die Integrität der Willensbildung des Volkes in Form von Wahlen und Abstimmungen verletzt.11 Die strikte Beachtung des Parteienprivilegs meint in der Konsequenz folglich den Schutz des Wahlrechts der einzelnen Bürger(innen) sowie des Demokratieprinzips im Ganzen.
Das politische Neutralitätsgebot verlangt von Trägern staatlicher Gewalt folglich Unparteilichkeit, nicht aber Wertefreiheit.12 Die kritische Auseinandersetzung mit Überzeugungen und Programmen von Parteien ist ebenso zulässig, wie sich von diesen abzugrenzen und zu themenspezifischen Veranstaltungen jene Parteivertreter(innen) einzuladen, die sich zu den entsprechenden Inhalten fachkundlich äußern können.13
Das Neutralitätsgebot fordert
nicht zu Indifferenz auf
Dementsprechend muss politische Bildung und Jugendarbeit auch keinesfalls politisch neutral sein. Das Neutralitätsgebot ist im Sinne der deutschen Verfassung nicht als Aufforderung zur Indifferenz, sondern als Auftrag zum Einsatz für die verfassungsrechtlichen Werte zu interpretieren. Politische Bildungsarbeit hat folglich einen Doppelauftrag: Sie soll zu eigenständig-kritischem Denken sowie Meinungsbildung erziehen und dabei zugleich demokratische Werte beachten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Meinungsfreiheit ebenso wie alle anderen Grundrechte nicht absolut gilt und dort zurückstehen muss, wo sie andere Grundrechte oder Verfassungsprinzipien verletzt.
Dementsprechend haben politische Bildner(innen) nicht nur das Recht, sondern gegebenenfalls auch die Pflicht, gegenüber verfassungsfeindlichen Äußerungen - etwa bei Diskussionen um Parteiprogramme oder Äußerungen einzelner Politiker(innen), ebenso aber auch bezüglich Verhaltensweisen von Schüler(inne)n - Stellung zu beziehen. Dies umfasst insbesondere Aussagen, die sich gegen tragende Verfassungsprinzipien (beispielsweise Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip) richten oder individuelle Grundrechte verletzen, indem sie Menschen diskriminieren oder anderweitig herabwürdigen. Zwar sind unterschiedliche Meinungen verfassungsrechtlich nicht nur ausdrücklich geschützt, sondern für eine plurale Diskussion auch unabdingbar. Deshalb ist schließlich auch unliebsamen, kritischen Stimmen grundsätzlich Raum zu bieten.
Bildungsangebote dürfen sich
nicht gegen eine Partei richten
Unzulässig im Kontext politischer Bildung sind dagegen Angebote, die sich ausdrücklich gegen eine bestimmte Partei richten oder aber sich für diese einsetzen. Insofern politische Bildner(innen) ihre eigene Position vertreten, darf dies nicht zu einer einseitigen Beeinflussung der Schüler(innen) führen. Gleichsam soll die Kernaufgabe politischer Bildungsarbeit, auf Missstände und Fehlentwicklungen innerhalb der Gesellschaft hinzuweisen, diese zu kritisieren und zu bearbeiten, nicht gefährdet werden.14 Synchron zu dieser rechtlichen Wertung wird auch in der politikdidaktischen Diskussion darauf hingewiesen, dass eine absolute Neutralität von Lehrpersonen im Sinne gesellschaftspolitischer Indifferenz an die Schüler(innen) das fatale Signal senden könnte, sich herauszuhalten und nicht Flagge zeigen zu wollen.15 Insofern kann es nicht nur zulässig, sondern im Sinne des politischen Bildungs- und Erziehungsauftrages auch sinnvoll sein, wenn Pädagog(inn)en in den entsprechenden Situationen Haltung zeigen.
Anmerkungen
1. Vgl. umfassend Weitzmann, G.: Nichtneutralität als Qualitätsstandard der Jugendarbeit. Gedanken zum angeblichen Neutralitätsgebot in der Jugendarbeit. In: FORUM Jugendhilfe 3/2021, S. 11-15.
2. Waldmann, K.: Kann wertfrei über Demokratie informiert und diskutiert werden? In: Journal für politische Bildung (JOURNAL) 2/2019, S. 26; auch beispielsweise zur parteipolitischen Neutralität des Deutschen Olympischen Sportbundes (BT-Drs. 19/22011, S. 1 ff.), zur Bildungsstätte Kurt Löwenstein e. V. sowie zur Sozialistischen Jugend Deutschlands (LT Brandenburg Drs. 7/1980, S. 1 ff.), ebenso auf den von der AfD betriebenen Internetportalen "Neutrale Schule".
3. Lösch, B.: Wie politisch darf und sollte Bildung sein? Die aktuelle Debatte um "politische Neutralität" aus Sicht einer kritisch-emanzipatorischen politischen Bildung. In: Gärtner, C., Herbst, J.-H. (Hrsg.): Kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik. Diskurse zwischen Theologie, Pädagogik und Politischer Bildung. Wiesbaden: VS Springer, S. 384.
4. Vgl. Alternative für Deutschland: Trau Dich Sachsen. Regierungsprogramm der Alternative für Deutschland zur Landtagswahl Sachsen 2019, S. 32 (Kurzlink: https://bit.ly/32M0Niw); Sächsische LT-Dr. 6/17601.
5. Vgl. Reinhardt, S.: Unterricht mit rechts orientierten Schülern und Empörten - Probleme und Ideen. In: Gesellschaft. Wirtschaft. Politik (GWP), 66 (2)/2017, S. 283.
6. Dişçi, D.: Der Grundsatz politischer Neutralität. Grenzen der Äußerungsbefugnis politischer Amtsträger. Berlin: Duncker und Humblot, 2019, S. 20.
7. BVerfGE 138, 102 (Rn. 27).
8. BVerfGE 20, 56 (97); 44, 125 (Rn. 46); 30, 56 (Rn. 55); 148, 11 (Rn. 40).
9. BVerfGE 138, 102 (Rn. 28); 44, 125 (Rn. 49).
10. BVerfGE 138, 102 (Rn. 28); 44, 125 (Rn. 58).
11. BVerfGE 138, 102 (Rn. 31); 44, 125 (Rn. 56); 148, 11 (Rn. 45).
12. Vgl. Wrase, M.: Wie politisch dürfen Lehrkräfte sein? Rechtliche Rahmenbedingungen und Perspektiven. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 2020/14-15, S. 10.
13. Weitzmann 2021, a. a. O., S. 12.
14. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Beachtung des Neutralitätsgebots im Umgang mit Parteien. Brief der Ministerialdirektion vom 1. März 2021, S. 2.
15. Overwien, B.: Politische Bildung ist nicht neutral. In: Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit 1/2019, S. 29.
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