Die Probleme beginnen in der Familie
Das Projekt "Ready4 - logged off" gehörte von 2019 bis 2021 zum Bereich Jugendhilfe der Diakonie Augsburg. Es sollte vor allem junge Menschen ansprechen, die öfter dem Unterricht fernblieben und die mit bestehenden Angeboten wie der Jugendsozialarbeit an Schulen (JaS) nicht erreicht werden konnten. Allein durch die Evangelische Jugendsozialarbeit Bayern finanziert, war das Projekt völlig unabhängig von Schule und Jugendamt. Bei Problemen konnte der zuständige Mitarbeiter und Mitautor dieses Beitrags daher radikal klientenzentriert und vertraulich beraten und unterstützen.
Vor diesem Hintergrund ist die Abgrenzung von der Bezeichnung "Schulverweigerung" wichtig. Schulabsentismus ist nicht in allen Fällen als eine Verweigerung des Unterrichts anzusehen. Statt einer Entscheidung "gegen" den Unterricht gibt es eine Vielzahl von Gründen "für" Schulabsentismus. Dies hat jedoch für die Biografie junger Menschen und für ihren weiteren Werdegang in der Gesellschaft kritische Folgen. Die Wiederaufnahme des Schulbesuchs war aber nicht vorrangiges Erfolgskriterium des Projektes. Vielmehr war von Interesse, welche Belastungen dem Schulabsentismus zugrunde lagen und wie die aktuellen Jugendhilfeangebote weiterzuentwickeln wären.
Der freie Rahmen ohne Ziele und Anforderungen eines Kostenträgers eröffnete dem Sozialarbeiter die Möglichkeit, vertraulich und zugleich mit einer völlig ergebnisoffenen Haltung die Gespräche zu führen. So wurde ein Raum geschaffen, der für die Familien keinerlei Gefahr der Veränderung barg; denn diese hätte als Bedrohung empfunden werden können, die eine tragende Helferbeziehung verhindert hätte. Rückblickend scheint dies die erreichten Erfolge tatsächlich am meisten zu begründen. Die zunächst akzeptierende Grundhaltung und zugleich beharrliche Arbeitsweise in der Beratung erlebten die Jugendlichen als wohlwollend, interessiert und wertschätzend und in keiner Weise als angreifend.
Zusätzlich zur Unterstützung im Einzelfall sollte das Projekt dabei helfen, die Lebenssituation der jungen Menschen besser zu verstehen und nachzuvollziehen, warum sie den Kontakt zu Schul- und Hilfesystemen verloren hatten.
Das Projekt stand für Neuanfang
Der Sozialarbeiter erwartete bei der ersten Begegnung junge Menschen, die aus einer Überlastungs- und Überforderungssituation heraus den Anforderungen des Schulbesuches auswichen oder aus vielleicht berechtigtem Grund eine unglückliche Form des Widerstandes gewählt hatten. Ohne Schuldzuschreibungen oder Leistungsorientierung galt es, dies im persönlichen Kontakt zu überwinden. Der Titel des Projektes "Ready4 - logged off" sollte konsequenterweise für die Vorbereitung eines Neuanfangs stehen, welcher auch immer der dann persönlich und bewusst gewählte wäre.
Tatsächlich angetroffen wurden viele junge Menschen, die neben ihrer eigenen Überforderung fast immer auch mit Problemen naher Angehöriger konfrontiert und in diesen Problemen tief verstrickt waren: In nahezu allen Fällen schienen die Erwachsenen ihre Überforderung im Alltag auf ihre Kinder zu übertragen oder für ihre emotionale Stabilität auf diese angewiesen zu sein. Eine eigene Struktur und Alltagsform zu entwickeln war den jungen Menschen unter dieser Belastung kaum möglich. In den Anamnesen zeigte sich, dass diese Dysfunktionalität der familiären Strukturen sich früh auf den Schulbesuch auswirkte. Zudem waren die Muster so stark, dass sie dem schulischen Druck standhielten.
Junge Menschen aus Familien mit eigenem Wertesystem
Das Familiensystem des 13-jährigen Angelino1erinnert an eine vorindustrielle Zeit: Das Familienleben, Lernen, Ausbildung und Berufstätigkeit sind eng miteinander verwoben und begründen die familiäre Identität. Die finanzielle Grundsicherung erfolgt per - kulturell tradiertem - "Kodex" durch selbstständige Tätigkeiten, in der Regel des Hausierens als freier Dienstleister. Weil der finanzielle Erfolg dieses Systems sich bewährt hat - die Familie ist durchaus wohlhabend -, wird das staatliche Schulsystem als überflüssig, wenn nicht gar als Störung oder Eingriff von außen wahrgenommen.
Die Konsequenz dieser Haltung für den heranwachsenden jungen Mann ist, dass eine Schulpflicht zwar formal zu erfüllen ist, um Ärger oder gar Bußgelder zu vermeiden. Der schulische Erfolg bleibt für die Familie aber ohne Wert und Bedeutung. Ohne jegliche Allianz von Schule und Eltern erlebt Angelino seine Leistungsverweigerung bis hin zum Fernbleiben vom Unterricht als moralisch völlig in Ordnung. Wo immer möglich, wird Angelino von den Eltern vor Sanktionen und Konsequenzen der Schule sogar beschützt.
Junge Menschen aus symbiotisch verstrickten Familien
Von Sonja existiert seit ihrer Einschulung eine Jugendhilfeakte. Der erste Kontakt mit ihr findet statt, als sie zwölf Jahre alt ist. Vorausgegangene Hilfen zur Erziehung waren von geringer Wirkung. Eine stationäre Hilfe war von der Mutter abgelehnt worden. Die Mutter scheint auf das Verhalten ihrer Tochter nicht einwirken zu können. Sie zeigt auch gegenüber Helfer(inne)n eine hohe Passivität. Während die Tochter nach eigener Aussage "von der Schule Pause" macht, hat auch die Mutter ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben.
Die Mutter berichtet von mehreren Schicksalsschlägen in der Vergangenheit, die sie bis heute emotional belasten: mehrere Fehlgeburten, ein Krebsleiden und anderes. Sonja erzählt, dass sie von anderen Mädchen geärgert und gemobbt werde, wodurch ihr Schulbesuch stark belastet sei. Beide erleben sich offenbar widrigen Umständen ausgesetzt, die außerhalb ihrer Einflussmöglichkeiten liegen. Im gemeinsamen Rückzug besteht der Anspruch, "gegenseitig aufeinander aufzupassen".
Junge Menschen aus emotional entfremdeten Familien
Turkan ist Halbwaise und 15 Jahre alt. Seine alleinerziehende Mutter arbeitet in Vollzeit mit Nebenjob. In der gut eingerichteten Wohnung fühlt sich Turkan einsam. Angesichts ihrer starken Erschöpfung ist die Mutter fest davon überzeugt, sie leiste alles für ihren Sohn, was ihr möglich sei. Die schulischen Probleme müssten nun andere lösen. Sie scheint in den Beratungen weder über ihr eigenes noch über das Empfinden ihres Sohnes sprechen zu können.
Turkan hat eine extrem hohe Peer-Bindung, die aber außerhalb der Schule liegt. Von der Mutter finanziert und versorgt, sucht er allein dort Anerkennung. Ohne äußere Tagesstruktur und ohne Anreiz oder Konsequenzen scheitert der Schulbesuch bereits am Schlafrhythmus.
In allen Fällen, bei denen durch das Projekt Einblick in die Familien gewährt wurde, scheint jeder Erklärungs- und Handlungsansatz, der bei den Schüler(inne)n beginnt und dort verharrt, schlicht zu kurz zu greifen. Fast immer war von einer psychischen Erkrankung mindestens eines anderen Familienmitgliedes auszugehen. Für Fälle, die von Jugendsozialarbeit und anderen Maßnahmen nicht mehr erreicht werden, mag dies als Leithypothese dienen können.
Anmerkung
1. Die genannten Jugendlichen heißen im realen Leben anders.
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