Menschen haben Krisen – die Caritas hat einen Krisendienst
Unzufriedenheit mit der medizinischen Versorgung von psychisch kranken Menschen war der Auslöser: Als sich der Caritasverband Darmstadt im Jahr 2010 zum ersten Mal mit den Möglichkeiten der sogenannten Integrierten Versorgung für psychisch kranke Menschen beschäftigte, war noch nicht ansatzweise absehbar, wohin dieser Weg führen würde.
Das Ziel war ambitioniert: Eine ambulante Behandlungsalternative zur stationären Therapie für psychisch kranke Menschen sollte etabliert und damit neue Wege beschritten werden. Die medizinische Verantwortung für die Versorgung von vielen Hundert Versicherten an 365 Tagen im Jahr, rund um die Uhr, war eine herausfordernde Perspektive für den Verband, der bisher im Bereich der Gemeindepsychiatrie nur SGB-XII-Leistungen abdeckte. Nach zwei Jahren fachlicher Vorbereitung und abgeschlossenen Leistungsvereinbarungen mit mehreren großen gesetzlichen Krankenkassen konnte der Dienst am 1. Juli 2012 starten (siehe dazu neue caritas Heft 3/2013, S. 30 f.).
Heute kann ein zufriedenstellendes Zwischenfazit gezogen werden: Mittlerweile ist das Team von drei auf 17 hauptamtliche Mitarbeiter(innen) und mehr als 15 Honorarkräfte angewachsen. Knapp 500 Versicherte haben eine vertragliche Vereinbarung mit dem Verband geschlossen, 20 Fachärzt(inn)e(n) für Psychiatrie in der Region kümmern sich als vertragliche Kooperationsärzte persönlich um die medizinische Betreuung der Versicherten: auch am Wochenende, auch an Weihnachten und auch um 19.30 Uhr, außerhalb jeder üblichen Praxissprechzeit.
Der deutlich verbesserte Zugang zu fachärztlichen Leistungen im Krisenfall und die mit den extrabudgetierten Zahlungen durch den Caritasverband verbundene zusätzliche Gesprächszeit ist ein Indikator, der zum Gelingen des Modells beiträgt. "Wir haben mit dem Krisendienst ein Hilfesystem geschaffen, welches schnell, unbürokratisch und am individuellen Einzelfall orientiert agiert", sagt Caritasdirektor Franz-Josef Kiefer zum neuen Dienst. " Ich sehe hierin einen zentralen Baustein zur Vermeidung von Chronifizierung psychischer Erkrankungen."
Dabei liegt der wesentliche Erfolgsfaktor im Beratungssetting "Offener Dialog/Netzwerkgespräche", das von einem erfahrenen Team in der Praxis umgesetzt wird. Der Fokus liegt darauf, die erwachsene Seite des Patienten zu stärken und die Situation zu normalisieren. Ausgangspunkt der Behandlung ist die Ausdrucksweise des persönlichen sozialen Netzwerks, so, wie sie das Problem des Patienten beschreibt. Probleme werden als soziale Konstrukte gesehen, die jeweils neu formuliert werden. Alle Anwesenden sprechen für sich selbst, und das Zuhören wird wichtiger als die Interviewmethode.
Eine vom Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegebene Studie zur Evaluation der Behandlungsqualität der bundesweiten Anbieter Integrierter Versorgung zeigt in einer ersten individuellen Zwischenbilanz für den Krisendienst des Caritasverbandes Darmstadt erfreuliche Ergebnisse:1 Die stationären Krankenhaustage wurden am deutlichsten reduziert und damit die höchste Wirksamkeit erreicht. Weit über 85 Prozent der Menschen entscheiden sich nach einem Informationsgespräch für den Vertrag. Der Verband liegt in der bundesweiten Spitzengruppe in der Steigerung des WHOQoL-Wertes (Ermittlung der Lebenszufriedenheit) und hat eine gute Platzierung in der Senkung des HoNOS-Wertes im oberen Mittelfeld (Messung der gefühlten Beeinträchtigung durch die Erkrankung).
Das Leistungsspektrum wurde ausgeweitet
Im Sommer 2015 konnte die bisher mit Honorarkräften besetzte Rufbereitschaft nachts und am Wochenende durch einen hauptamtlichen Bereitschaftsdienst mit zwei Diplom-Psychologen und einer erfahrenen Sozialpädagogin ersetzt werden.
Mit dem Projekt "Figa - Frühzeitige Intervention psychische Gesundheit", welches in Kooperation mit der TU Darmstadt und der Betriebskrankenkasse der Firma Merck im Jahr 2013 entwickelt wurde und Ende 2014 an den Start ging, wurde das Leistungsspektrum erneut erweitert. Noch schneller als bisher gelingt es nun, individuell zugeschnittene Unterstützung im Krisenfall bereitzustellen, um die Chronifizierung einer psychischen Erkrankung zu vermeiden.
Von der ersten Diagnose einer psychischen Erkrankung bis zum passenden Hilfsangebot ist der Weg meist sehr lang. Oft vergehen viele Monate in der Arbeitsunfähigkeit, bis der Dschungel an adäquater psychosozialer Unterstützung durchdrungen ist. In der Zwischenzeit leiden alle: die Betroffenen, die Angehörigen, die Kinder, aber auch der Arbeitgeber, der auf eine wertvolle Fachkraft verzichten muss.
Die Figa bietet Versicherten der BKK Merck maximal 14 Tage nach der ersten Diagnose beziehungsweise auch bei unklaren, mutmaßlichen psychosomatischen Beschwerden ein in vier Sequenzen unterteiltes hochkarätiges Kriseninterventionssystem. Wissenschaftlich begleitet und überprüft wird die Methode im Rahmen eines TU-Forschungsprojektes und mehrerer Doktorarbeiten.
Sequenz 1: Orientierung
Die Sequenz 1 beginnt für den Klienten mit dem persönlichen Erstkontakt mit einem Psychologen des Figa-Teams. Dieser Ansprechpartner ist dem Klienten für die gesamte Teilnahmedauer zugeordnet. Ziele der Sequenz sind es, den Klienten über das Vorgehen zu informieren und
ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Klient und Ansprechpartner aufzubauen.
Sequenz 2: Diagnostik und Bedarfsanalyse
Sequenz 2 umfasst eine theoretisch fundierte Diagnostik. Der Fokus der Sequenz liegt auf einer zielorientieren Erfassung des Zustands des Klienten, seiner Ressourcen sowie aktuell bestehenden Problematiken.
Sequenz 3: Gruppenangebote und Einzelgespräche
Sequenz 3 bildet die Kernphase des sequenziellen Konzepts. Der Klient kann nach der Bedarfsanalyse von Sequenz 2 eine Auswahl aus den zahlreichen Angeboten des Netzwerks in Anspruch nehmen. Dieser Ansatz führt die Stärken von therapeutischen Gruppen- sowie Einzelangeboten zusammen.?Die Kombination trägt nachweislich zur gesundheitlichen Besserung von Klient(inn)en in psychischen Krisensituationen bei.
Sequenz 4: Perspektive und Rückfallprophylaxe
In Sequenz 4 erarbeiten Klient und psychologischer Ansprechpartner eine Perspektive nach der Krise. Im Sinne der Rückfallprophylaxe reflektiert der Klient die vorangegangene Krisensituation und erarbeitet Strategien zur weiteren Genesung beziehungsweise zum Erkennen von Anzeichen für mögliche Rückfälle - ein wirksames Frühwarnsystem wird etabliert.
Mit Figa baut der Caritasverband Darmstadt seine psychosoziale Krisenversorgung weiter aus. Mehrere weitere Krankenkassen haben bereits Interesse an der Etablierung des Frühinterventionssystems bekundet. Doch eines ist sicher: Die psychiatrische Versorgung in Deutschland und explizit auch die Leistungserbringer im Bereich SGB XII brauchen noch weitere Denkanstöße, um die Chronifizierung psychisch kranker Menschen durch ein Netz individueller Hilfen zu verhindern. Ambulante und professionelle mobile Teams können ein Schlüssel dafür sein.
Anmerkung
1. "Aqua" - Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen GmbH:
Vernetzte Versorgung 13+1 - Strukturen und Prozesse einer effektiven und bedürfnisorientierten sektorenübergreifenden vernetzten Versorgung für Menschen mit psychischen Störungen. Göttingen, Juli 2015.
Ganzheitlich, bedarfsgerecht, flexibel
Die Arbeitszeit muss immer auch zum Leben passen
Zeitwertkonto – heute Mehrwert, morgen Standard
Arbeitnehmerüberlassung – Gesetzentwurf liegt auf Eis
Klarheit ist gefordert
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