Hier ist es normal, verschieden zu sein
Inklusion heißt - wörtlich übersetzt - Zugehörigkeit. Laura gehört zur Gruppe Simon, genau wie Raphael, Jan, Ana und die anderen. Die Gruppe Simon ist eine Wohngruppe des Josefshauses, einem heilpädagogischen Heim für Kinder und Jugendliche der Gemeinnützigen Gesellschaft der Franziskanerinnen zu Olpe.
"Das ist hier kein richtiges Zuhause. Es ist eine Art Zuhause", erklärt Raphael das, was die Gruppe Simon nicht nur für ihn ist. Eine Art Zuhause für sieben Kinder im Alter von acht bis 14 Jahren, die - manchmal für Jahre - nicht bei ihren Eltern leben können. Drei Kinder in der Gruppe Simon sind geistig behindert. Die Konstellation hat sich so ergeben. Es gibt andere Wohngruppen im Josefshaus, in denen zwei, eins oder auch gar kein Kind mit Handicap lebt. Obwohl: "Alle unsere Kinder haben ein individuelles Handicap. Durch das, was sie mitbringen, ihre Geschichte, geprägt durch emotionale Enttäuschungen. Alle unsere Kinder haben einen hohen Förderbedarf, weil in ihrem Leben eine Menge schiefgelaufen ist", sagt Reinhard Geuecke, Leiter des Josefshauses.
Es ist Kaffeezeit in der Gruppe Simon, 16 Uhr. Wochentags ein fester Termin nach der Schule. Sieben Kinder und zwei Erzieherinnen sitzen an dem großen Esstisch in der Wohnküche und erzählen von ihrem Tag. Es ist laut. Es ist lebendig. Ana erzählt vom Tanzen, sprudelt über vor Begeisterung. Tobi knutscht sein Kuscheltier, nervt. Jan hat schlechte Laune, will provozieren. Doch in der Gruppe Simon gelten feste Regeln. Sieben Kinder sitzen auf ihren mit Namensschildern versehenen Stühlen - drei davon mit geistiger Behinderung. Drei Kinder, die hier nicht auffallen. "Weil alle besonders sind. Weil alle ihre Geschichte haben, aber keiner deshalb einen besonderen Status hat." Silke Köster ist Diplompädagogin und leitet die Gruppe. Über das Thema Inklusion sagt sie: "Inklusion ist bei uns Alltag. Inklusion machen wir im Josefshaus schon lange - lange bevor der Begriff in Mode kam."
Die drei Kinder mit geistiger Behinderung können sich artikulieren, sehen aus wie jedes andere Kind am Tisch, beteiligen sich am Gespräch. Sie gehen in der Menge unter, im positiven Sinne. Wie wäre es, wenn die Behinderung offensichtlicher wäre? Reinhard Geuecke zögert nur einen Moment mit der Antwort: "Nicht anders", sagt er und berichtet von einer anderen Wohngruppe. In dieser Gruppe im Josefshaus für Kinder ohne Handicap wurden kurzfristig zwei geistig und körperlich schwerstbehinderte Kinder untergebracht. Geplant als Übergang wurde es eine Dauerlösung, gewollt von den Betreuer(inne)n und allen Kindern in der Gruppe. Reinhard Geuecke: "Inklusion muss bei uns nicht immer gelingen, aber kann bei uns sehr oft gelingen." Silke Köster ergänzt: "Weil wir jeden nehmen, wie er ist."
Das Kind mit Handicap gehört dazu wie in einer Familie
In der Gruppe Simon und den anderen Gruppen im Josefshaus ist es normal, verschieden zu sein. Verschieden zu sein kann auch heißen, ein körperliches oder geistiges Handicap zu haben. "Hier fällt keiner hinten rüber, weil er schwächer ist als der andere", sagt Silke Köster. Reinhard Geuecke beschreibt das Zusammenleben von Kindern mit und ohne Handicap so: "In der Wohngruppe ist es wie in einer Familie mit einem behinderten Kind. Das Kind nervt, das Kind wird geliebt - das Kind gehört dazu, wie jedes Kind der Familie."
Dass Inklusion im Josefshaus funktioniert, ist intensive Arbeit und Resultat einer guten personellen Ausstattung. Sieben Kinder, fünf pädagogische Stellen - Diplompädagog(inn)en, Sozialpädagog(inn)en, Erzieher(innen). Dazu kommt eine halbe Integrationskraft für Raphael, die ihm hilft, seinen Alltag zu meistern - ein Personalschlüssel, der in der Wohngruppe machbar ist. In einer Schulklasse wäre dies - zurzeit - undenkbar. "Ich kann genau hinschauen, mir Zeit nehmen für den Einzelnen, kann regulieren, engmaschig betreuen, kann erklären", beschreibt Silke Köster ihre Arbeit. Sie erklärt den Kindern Gefühle, Bedürfnisse, Regeln und Strukturen, und das immer wieder. "Das zeichnet eine Intensivgruppe wie die Gruppe Simon aus. Stetes Welterklären ist wichtig, wenn wir kognitiv schwache Kinder haben. Kinder, die durch Erklärungen Sicherheit finden, die sie vorher nicht erlebt haben", sagt Reinhard Geuecke.
Die Wohngruppe als kleine Erziehungseinheit mit familienähnlichen Strukturen ist seit Ende der 1990er-Jahre ein wichtiger Bestandteil des pädagogischen Konzeptes im Josefshaus. Die Gruppen sind fast alle dezentral organisiert. Sie liegen in der Umgebung von Olpe, oft kilometerweit voneinander entfernt. Die Gruppe Simon lebt im städtischen Umfeld in einem großen Einfamilienhaus mit Garten, in einer Straße mit gut situierten Nachbarn. Andere Gruppen leben in eigenen Häusern und auf Bauernhöfen auf dem Land und sind fester Bestandteil des Dorflebens.
Integriert ins Dorfleben
Die kleinen Erziehungseinheiten und die dezentrale Struktur trügen viel zum Gelingen von Inklusion im Josefshaus bei, so Geuecke. Doch wie gelingt Inklusion außerhalb - in der Schule, im Verein? Wenn nur eben möglich, wird Inklusion im Alltag der Kinder weitergelebt, weil das Josefshaus das einfordert. Mit den Lehrer(inne)n oder den Trainer(inne)n in den Vereinen wird dies besprochen. Inklusion ist Arbeit, ist individuelles Hinschauen, ist Kommunikation und Kooperation. Manchmal müssen Sonderregelungen her, zum Beispiel für eine Zehnjährige aus der Gruppe Simon, die ihren Tanzverein liebt, aber nicht die öffentlichen Auftritte. Trotzdem darf sie bleiben. Sie ist die Einzige, die nicht mit raus muss auf die Bühne - weil sie dazugehört und genau das so viel für sie bedeutet. "Manchmal braucht es Zeit, bis die Menschen draußen verstehen, was für unsere Kinder überlebenswichtig ist", weiß Silke Köster. Das Mädchen lebt seit sechs Jahren in der Gruppe Simon. Sie erfährt seitdem, dass sie immer irgendwo dazugehört, obwohl sie anders ist als andere. "Ohne den Gedanken der Inklusion stünde sie heute nicht da, wo sie steht", ist sich Silke Köster sicher.
Und dann ist da die Geschichte von drei Grundschulkindern, die nach der zweiten Schulstunde in der Regelschule mit ihren Kräften am Ende sind. Kinder, die deshalb immer wieder Austicken, über Tische und Bänke gehen. Die Lösung ist nicht der Schulwechsel, denn die Regelschule ist ihre Chance. Da sind sich Lehrer(innen) und Josefshaus einig. Die Lösung könnte so aussehen: "Jemand von uns ist in der Schule, um die Kinder nach der zweiten Stunde aufzufangen", erklärt Reinhard Geuecke. So aufzufangen, dass sie in der vierten Stunde im Unterricht wieder dabei sind, damit tatsächlich keiner durchs Netz fällt, weil er schwächer ist als der andere. Die Lösung wäre personal- und dementsprechend kostenintensiv. "Nicht unproblematisch, aber irgendwie machbar."
Problem Schule: oft zu wenig Personal
In den Regelschulen, die die Kinder aus dem Josefshaus besuchen, treffen die Betreuer(innen) oft auf verständnisvolle Lehrer(innen), die immer wieder schnell an ihre Grenzen stoßen. Lehrer, die sagen: "Wir verstehen Ihr Anliegen, aber ..." "Aber", das steht für zu wenig Personal, zu wenig Zeit, zu wenig Fachwissen. "Aber" steht auch für Hilflosigkeit im Umgang mit Kindern aus dem Josefshaus.
Inklusion muss im Idealfall früh beginnen. Je eher, desto besser für das Kind, glaubt Reinhard Geuecke. Die Gruppe Simon zeigt, dass er recht hat. Weil am Esstisch in der Wohnküche sieben Kinder sitzen, von denen drei ein Handicap haben. Welche drei? Der Außenstehende wird sie nicht erkennen. Weil es hier normal ist, verschieden zu sein.
Anmerkung
Weitere Informationen zum Josefshaus sind unter www.josefshaus-olpe.de zu finden.
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