Wirksamer Schutz geht nur zusammen
In den letzten Jahren ist viel unternommen worden, um den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellem Missbrauch und vor Gewalt in den stationären, teilstationären und ambulanten Hilfesystemen unserer Gesellschaft zu gewährleisten. Es wurden Handreichungen und Arbeitshilfen geschrieben, Inhouse-Schulungen organisiert, Fort- und Weiterbildungen veranstaltet sowie Multiplikator(inn)en und Kinderschutzbeauftragte ausgebildet. In vielen Einrichtungen hat das dazu geführt, dass die Orte für die Kinder und Jugendlichen sicherer geworden sind.
Wenn Schutzkonzepte funktionieren sollen, ist neben den vielen Instrumenten wie zum Beispiel Risikoanalyse, Beschwerdemanagement, Partizipationsmodelle unter anderem ein grundlegender Aspekt zu berücksichtigen.
Mehr als nur ein Aufrüsten des Portfolios
Es geht bei der Entwicklung, Einführung und Umsetzung von Klientenschutz nicht um methodisches "Add-on", also das Aufrüsten des methodischen Portfolios der Einrichtungen. Ein aufgehängter Kummerkasten macht noch kein Beschwerdemanagement. Vielmehr ist es von entscheidender Bedeutung, dass eine Dienstgemeinschaft, ein Team, klein oder groß, sich um die Entwicklung einer gemeinsamen Haltung und eines geteilten Bewusstseins bemüht. Alle zusammen arbeiten an der Schärfung und Weiterentwicklung der professionellen Sensibilität. Ein Schutzkonzept, geschrieben von der Leitung oder vom Fachdienst, kopiert und mit dem Auftrag der Einführung und Umsetzung an die Mitarbeiter(innen) weitergegeben, kann keine Wirksamkeit und keine Nachhaltigkeit entfalten
Ein gutes Schutzkonzept involviert alle Ebenen einer Organisation
So betrachtet ist wirksamer Schutz ein Ergebnis eines kulturellen Entwicklungsprozesses, bezogen auf eine komplette Organisation. Ein Schutzkonzept, das den Namen verdient, tangiert sämtliche Bereiche, Ebenen, Kategorien, Konzepte und Programme einer Organisation und involviert ohne Ausnahme alle (auch nicht pädagogische) Mitarbeiter(innen). Wer kennt (und schätzt) nicht den pädagogisch begabten Hausmeister, die herzlich zugewandte Reinigungskraft und die immer gesprächsbereite Verwaltungskollegin, die alle im Kontakt mit der Klientel sehr wertvolle Interaktionen gestalten können und häufig durchaus Schlüsselpositionen einnehmen. Selbstverständlich gehören sie alle mit dazu, wenn zum Beispiel darüber nachgedacht und gesprochen wird, wo welche Risiken liegen, wenn die Auseinandersetzung über subtile Formen von Gewalt geführt wird, und wie der Umgang mit Kindern und Jugendlichen hinsichtlich zum Beispiel Nähe und Distanz gestaltet werden soll.
Überall da, wo ein Schutzkonzept tatsächlich lebendig umgesetzt wird und nicht ein Dasein als Papiertiger in einem Aktenordner fristet, ist es, vergleichbar mit dem Ergebnis eines Organisationsentwicklungsprozesses, in die Kernelemente der Organisation integriert worden.
Die Risikoanalyse als Herzstück
Die Risikoanalyse, das Herzstück des Prozesses, birgt zwei Potenziale. Einmal werden die sozialen, interaktionalen, personalen, zeitlichen und räumlichen Korridore, die zu Tatorten von Grenzverletzung und Gewalt werden können, in intensiver gemeinsamer Auseinandersetzung identifiziert und analysiert. Der nächste Schritt besteht darin, die erkannten und benannten Risiken aufzulösen.
Ein zweiter besonderer Nutzen der Risikoanalyse liegt in der notwendigen gemeinsamen Auseinandersetzung, in deren Verlauf gegebenenfalls unterschiedliche Sichtweisen und Einschätzungen der Beteiligten transparent werden. Es mag Situationen (Korridore) geben, die die einen Kolleg(inn)en als Risiko einschätzen, die anderen nicht oder weniger. Auseinandersetzung zielt auf das Erarbeiten einer gemeinsamen Referenz, eines gemeinsamen fachlichen Bezugspunktes, und ist die Grundlage und Bedingung für ein von allen Beteiligten getragenes Schutzkonzept. Ein Beispiel aus der Praxis ist die Frage, wo im Kinderheim die Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen wird. Soll der/die Betreuer(in) das auf dem Rand des Bettes des Kindes sitzend machen, im ganz vertrauten und vertraulichen Rahmen, wie es vielfach dem Bedürfnis und auch dem Bedarf des Kindes am nächsten kommen mag? Oder soll die Geschichte auf einem Stuhl in der Mitte des Zimmers sitzend vorgelesen werden und die Tür ist einen Spalt geöffnet?
An diesem Beispiel werden die Komplexität und die Implikationen des Sachverhaltes überdeutlich und die Wellen der teaminternen Diskussionen schlagen mit[1]unter hoch. Kommentare wie: "Kann ich überhaupt noch jemandem in unserer Organisation vertrauen?", "Wird mir noch vertraut?", "Werde ich jetzt als potenzielle(r) Täter(in) betrachtet?" bis hin zu "Also anfassen werde ich niemanden mehr" weisen auf die Notwendigkeit hin, Kolleg(inn)en in diesen Diskussionen geduldig und feinfühlig zu begleiten - und gleichzeitig eindeutig und geradlinig. Empfohlener Tenor und erstrebenswerte gemeinsame Einstellung: "Wir arbeiten in unserer Organisation vertrauensvoll und in gegenseitiger Wertschätzung zusammen und verabschieden uns gleichzeitig von der schlicht naiven Annahme, dass es bei uns unter keinen Umständen zu grenzverletzendem Verhalten kommen kann (,Bei uns passiert schon nichts.‘)".
Dokumentation als Nachweis
Es gibt im Achten Sozialgesetzbuch (SGB VIII) bereits seit langem entsprechende gesetzliche Regelungen und Paragrafen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen (§ 8 a, § 79). Nun hat der Bundesrat am 7. Mai 2021 dem vom Bundestag verabschiedeten Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) zugestimmt. Mit dessen Einführung wird die Vorgabe an die Einrichtungen verstärkt, Partizipation, Beschwerdemanagement und den Schutz vor Gewalt nachhaltig einzuführen und zu belegen.
Die Dokumentation nicht nur der Konzeption, sondern auch der konzeptionellen Entwicklungsprozesse ist sinnvoll, um den Nachweis zu untermauern, dass der Prozess überhaupt geführt wurde und es sich beim Konzept nicht nur um ein Stück Papier handelt.
Darüber hinaus können mit dieser Dokumentation zukünftige neue Kolleg(inn)en in ihrer Einarbeitungsphase dabei unterstützt werden, die Aspekte des einrichtungsindividuellen Schutzkonzeptes umfassend zu verstehen und es sich anzueignen. Mit Blick auf die nachhaltige Wirksamkeit des Konzeptes muss strukturell gesichert werden, dass neue Kolleg(inn)en, die an der Entwicklung des Konzeptes nicht beteiligt waren, informiert werden und es mittragen können.
Die jungen Menschen partizipieren
Dass ein Konzept, in dem Partizipation eine herausgehobene Rolle spielt, auch partizipativ entwickelt wird, also unter Beteiligung derer, die davon betroffen sind und zu deren Nutzen es erarbeitet wird, liegt auf der Hand. Bei vielen Themen wie zum Beispiel Bildung eines Kinder- und Jugendlichen-Gremiums, Beschwerdemanagement und dem Entwickeln gemeinsamer Prinzipien des Zusammenlebens in der Organisation sind die Gedanken, Ideen und Beiträge der Kinder und Jugendlichen nicht nur wertvoll, sondern existenziell und daher unverzichtbar.
Personelle Ressourcen sind oft knapp
Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen sind erfahrungsgemäß häufig einer sehr hohen Alltagsdynamik ausgesetzt. Gleichzeitig sind die personellen Ressourcen in besonderem Maße "auf Kante genäht". Personelle Fluktuation, Urlaub und Krankmeldungen im Kollegium machen die Dienstplanung nicht einfacher, und oft sind die Teams froh, wenn sie gerade so hinkommen. Intensive konzeptionelle Entwicklungsarbeit oder das vielleicht schon längst sinnvolle und notwendige Überprüfen und Fortschreiben bestehender Konzepte stehen dann halt eher mal hinten an.
Ein Blended-Learning-Programm, das heißt in diesem Fall ein Training kombiniert aus unterschiedlichen Lern- und Arbeitsformen, das diesen Sachverhalt berücksichtigt, ist das "Schutzkonzept Reloaded": Am Ende dieses Trainings haben die Teilnehmer(innen) für ihre Einrichtung ein individuelles und funktionales Konzept erarbeitet. Das Programm führt die Mitarbeitenden unter Zuhilfenahme einer "Social Learning App" mit kurzen Inputs und kleinen, bewältigbaren Arbeitsaufträgen durch den mehrmonatigen Entstehungsprozess und unterstützt sie auf diese Weise beim Entwickeln und Umsetzen beziehungsweise bei der Überprüfung oder dem Fortschreiben des Schutzkonzeptes. Im wöchentlichen Live-Chat können sich die Teilnehmenden mit Expert(inn)en austauschen und individuelle Fragen ansprechen. Das "Schutzkonzept Reloaded" vereint die Erwartung der Einrichtungen, trotz knapper personeller und zeitlicher Ressourcen relativ zügig zu Ergebnissen zu kommen, außerdem mit der Notwendigkeit, das Konzept partizipativ mit den Mitarbeitenden vor Ort und unter geeigneter Einbeziehung der Klientel zu entwickeln.
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