Energiearmut macht krank
Eine der nützlichsten europaweiten Erhebungen darüber, ob sich Haushalte ihren Energiebedarf leisten können, ist die Untersuchung über Einkommen und Lebensbedingungen der EU "Living conditions in Europe"1. An einer Stelle werden die darin Interviewten gefragt, ob sie ihre Wohnung angemessen beheizen können. Die neuesten Ergebnisse aus dem Jahr 2012 zeigt Tab. 1, S. 16. Das Ausmaß der häuslichen Energieungleichheit in Europa wird in dieser Übersicht deutlich. So sind etwa ein Drittel der Haushalte in Bulgarien, Litauen und Zypern nicht in der Lage, ihr Zuhause ausreichend zu beheizen, in Schweden und Luxemburg dagegen nur ein Prozent. Mehr als einer von zehn Haushalten in Europa gibt an, dass der Heizbedarf über dem erschwinglichen Maß liegt.
Ein Leben ohne Energie:Verbraucher mit wenig Geld
Von Haushalten mit niedrigem Einkommen wird angenommen, sie könnten Geld sparen, wenn sie nur über Energiesparmöglichkeiten im Alltag beraten würden. In vielen Fällen ist dies ein Trugschluss,
da viele ärmere Familien ihren Energieverbrauch bereits auf ein Minimum beschränkt haben. "Intelligente Zähler", die in den meisten Häusern in Teilen Europas wie Spanien, Italien und Großbritannien installiert wurden, bieten die einmalige Gelegenheit, genau zu prüfen, was ein Haushalt in einer Stunde verbraucht.
Vergleicht man den Stromverbrauch der Haushalte in Nordirland, wird deutlich, dass Haushalte mit niedrigem Einkommen
- das Jahr über deutlich weniger Strom verbrauchen als andere Haushalte;
- wenige saisonale Veränderungen der verbrauchten Strommenge aufweisen. Trotz dunklerer und längerer Nächte im Winter haben sie nicht die Spitzenwerte von Dezember bis März wie Haushalte, denen es besser geht.
Mit derart eingeschränktem Verbrauchsverhalten ist die Erwartung kaum zu rechtfertigen, dass die ärmsten Familien weniger Energie verbrauchen sollten. Vielmehr spielt die Investition, die Häuser der Ärmsten energieeffizient zu machen, eine alles entscheidende Rolle: Sie schützt die Gesundheit der Menschen, indem diese unter akzeptablen Umständen leben können.
Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit
Zu den Folgen von Energiearmut auf betroffene Menschen werden jedes Jahr mehr Forschungsergebnisse veröffentlicht. In den Wintermonaten sterben jährlich deutlich mehr Menschen in Europa als in den wärmeren Monaten.2 Am stärksten nimmt die Zahl der Todesfälle im Winter in Mitgliedstaaten mit milderen Wintern zu, zum Beispiel Malta (29 Prozent), Portugal (28 Prozent) und Spanien (21 Prozent). Dieses Paradoxon ist seit langem bekannt: In Regionen, wo die Sommer sehr heiß und die Winter lediglich kühl sind, liegt die Sterbequote der Menschen höher als dort, wo die Sommer gemäßigt sind, aber die Winter hart.
Viele Faktoren scheinen zu diesem Paradoxon beizutragen. Proportional mehr für Heizkosten auszugeben, ist ein offensichtlicher Schutzfaktor, der in den kältesten Winterregionen praktisch unverzichtbar fürs Überleben ist. In Dänemark beispielsweise gibt das unterste Einkommensquartil acht Prozent seines Einkommens für Energie aus, verglichen mit vier Prozent in Spanien und Großbritannien.3 Andere Schutzfaktoren sind die Wohnqualität (insbesondere Wärmedämmung und Energieeffizienz der Bausubstanz), Anpassungen des Lebensstils an die Kälte wie das Tragen angemessener Kleidung und eine den niedrigen Temperaturen angepasste Lebensweise.4
Seit vielen Jahren wird angenommen, dass vor allem Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Erkrankungen der Atemwege ein höheres Risiko tragen, im Winter zu sterben. Dies ist bis heute so. Es kommt jedoch eine neue Risikogruppe hinzu, nämlich Menschen mit Alzheimer und verwandten Demenzen. Neue Forschungen aus Großbritannien5, basierend auf Mortalitätsdaten zwischen 1991 und 2013, zeigen folgende Ergebnisse:
- bei Menschen, die an Erkrankungen der Atemwege sterben, ist die Wahrscheinlichkeit, im Winter zu sterben, um 55 Prozent höher als in den wärmeren Monaten des Jahres;
- bei Menschen, die an kardiovaskulären Ursachen sterben, gibt es eine 18 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, im Winter zu sterben;
- bei Menschen, die infolge ihrer Demenz sterben, liegt die Sterbewahrscheinlichkeit im Winter um 27 Prozent höher.
Mit anderen Worten: Demenz wird zum primären Risikofaktor für zusätzliche Todesfälle im Winter und übersteigt den der Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Dafür lassen sich eine Reihe von Erklärungen finden, einschließlich der Medikamente gegen Demenz, die die Sensibilität für Wärme und Kälte reduzieren. Gründe sind zum Beispiel eine Verschlechterung der Funktionalität des zentralen Nervensystems, das zum Teil für die Fähigkeit der Menschen, Wärme und Kälte zu spüren, verantwortlich zu sein scheint; das Vergessen, wie das Bedienen der Heizung funktioniert; sich extrem über die Kosten für Wärme und Licht zu sorgen; schlechte Ernährung, Gewichtsverlust und unangemessene Kleidung für kalte Temperaturen.
Energiearmut und ihre Folgen auf die Psyche
In jüngeren Studien wurden die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit, vor allem auf depressive Verstimmungen und allgemeine Angst dokumentiert. Hier ist die Übereinstimmung der Ergebnisse noch größer als für die Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit. Das Leben in kalten und feuchten Wohnungen birgt eine Vielzahl von verschiedenen psychischen Stressfaktoren.6 Diese umfassen:
- chronische temperaturbedingte Missempfindungen, bei denen Menschen berichten, das sie den ganzen Tag und oft auch nachts frieren und vor Kälte zittern;
- die Sorgen darum, wie die Stromrechnung ausfällt, vor allem, wenn sie nur vierteljährlich ausgestellt wird;
- die Sorge, sich zu verschulden;
- dauerhafte Abstriche bei Lebensmitteln und anderen Produkten, um für die Energiekosten zu sparen;
- die Sorge, dass Kälte die körperliche Gesundheit schädigt, vor allem in Haushalten mit Kindern;
- räumliche Verkleinerung und der Stress durch das Leben in nur ein oder zwei Zimmern, die kostengünstig beheizt werden können;
- Stigmatisierung innerhalb der Gemeinschaft;
- Schäden am Besitz, der von Feuchtigkeit und Schimmel betroffen ist, wie an Kleidung, Gardinen und Möbeln;
- das Fehlen einer Lösung oder das Fehlen eines Gefühls von Kontrolle in Bezug auf das Problem.
Es überrascht nicht, wenn Menschen in Armut, deren Häuser isoliert worden sind und nun effizienter beheizt werden, über eine Vielzahl von positiven Auswirkungen auf ihre Gesundheit berichten, wie beispielsweise: - sie haben mehr Energie;
- sie können sich besser bewegen;
- sie gehen weniger zum Arzt;
- sie schlafen besser;
- sie fühlen sich weniger ängstlich;
- sie haben mehr Interesse daran, auszugehen.7
Viele berichten auch, dass sie zwar genauso viel für Energie ausgeben wie zuvor, aber dass es ihnen das wert ist, weil durch die Wärmedämmung viel weniger verschwendet wird. Laut einer großangelegten englischen Studie konnten ungefähr drei Viertel der Adressat(inn)en von Energieeffizienzverbesserungen ihre Raumtemperatur auf ein Niveau annähernd den Standards für Gesundheit und Sicherheit der Weltgesundheitsorganisation erhöhen.8
Es gibt Hinweise darauf, dass Kinder in Haushalten mit niedrigem Einkommen, die im Winter Heizkostenbeihilfe erhalten, mehr Kalorien zu sich nehmen als andere Kinder.9 Dies bestätigt eine amerikanische Studie, nach der einkommensschwache Haushalte eine um zehn Prozent verringerte Nahrungsaufnahme bei kaltem Wetter aufweisen, wobei diese Verringerung Erwachsene und Kinder gleichermaßen betrifft. Im Gegensatz dazu hielten Haushalte mit höherem Einkommen das Niveau der Nahrungsaufnahme das ganze Jahr über konstant.10
Auch in Nordamerika hat die Forschung gezeigt, dass Kleinkinder aus einkommensschwachen Familien, die einen Heizkostenzuschuss erhalten, in normalerem Maße zugenommen haben wie die in vergleichbaren Haushalten ohne Zuschüsse. Sie mussten auch weniger oft ins Krankenhaus.11
In einer Reihe von Studien aus Neuseeland berichteten Betreuungspersonen, deren Häuser isoliert wurden, dass die Fehlzeiten der Kinder in der Schule um 15 Prozent niedriger waren als die der Kinder der Kontrollgruppe auf der Warteliste.12 Diese Ergebnisse wurden von einer englischen Studie untermauert. Diese fand heraus, dass - unter Berücksichtigung vieler anderer Einflussfaktoren - Erkrankungen der Atemwege mehr als doppelt so häufig bei Kindern vorkamen, die drei Jahre oder länger in mangelhaft beheizten Häusern wohnten (15 Prozent) als bei Kindern, die in den letzten fünf Jahren nicht in schwer beheizbaren Häusern gelebt hatten (sieben Prozent).13
Der Stress für die Betroffenen lässt sich vermeiden
Die Erschwinglichkeit von Energie in Mitgliedstaaten der Europäischen Union variiert sehr stark. Dabei können sich 99 Prozent der Haushalte in Schweden und Luxemburg Energie leisten, während es in Bulgarien nur 53 Prozent und in Litauen nur 66 Prozent sind. Wenn Familien für Energie nicht bezahlen können, hat das eine Vielzahl von Folgen. Die Menschen machen sich Sorgen wegen möglicher oder vorhandener Schulden, frieren über lange Zeiträume im Winter, werden in ihrer körperlichen Gesundheit beeinträchtigt und sind psychisch mit langen Perioden von Angst und Stress belastet.
Energiekosten können von den Haushalten oft nicht kontrolliert werden: Zum einen, weil sie es sich nicht leisten können, die Qualität ihrer Wohnung zu verbessern, zum anderen, weil sie keinen Einfluss auf die Verkaufspreise für ihren täglichen Bedarf an Heizung und Licht haben. Das macht es wahrscheinlich, dass der Energiebedarf Stress und Sorge erzeugt und bietet eine solide Erklärung dafür, warum Energiearmut so eng mit dem Wohlbefinden und der Lebensqualität der Menschen verbunden ist.
Anmerkungen
1. EU: Living Conditions in Europe, 2014, http://ec.europa.eu/eurostat/documents/3217494/6303711/KS-DZ-14-001-EN-N.pdf/d867b24b-da98-427d-bca2-d8bc212ff7a8
2. Liddell, C. et al.: Journal of Public Health (im Druck).
3. Nierop, S.: Energy Poverty in Denmark? 2014, http://fuelpoverty.eu/2014/07/02/energy-poverty-in-denmark/
4. Wilkinson, P. et al., The Lancet, 2009.
5. Liddell, C. et al.: Energy Research and Social Science (im Druck).
6. Liddell, C.; Guiney, C., 2015, www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/25726123
7. Ebd.
8. Critchley, R. et al.: Living in cold homes after heating improvements: Evidence from Warm-Front, England’s Home Energy Efficiency Scheme, 2007.
9. Cook, J. T.;?Frank, D. A.: Annals of the New York Academy of Sciences, 2008.
10. Bhattacharya, J. et al.: American Journal of Public Health, 2003.
11. Frank, D. A. et al.: Pediatrics, 2006.
12. Howden-Chapman, P. et al., British Medical Journal, 2007.
13. Barnes, M. et al.: National Centre for Social Research, London, 2008.
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