Schulversäumnisse und die Rolle der Eltern
Für unberechtigte Schulversäumnisse hat sich der Begriff "Schulabsentismus" durchgesetzt. Dieses Phänomen kommt im Schulalltag häufig vor, wird oft sehr vereinfachend interpretiert und die Verantwortung für das Fernbleiben vom Unterricht wird in der Regel dem Schüler zugeschrieben. Demgegenüber sind aber vielfältige Bedingungen und Verhaltensmuster erkennbar: Im Kontext von Schulversagen sowie einer widerwilligen Haltung der Schule gegenüber gehen Schüler, die dem Unterricht fernbleiben, während des Vormittags einer angenehmeren Aktivität nach. Zeigen Kinder und Jugendliche beim (anstehenden) Schulbesuch ausgeprägtes Meidungsverhalten wie auch psychosomatische Begleiterscheinungen und verbringen die Schulzeit eher zu Hause, deutet das auf eine angstbedingte Schulmeidung hin. Bringen Erziehungsberechtigte ihr Kind dazu, die Schule nicht zu besuchen, oder unterstützen sie den Schulabsentismus des Kindes, zum Beispiel mit fingierten Entschuldungsschreiben, spricht man von "Zurückhalten".1
Obwohl es in der Fachliteratur kaum thematisiert wird, ist das "Zurückhalten" Schulpflichtiger von der Schule von hoher Relevanz.2 Elterliche Einstellungen und Verhaltensweisen bestimmen die Schulanwesenheit maßgeblich mit, die sorgend-bestärkend, gleichgültig oder auch offen ablehnend ausfallen können.3 Dahinter liegen verschiedenste familiale Problemlagen wie auch risikobehaftete Umstände, zum Beispiel wenn Erziehungsberechtigte die Schule ablehnen, wenn kulturelle Unterschiede dazu führen, dass eine weitere Beschulung des Kindes nicht für notwendig erachtet wird, wenn religiöse Orientierungen den schulischen Fächerinhalten widersprechen oder auch wenn die Vernachlässigung des Kindes verschleiert werden soll.4 Auch wenn in den Augen der meisten Erziehungsberechtigten die Qualität und Kontinuität der Schulbildung ihrer Kinder eine hohe Wertigkeit hat, schalten sich einige Eltern in dysfunktionaler Weise ein.
Die Schulpflicht als rechtlicher Rahmen
Die Schulpflicht ist in den jeweiligen Landesverfassungen oder Schulgesetzen der Bundesländer geregelt, was sich am Beispiel Niedersachsens verdeutlichen lässt. Gemäß § 63 des Niedersächsischen Schulgesetzes (NSchG) unterliegen Kinder und Jugendliche der Schulpflicht, wenn der Wohnsitz, der gewöhnliche Aufenthaltsort beziehungsweise die Ausbildungs- und Arbeitsstätte in Niedersachsen ist. Ergänzend hierzu werden in § 71 NSchG die Pflichten der Eltern und Erziehungsberechtigten näher beschrieben:5
"(1) 1 Die Erziehungsberechtigten haben dafür zu sorgen, dass die Schülerinnen und Schüler am Unterricht und an den sonstigen Veranstaltungen der Schule […] regelmäßig teilnehmen und die ihnen obliegenden Pflichten erfüllen […]". Darüber hinaus zählt es zur Pflicht der Lehrkräfte und Schulleitungen, schulpflichtige Kinder und Jugendliche zum Schulbesuch anzuhalten.
Im Vergleich mit anderen westlichen Ländern (in denen zumeist eine Bildungs- oder Unterrichtspflicht herrscht) gilt in Deutschland eine recht strikte gesetzliche Grenze, die es Erziehungsberechtigten grundsätzlich nicht gestattet, ihre Kinder dem Zugriff der Schule zu entziehen. Gegensätzliche Positionen wie "Homeschooling" geraten mit staatlichen Autoritäten in Konflikt.6 So werden immer wieder Auseinandersetzungen vor Gerichten verhandelt, weil Eltern bestimmte Unterrichtsinhalte ablehnen und der Schulpflicht nicht folgen.7 Die deutsche Rechtsprechung sieht hier keine Spielräume und urteilt weitestgehend im Sinne der Schulpflicht. Die Schulpflichtverletzungen entsprechen rechtlich zunächst einer Ordnungswidrigkeit und haben Bußgelder, Zwangszuführungen der Schüler durch die Polizei sowie in schweren Fällen, die als Straftaten gewertet werden, Arreststrafen zur Folge.
Gründe für das "Zurückhalten"
Was sind begünstigende Bedingungen und Einflüsse für Schulabsentismus? Es sind vor allem psychosoziale Veranlagungen des Schülers, familiäre Bedingungen sowie Einflüsse aus der Schule und den Gleichaltrigen (-gruppen). Beim "Zurückhalten" handelt es sich oft um eine gezielte Schulpflichtverletzung durch die Erziehungsberechtigten. So formuliert Sander: "Von Zurückgehaltenwerden ist zu sprechen, wenn ein Kind wider seinen Willen oder ohne dazu befragt zu werden durch die Erziehungsberechtigten von der Schule ferngehalten wird".8 Die Ursachen des "Zurückhaltens" sind vielfältig und umfassen aktiv von Eltern initiierte Schulversäumnisse wie auch solche, die toleriert oder gebilligt werden. In diesem Spektrum lassen sich Risiken in großer Streuung ermitteln, wobei folgend sechs umrissen werden.9
Die Haltung gegenüber Schule
Eine Haltung, die Bildung ablehnt sowie gleichgültig gegenüber Schule und der schulischen Ausbildung des Kindes ist, begleitet häufig Prozesse des "Zurückhaltens". So ist in der Relevanz, die die Eltern dem Schulbesuch des Kindes beimessen, und im Wertesystem der Eltern ein Erklärungsansatz für deren Verhalten möglich. Einige Eltern schätzen das Fernbleiben vom Unterricht nicht als besonderes Problem ein und schreiben der Schule keine besondere Bedeutung für das Leben ihrer Kinder zu. Manche Eltern bringen offen Verständnis für ihre ablehnende Einstellung zum Ausdruck und unterstützen sie nicht darin, regelmäßig in die Schule zu gehen.10
Kinderarbeit und Jobs
Es zeigt sich häufig, dass schulische Erfordernisse mit prekären familiären Lebensverhältnissen schwer vereinbar sind. Hier steigt die Notwendigkeit, dass Kinder zur ökonomischen Unterstützung beziehungsweise finanziellen Stabilisierung der Familie beitragen.11 Viele Jugendliche gehen Teilzeitjobs nach. Diese sollten aus pädagogischer Perspektive in Art und Ausmaß angemessen sein. Nimmt eine bezahlte Tätigkeit zunehmend Raum und Zeit ein, leidet der Schulbesuch und kann nicht mehr kontinuierlich erfolgen. Nach deutscher Rechtsprechung dürfen Kinder in einem Alter von 13 bis 15 Jahren mit Erlaubnis der Eltern jobben. Gemäß Jugendarbeitsschutzgesetz werden zwei Stunden Arbeit pro Tag nach der Schule erlaubt. Ein Arbeitsverbot ist allerdings vor und während der Unterrichtszeit gültig.12
Pflegende Kinder und Jugendliche
Einige Forschungsergebnisse zeigen deutliche Bezüge zwischen Schulversäumnissen und den sogenannten "young carers". Das sind Kinder und Jugendliche, die innerhalb der Familie versorgende und pflegerische Arbeiten übernehmen.13 Oft sind es unterstützende Tätigkeiten, zum Beispiel Verabreichen von Medikamenten, Begleitung bei Arztbesuchen, Betreuung von jüngeren Geschwistern oder die Übernahme von Aufgaben im Haushalt, die Schulversäumnisse begründen.14 Den Kindern und Jugendlichen werden in der Familie Aufgaben und Verantwortung übertragen, die häufig nicht altersgemäß sind.
Psychische Erkrankungen der Eltern
Psychische Erkrankungen der Erziehungsberechtigten sind ein weiterer Grund für Schulabsentismus.15 Oftmals sind die betroffenen Eltern nicht in der Lage, den Schulbesuch der eigenen Kinder zu gewährleisten. Symptome der Erkrankung (zum Beispiel Antriebsminderung, mangelndes Interesse an Aktivitäten) und das Erziehungsverhalten hängen zusammen. Dies kann dazu führen, dass die Kinder zu wenig Aufmerksamkeit, Anleitung und Führung erhalten. Häufige Folge: ein unregelmäßiger Schulbesuch, oft in Verbindung mit einer Parentifizierung, also der Umkehr der sozialen Rollen von Eltern und Kindern.16
Vernachlässigung und Misshandlung
Vernachlässigung ist die "andauernde und wiederholte Unterlassung fürsorglichen Handelns sorgeverantwortlicher Personen […], welches zur Sicherstellung der körperlichen und seelischen Versorgung des Kindes notwendig wäre."17 Sie weist oft typische Kennzeichen auf wie unzureichende Beaufsichtigung der Kinder, die Erlaubnis, die Schule zu schwänzen, Delinquenz oder Alkoholkonsum sowie Entwicklungsrückstände bei den Kindern und ein Mangel an sozialen Kompetenzen.18 In anderen Fällen wird der Schulbesuch unterbunden, damit sichtbare Anzeichen von Kindesmissbrauch oder Verwahrlosung unerkannt bleiben. Stichwort: "Gefährdung des Kindeswohls".19
Kulturell oder religiös bedingte Ablehnung der Schulpflicht
Kulturell oder religiös bedingte Kritik an oder Ablehnung der Schulpflicht beziehungsweise der Lerninhalte durch Eltern führt immer wieder zu erheblichen Schulversäumnissen. In Einzelfällen werden diese Konflikte vor Gerichten ausgetragen.20 Wenn die jeweiligen Überzeugungen unvereinbar mit dem Schulalltag sind, halten Eltern ihre schulpflichtigen Kinder vom Schulbesuch ab und organisieren oftmals eine alternative Beschulung im Privatbereich.21
Was kann man tun?
Bei Schulabsentismus sollten grundsätzlich Maßnahmen ergriffen werden, die eine zügige Rückführung in die Schule ermöglichen. Im Falle von Angststörungen haben sich behavioral-kognitive (verhaltenstherapeutische) Ansätze im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung bewährt. Bei vorwiegend sozialer Problematik sind Maßnahmen seitens der Jugendhilfe oder auch familienunterstützender Dienste angezeigt.22 Ziel (sonder-)pädagogischer Prävention und Intervention ist es, die Anwesenheit und innere Teilhabe am Unterricht zu verstärken und zu fördern. Es geht nicht nur um körperliche Anwesenheit, sondern auch darum, möglichst alle Schüler durch Beziehungs- und Lernangebote einzubinden und auf diesem Weg Schule für sie positiv erlebbar zu machen.23
Wie deutlich geworden ist, erzeugen einige Erziehungsberechtigte Problemlagen, die unter anderem durch Schulabsentismus zum Ausdruck kommen können. Hier ist es notwendig, hilfreiche Rahmenbedingungen zu schaffen, indem ein positiver Elternkontakt aufgebaut und kooperative Strukturen etabliert werden. Eine enge und positiv konnotierte Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrern ist grundsätzlich pädagogisch wünschenswert und hat eine positive Wirkung auf die Anwesenheit und Partizipation von Schülern in der Schule.24 Dabei sind Gespräche mit dem Schüler und den Eltern unerlässlich, die die Basis dafür schaffen, Vertrauen und für das Kind eine Partnerschaft zwischen Eltern und Schule aufzubauen.25 So kann auch eine Beziehungsaufnahme vermieden werden, die erst im Krisenfall erfolgt. Eltern und Lehrer sollten Vereinbarungen treffen, die den Austausch strukturieren und die Basis schaffen für eine gesicherte Interaktion und Verbindlichkeit.
Anmerkungen
1. Thambirajah, M. S.; Grandison, K. J.; De-Hayes, L.: Understanding School Refusal. A Handbook for Professionals in Education, Health and Social Care. London: Jessica Kingsley Publishers, 2013. Ricking, H.; Hagen, T.: Schulabsentismus und Schulabbruch. Grundlagen - Diagnostik - Prävention. Reihe Brennpunkt Schule. Stuttgart: Kohlhammer, 2016.
2. Ricking, H.; Speck, K. (Hrsg.): Schulabsentismus und Eltern. Berlin: Springer, 2018.
3. Dunkake, I.: Der Einfluss der Familie auf das Schulschwänzen. Theoretische und empirische Analysen unter Anwendung der Theorien abweichenden Verhaltens. Wiesbaden: VS, 2010.
4. Kearney, C. A.: Managing School Absenteeism at Multiple Tiers: An Evidence-Based and Practical Guide for Professionals. New York: Oxford University Press, 2016.
5. Niedersächsisches Kultusministerium (MK): Ergänzende Bestimmungen zum Rechtsverhältnis zur Schule und zur Schulpflicht hier: §§ 58 bis 59 a, §§ 63 bis 67 und § 70 Niedersächsisches Schulgesetz (NSchG). RdErl. d. MK v. 1.12.2016 - 26 - 83100 - VORIS 22410 -. Niedersächsisches Schulgesetz (NSchG), in der Fassung vom 3. März 1998 (Nds. GVBl. S. 137), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 3. Juni 2015 (Nds. GVBl. S. 90).
6. Ricking, H.; Rothenburg, E.: Schulabsentismus - ein komplexes Phänomen aus rechtlicher und pädagogischer Perspektive. In: Recht der Jugend und des Bildungswesens 1/2020, S. 104-118.
7. Achilles, H.: Schulpflichtverweigerung aus religiösen und weltanschaulichen Gründen. In: Recht der Jugend und des Bildungswesens 3/2007, S. 55, S. 3, S. 322-329.
8. Sander, A.: Das Problem der Schulversäumnisse. In: Hildeschmidt, A.; Meister, H.; Sander, A.; Schorr, E. (Hrsg.): Unregelmäßiger Schulbesuch. Weinheim: Beltz, 1979, S. 27.
9. Albers, V.; Ricking, H.: Elternbedingter Schulabsentismus - Begriffe, Strukturen, Dimensionen. In: Ricking, H.; Speck, K. (Hrsg.): Schulabsentismus und Eltern. Berlin: Springer, 2018, S. 9-26. Castello, A.; Schutzbach, T.: Schutz des Kindeswohls. In: Castello, A. (Hrsg.): Entwicklungsrisiken bei Kindern und Jugendlichen. Stuttgart: Kohlhammer, 2014, S. 22-32. Kaiser, S.; Schulze, G.: Pflegerische Tätigkeiten in der Familie - eine mögliche Ursache für Schulabsentismus bei Kindern und Jugendlichen. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 9/2014, S. 332-346. Kearney, C. A.: a.a.O.
10. Whitney, B.: A Guide to School Attendance. London: Routledge, 2008.
11. Kearney, C. A.: a.a.O.
12. Jugendarbeitsschutzgesetz, 2016, § 5 Abs. 3.3.
13. Wimmer, M. B.: Evidence-Based Practices for School Refusal and Truancy. Bethesda: NASP Publications, 2013.
14. Kaiser, S.; Schulze, G.: a.a.O.
15. Knollmann, M.; Al-Mouhtasseb, K.; Hebebrand, J.: Schulverweigerung und psychische Störungen: Merkmale von schulverweigernden Kindern und Jugendlichen und ihren Familien einer kinder- und jugendpsychiatrischen Schulverweigererambulanz. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie (58) 6/2009, S. 434-449.
16. Gehrmann, J.; Sumargo, S.: Kinder psychisch kranker Eltern. In: Monatsschrift Kinderheilkunde, 4/2009, S. 383-394.
17. Schone, R.; Gintzel, U.; Jordan, E.; Kalscheuer, M.; Münder, J.: Kinder in Not. Vernachlässigung im frühen Kindesalter und Perspektiven sozialer Arbeit. Münster, 1997.
18. Galm, B.; Hees, K.; Kindler, H.: Kindesvernachlässigung - verstehen, erkennen, helfen. München: Ernst Reinhardt Verlag, 2010.
19. Castello, A.; Schutzbach, T.: a.a.O.
20. Ricking, H.; Rothenburg, E.: a.a.O.
21. Raack, M.: Wie sind religiös geprägte Erziehungs- und Sozialisationspraktiken im Hinblick auf Kindeswohlgefährdungen einzuschätzen? In: Kindler, H.; Lillig, S.; H. Blüml, H.; Meysen, T.; Werner, A.: Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD). (22-1 - 22-4). München: Deutsches Jugendinstitut, 2006. Achilles, H.: a.a.O.
22. Ricking, H.; Dunkake, I.: Wenn Schüler die Schule schwänzen oder meiden: Förderziele Anwesenheit und Lernen-wollen. Hohengehren: Schneider, 2017.
23. Whitney, B.: a.a.O.
24. Hallam, S.; Rogers, L.: Improving Behaviour and Attendance at School. Berkshire: Open University Press, 2008.
25. Albers, V.; Ricking, H.: a.a.O.
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