Der Wind von rechts wird stärker – die Jugendhilfe reagiert
Rechtsextremismus beschäftigt zunehmend die Gesellschaft. Rechtsextreme Terroranschläge, das "Spiel" mit rechtsextremer Rhetorik, etwa im Bundestag oder in Landesparlamenten, sowie das Erstarken von bürgerlichen "Sammelbewegungen" wie Pegida oder "Querdenker", die es nicht mehr verwerflich finden, von rechtsextremen Kräften unterstützt zu werden, zeigen, wie stark das Problem ist. Der Verfassungsschutz erklärt 2021 Rechtsextremismus mit all seinen Facetten zur größten Gefahr für die Demokratie in Deutschland. Fachexpert(inn)en und Medienvertreter(innen) warnen seit Jahrzehnten vor der Strategie rechtsextremer Kreise, neben einer Radikalisierung von gefährlichen Szene-Akteuren auch eine Normalisierung von rechtsextremen Haltungen in der Mitte der Gesellschaft anzuvisieren.
Davon sind auch Arbeitsfelder der Jugendhilfe betroffen. Einige Beispiele aus der Praxis: (1) In einer stationären Mutter-Kind-Einrichtung leben junge Mütter, die nicht zurückwollen in ihr bisheriges Leben mit rechtsextremer Szenezugehörigkeit. Es besteht der Bedarf an spezifischen Strukturen der familienbezogenen Umfeld- und Ausstiegsunterstützung, in der die Jugendhilfe eng mit Fachträgern der Distanzierungsarbeit zusammenarbeitet. (2) Eine sozialpädagogische Familienhelferin (SPFH) soll eine Familie betreuen, in deren Wohnung zahlreiche eindeutig rechtsextreme Symbole dargeboten sind. Wie soll, wie kann sie reagieren? (3) Mitarbeitende einer Kindertagesstätte werden von Eltern wegen notwendiger Corona-Maßnahmen verbal angegriffen. Dabei sind sie gleichermaßen mit Vergleichen zum Nationalsozialismus und antisemitischen Äußerungen konfrontiert. (4) Eine Schulsozialarbeiterin plant einen Projekttag zur "Rechtsextremismusprävention, für Demokratie und Vielfalt". Einige Eltern wenden sich gegen das Vorhaben und argumentieren mit dem Neutralitätsgebot. Die Schule sagt den Projekttag ab. (5) Eine neue Mitarbeiterin nimmt als Sozialarbeiterin in einer stationären Jugendhilfe ihren Dienst auf. Dabei wird erst mit der Zeit bemerkt, dass sie in der rechtsextremen Szene aktiv ist. Die Frau ist im kollegialen Kontakt unauffällig, aber aus pädagogischer Sicht ist es problematisch, dass sie Kontakt zu den Jugendlichen der Wohngruppe hat.
So unterschiedlich die beschriebenen Praxisfälle sind, so sehr zeigen sie den Bedarf, dass Mitarbeitende der Jugendhilfe darauf vorbereitet sein sollten. Was können (sozial-)pädagogische Fachkräfte tun, wenn sie rechtsextremen Phänomenen in ihren Arbeitsfeldern begegnen? Wie geht man damit um, wenn das Neutralitätsgebot1 als generelles Verhinderungsargument gegen Maßnahmen der politischen Bildung und Rechtsextremismusprävention genutzt wird? Und was können Institutionen und Träger tun, wenn sie feststellen, dass rechtsextreme Akteure und Akteurinnen bei ihnen aktiv sind oder gar arbeiten?
Mögliche und notwendige Interventionen
Für Fachkräfte der Jugendhilfe stellen Begegnungen mit rechtsextremen Phänomenen ohne Zweifel eine Herausforderung dar. Neben der inhaltlichen und methodischen Herausforderung sind die knappen Personal- und Zeitressourcen hinderlich. Doch gerade deswegen braucht es einen guten Fahrplan, um menschenverachtende und demokratiefeindliche Vorkommnisse im Arbeitsalltag nicht als Überforderung zu erleben. Als Fahrplan werden hier drei übergreifende Schritte empfohlen, die notwendige Interventionen vorbereiten und absichern:
◆ fachliche interne (und externe) Beratung;
◆ Einüben von Gesprächsstrategien, um menschenverachtenden und demokratiefeindlichen Äußerungen entgegentreten zu können;
◆ juristische und verbandliche Absicherung.
Unabdingbar ist, dass die Handlungsschritte von den jeweiligen Trägern der Jugendhilfe mit angeboten und unterstützt werden. Ansonsten sollten Fachkräfte externe spezialisierte Träger wie etwa die Mobilen Beratungsstellen der Bundesländer2 mit hinzuziehen.
Fachliche interne (und externe) Beratung
Fachkräfte, die rechtsextreme, demokratiefeindliche und andere Phänomene wahrnehmen, sollten unmittelbar in den internen Austausch mit Kolleg(inn)en gehen, um deren Einschätzungen einzubeziehen und gemeinsam Handlungsstrategien zu entwickeln. Sinnvoll kann es sein, Vorkommnisse kurz zu notieren. Auch sollte geklärt werden, inwieweit Auffälligkeiten gegebenenfalls juristische Relevanz haben und angezeigt werden müssen, zum Beispiel die Nutzung von verfassungswidrigen Kennzeichen3 (§ 86 a StGB) oder Androhung von Gewalt gegen bestimmte Personen. Ratsam ist auch das Hinzuziehen von externen Berater(inne)n zur Rechtsextremismusprävention. Hier gibt es eine Reihe landes- und bundesweiter spezialisierter Träger4 zur Beratung, Fortbildung und Begleitung von Institutionen wie Kitas, Schulen und Jugendhilfe. Teil der internen und externen Beratung ist neben der Planung von Handlungsschritten die Frage, inwieweit eine Institution und deren Fachkräfte Dinge intern klären können oder inwieweit (zwingend) Akteure von außen hinzugezogen werden müssen.
Da gerade Jugendhilfe in einem Handlungsfeld tätig ist, in dem Fingerspitzengefühl für den Kontakt- und Vertrauensaufbau und dessen Erhalt gegenüber den Klient(inn)en erforderlich ist, kann es ratsam sein, dass die pädagogischen Fachkräfte Fortbildungen zu geeigneten Interventionen wahrnehmen. Unbedingt sollten hier zusätzliche Zeitressourcen und die fachliche Begleitung für die Fallarbeit gewährleistet sein. Background-Coaching und Supervision wären insbesondere für die oben genannten Fallbeispiele (1) und (2) eine mögliche Strategie.
Einüben von Gesprächsstrategien
Um menschenverachtenden und demokratiefeindlichen Äußerungen pragmatisch und effektiv begegnen zu können, bieten sich erfahrungsgemäß kurzfristige Trainingseinheiten zum Umgang mit einschlägigen Situationen an. Bevor eine spezialisierte Fachperson von außen hinzugezogen wird, kann eine interne Klärung für sich und im Team ein zielführender Schritt sein. Dabei geht es unter anderem darum, dass sich die Fachkräfte ihrer eigenen Haltung gegenüber bestimmten Äußerungen bewusst sind. Was lösen bestimmte Bemerkungen in ihnen als Person aus? Machen sie betroffen, lähmen sie? Teilen sie diese sogar partiell? Das sollte im Teamgespräch respektvoll miteinander geklärt werden, bei größeren Teams sollte eine externe Moderation hinzugezogen werden. Des Weiteren können mit einer spezialisierten Person situationsbezogene Gesprächsstrategien erarbeitet und anhand von Rollenspielen verbale Interventionen eingeübt werden. Einfache und pragmatisch angeleitete Rollenspiele sind erkenntnisreich und können helfen, schwierige Situationen aus neuer Perspektive zu erleben. Für die Gesprächsstrategien lassen sich folgende allgemeine Empfehlungen wie ein Appell zusammenfassen:
◆ Seid aufmerksam gegenüber menschenverachtenden und demokratiefeindlichen Äußerungen.
◆ Überprüft eure eigene Haltung zu den jeweiligen Themen.
◆ Zeigt Tabubrüche sachlich auf, ohne das Gegenüber zu entwerten.
◆ Stellt interessierte Nachfragen, anstatt zu argumentieren.
◆ Übt narrative Gesprächstechniken ein, die Hintergrunderfahrungen erschließen.
◆ Bleibt durchweg gelassen in eurer Haltung.
Juristische und verbandliche Absicherung
Am Beispiel der Bezugnahme von rechtspopulistischen Parteien oder rechtsextremen Eltern auf das Neutralitätsgebot wird deutlich, wie wichtig es ist, sich nicht auf juristisches Glatteis ziehen und irreführen zu lassen. Projekte für Menschenrechte und Demokratie, Maßnahmen, die sich für die Inklusion etwa von Menschen mit Fluchterfahrung einsetzen, kommen sicher nicht in Konflikt mit dem Neutralitätsgebot, sondern entsprechen vielmehr dem Grundgesetz und dem vielseitigen Auftrag der Jugendhilfe. Wenn Träger aber immer wieder Diskussionen und gar Anfeindungen in Bezug auf ihre Angebote und Maßnahmen ausgesetzt sind, empfiehlt es sich, für die Institution und ihre Mitarbeitenden eine rechtliche Informationsveranstaltung zu organisieren oder für Einzelfälle eine interne oder verbandliche Rechtsberatung anzubieten. Schließlich kann die verbale Auseinandersetzung gerade auch mit den vielen "Schwurblern" und Anhängern von Verschwörungserzählungen sehr mühsam und kraftraubend werden. Denn mit strategischem Themen-Hopping (dem Whataboutismus), der Aufzählung von als Fakten aufgebotenen Fehlinformationen und aggressiv-selbstbewusstem Auftreten sind in den letzten Jahren viele aufrechte Demokrat(inn)en in besonderer Weise herausgefordert gewesen. Da ist es gut, rechtlich abgeklärt zu sein - und sich in einem passenden Kommunikationstraining gestärkt zu haben.
Die Arbeit für Menschenrechte als Ziel der Einrichtung
Die Träger und Institutionen können aber auch präventiv ihren Arbeitsbereich absichern und die Arbeit für Menschenrechte und Demokratie als Ziel ihrer Arbeit in ihre Satzung und Leitbilder mit aufnehmen. So können sie konkrete Schritte und Wirkungsziele benennen, zum Beispiel, gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Demokratiefeindlichkeit entgegenzuwirken. Damit sind entsprechende Maßnahmen eindeutig abgesichert und es lässt sich bei Kritik, etwa durch Eltern, darauf verweisen. Damit hat man auch ein Instrument, um rechtsextreme Mitarbeitende nicht einzustellen beziehungsweise ihnen zu kündigen, da davon auszugehen ist, dass ihre Werte den Werten des Trägers fundamental widersprechen.
Um bei der Planung von Veranstaltungen, die das legitime und notwendige Ziel haben, etwas gegen Rechtsextremismus zu tun, jegliche Torpedierung von außen zu vermeiden, empfiehlt sich eine Titelwahl, die positive Wirkungsziele formuliert. Denn wir arbeiten für ein vielfältiges, durch und durch menschenrechtlich geprägtes, demokratisches Zusammenleben, das die gleichberechtigte Teilhabe von allen ermöglichen soll.5
Anmerkungen
1. Zum Neutralitätsgebot lesen Sie auch den Beitrag von Brandt, L. A.: Politische Bildung muss nicht neutral sein; in diesem Heft, S. 9 ff.
2. Vgl.www.bundesverband-mobile-beratung.de
3. Zur Orientierung vgl.www.dasversteckspiel.de
4. Vgl. https://infoportal.komprex.de
5. Für weitere Informationen sind neben den bereits genannten folgende Links empfohlen: https://cultures-interactive.de/de/veroeffentlichungen.html; https://farp.online; www.womex.org; https://kompetenznetzwerk-rechtsextremismuspraevention.de
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