Die Bedürfnisse junger Flüchtlinge berücksichtigen
Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge stellten im letzten Jahr 173.072 Personen in Deutschland einen Asylerstantrag, davon waren 54.996 minderjährig. Der überwiegende Teil der Kinder war zusammen mit den Eltern geflohen, circa acht Prozent aller Minderjährigen kamen ohne Familie als sogenannte unbegleitete Minderjährige an. All diese Kinder haben eine eigene Geschichte, spezifische Bedürfnisse und Wünsche mitgebracht.
Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 (KRK) gilt für alle Kinder. Dementsprechend gilt auch der Vorrang des Kindeswohls aus Artikel 3 KRK für Flüchtlingskinder, unabhängig von ihrem Status. UNHCR, die UN-Organisation, die weltweit für den Schutz von Flüchtlingen zuständig ist, stellt fest, dass Flüchtlingskinder auf der einen Seite einem stärkeren Risiko von Misshandlung, Vernachlässigung, Gewalt, Ausbeutung, Menschenhandel oder Zwangsrekrutierung ausgesetzt sind. Auf der anderen Seite haben sie häufig eine stark ausgeprägte Fähigkeit, belastende Situationen erfolgreich bewältigen zu können (Resilienz). Für UNHCR ist ein kinderrechtebetonter Ansatz wichtig. Bei jeglicher Entwicklung von Schutzmechanismen für Flüchtlingskinder sollen diese aktiv an deren Ausgestaltung beteiligt werden und die Stärkung der Kinder soll im Vordergrund stehen.2
Nach den allgemeinen Vorschriften des SGB VIII hat jedes Kind ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.3 Auch ausländische Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf Jugendhilfeleistungen, wenn sie rechtmäßig oder aufgrund einer ausländerrechtlichen Duldung ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben.4 Europarechtlich gelten asylsuchende Kinder als besonders schutzbedürftig. Mit der EU-Aufnahmerichtlinie und der EU-Verfahrensrichtlinie wurden die Mindeststandards und Rechte von minderjährigen Asylsuchenden sogar weiter gestärkt.5
Doch wie sieht die Wirklichkeit aus? Wenn Minderjährige allein nach Deutschland kommen, werden sie vom Jugendamt in Obhut genommen, ihre Fluchthintergründe, familiären Bindungen, ihre Gesundheit, Bedarfe und Stärken werden abgeklärt, um sie passgenau unterstützen zu können. Die Situation für Flüchtlingskinder, die mit ihren Eltern kommen, ist in der Regel anders. Sie werden gemeinsam in Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht und laufen im weiteren Verfahren meist einfach mit. Als eigene Rechtssubjekte mit besonderen Rechten werden sie behördlicherseits selten wahrgenommen.
Bedürfnisse der Kinder rücken stärker in den Fokus
Doch es gibt positive Entwicklungen: In der Fachöffentlichkeit kommt die Diskussion in Schwung, welche Unterstützung Flüchtlingskinder und ihre Familien brauchen. Um nur einige Beispiele zu nennen: Das Deutsche Jugendinstitut publizierte Anfang 2014 mehrere wissenschaftliche Aufsätze zum Thema.6 Das Kinderhilfswerk UNICEF veröffentlichte 2014 die Broschüre "In erster Linie Kinder". Das neue Bundesprogramm "Willkommen bei Freunden" soll Kommunen bei der Integration junger Flüchtlinge unterstützen. Die Arbeitsgemeinschaft der Jugend- und Familienhilfe (AGJ) hat mit "Kind ist Kind! - Umsetzung der Kinderrechte für Kinder und Jugendliche nach ihrer Flucht" ein Positionspapier herausgegeben. Landesjugendämter öffneten sich dem Thema. Auch die Caritas stellte sich auf ihrer Bundesfachkonferenz Kinder-, Jugendhilfe und Familie im Mai dieses Jahres dem Thema. Städte und Initiativen entwickeln Unterbringungskonzepte, bei denen die Belange von Kindern besonders berücksichtigt werden. Auf lokaler Ebene gibt es schon lange und mit steigender Tendenz ehrenamtliche Projekte.
Viele asylsuchende Kinder kommen aus Kriegsgebieten wie Syrien, Afghanistan, Irak oder autokratisch regierten Regimen wie in Eritrea oder Tschetschenien (Russische Föderation).
Die Familien waren, wenn sie in Deutschland ankommen, möglicherweise schon Monate auf der Flucht und/oder hatten zunächst in Nachbarstaaten ihrer Heimatländer Zuflucht gesucht. Sie sind den
Schleppern ausgeliefert, die auch die Trennung von Familien verursachen oder in Kauf nehmen. Im Asylverfahren haben Familien aus diesen vorgenannten Herkunftsländern gute Chancen, einen dauerhaften Schutzstatus zu erhalten. So lag die Schutzquote für Asylsuchende aus Syrien im Jahr 2014 bei 100 Prozent, für Geflüchtete aus Afghanistan bei 68 Prozent, bezüglich der Russischen Föderation bei 24 Prozent, dem Irak bei 89 Prozent und Eritrea bei 98 Prozent.7
Daneben kommen derzeit viele asylsuchende Kinder aus den Westbalkan-Staaten. In diesen Ländern drängt die Diskriminierung von Roma ebenso wie die allgemeine Perspektivlosigkeit Familien zur Ausreise. Die Chancen im Asylverfahren sind sehr gering, sie liegen zwischen 0,3 Prozent (Serbien) und 2,7 Prozent (Albanien).8 Die Familien sehen sich in der Regel relativ bald mit der Rückführung in ihre Heimatländer konfrontiert, nicht wenige Familien reisen freiwillig zurück.
Asylsuchende sind verpflichtet, in den ersten drei Monaten in einer Erstaufnahmeeinrichtung und später in einer Gemeinschaftsunterkunft zu leben, die ihnen zugewiesen wird.9 Es gibt keine
bundeseinheitlichen Unterbringungsstandards, sondern lediglich Vorgaben einzelner Bundesländer.10
Mehr Platz zum Spielen und Erholen
Die Lebenssituation in Gemeinschaftsunterkünften wirkt sich spezifisch auf Kinder aus. Sie sehen sich mit räumlicher Enge und Lärm aufgrund unterschiedlicher Schlaf- und Wachzeiten der Bewohner(innen) konfrontiert. Hinzu kommen ein erhöhtes Infektionsrisiko und die Gefahr von möglicherweise auch sexualisierten Übergriffen. Der unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs hat jüngst darauf aufmerksam gemacht, dass Flüchtlingskinder besonders gefährdet sind, Opfer sexueller Übergriffe zu werden, unter anderem weil Mindeststandards gegen sexuelle Gewalt in den Flüchtlingsunterkünften fehlen.11
Die EU-Aufnahmerichtlinie, die Mindeststandards für die Aufnahme von Asylsuchenden setzt, und die spätestens im Juli 2015 in nationales Gesetz hätte umgesetzt werden müssen, sieht vor, dass bei der Unterbringung von Asylsuchenden alters- und geschlechtsspezifische Aspekte zu berücksichtigen sind. Das in den Einrichtungen eingesetzte Personal muss angemessen geschult sein. Minderjährigen ist die Gelegenheit zur Freizeitbeschäftigung einschließlich altersgerechter Spiel- und Erholungsmöglichkeiten zu bieten. Die Richtlinie sieht auch vor, dass ein der körperlichen, geistigen, seelischen, sittlichen und sozialen Entwicklung des Kindes angemessener Lebensstandard zu gewährleisten ist.12
Noch ist unklar, ob und wie der Gesetzgeber diese Vorgaben aus der Richtlinie umsetzen will. Eine Möglichkeit wäre, zu regeln, dass Gemeinschaftsunterkünfte einer Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII unterliegen, die von der Einhaltung des Kindeswohls abhängig ist. Bislang sind Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünfte explizit von einer solchen Betriebserlaubnis ausgenommen.13
Nicht genügend psychotherapeutische Angebote
Theoretisch stehen asylsuchenden Kindern in Deutschland schon jetzt die gleichen Unterstützungsangebote zur Verfügung wie anderen Kindern. Doch haben diese Kinder häufig sehr spezifische Bedürfnisse, die einerseits ihrer Fluchtgeschichte geschuldet sind. Andererseits spielt auch die besondere rechtliche und faktische Situation als Asylsuchende eine Rolle, die sich unter anderem an der oben beschriebenen Unterbringungssituation festmacht, aber auch an der unsicheren Aufenthaltsperspektive. Bislang stehen für Kinder nicht flächendeckend besondere psychotherapeutische Angebote zur Verfügung.
Bei der Frage der Unterstützung asylsuchender Kinder muss auch die Situation der Eltern in den Blick genommen werden. Oft ist es für sie schwierig, ihren Kindern als Stütze zu dienen, wenn sie selbst durch ihre Fluchterfahrungen belastet sind und sich neu orientieren müssen. Häufig fällt es den Kindern sogar leichter als den Eltern, sich an die neue Lebenssituation anzupassen. Das kann dazu führen, dass die Kinder als Dolmetscher für ihre Eltern eingesetzt werden und sie Aufgaben übernehmen müssen, die ihrem Alter und ihrer Rolle nicht entsprechen. Daher müssen die Eltern befähigt werden, ihre Rolle aktiv wahrzunehmen und als Bezugspersonen ihrer Kinder zu dienen, die für sie Verantwortung übernehmen, mit ihnen gemeinsam Entscheidungen treffen und ein positives familiäres Umfeld bieten.
Bei der Frage, wer asylsuchende Kinder und ihre Eltern unterstützen kann, müssen diverse Möglichkeiten betrachtet werden:
- Für Asylsuchende und Flüchtlinge gibt es spezifische Unterstützungsstrukturen, die es ihnen erleichtern sollen, sich in ihrem neuen Lebensumfeld zurechtzufinden. Es gibt, allerdings nicht immer, Sozialarbeiter(innen) in den Gemeinschaftsunterkünften, die bei praktischen Alltagsproblemen zur Seite stehen können. Asylberatungsstellen unterstützen im Asylverfahren, und nach der Gewährung eines Schutzstatus haben die Betroffenen Zugang zu den Migrationsberatungsstellen; jungen Menschen bis 27 Jahren stehen die Jugendmigrationsdienste zur Seite.
- Es gibt Strukturen der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe, die allen Kindern und Familien offenstehen, so auch asylsuchenden Kindern und ihren Eltern. Hier ist es oft eine Frage des Zugangs, da die Eltern diese Angebote nicht kennen.
- Oft ist die erste Berührung die Kindertagesstätte. Denn 47 Prozent aller asylsuchenden Kinder sind unter sechs Jahre alt. Wenn sie das erste Lebensjahr vollendet haben, steht ihnen ab dem Zeitpunkt des Verlassens der Erstaufnahmeeinrichtung ein Betreuungsplatz zu.14 Immer häufiger kümmern sich die Sozialarbeiter(innen) in den Gemeinschaftsunterkünften darum, dass die Kinder in Kitas aufgenommen werden. Kitas wiederum melden seit kurzem gezielten Fortbildungsbedarf an. In der Folge entstanden in jüngster Zeit verschiedene Programme, Fortbildungsveranstaltungen und Leitfäden.
- 53 Prozent der asylsuchenden Kinder sind zwischen sechs und 18 Jahren und damit meist schul- oder berufsschulpflichtig15, so dass der Schule und Schulsozialarbeit eine wichtige Funktion zukommt. Sie kann die Brücke zu weiteren Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe sein. Entscheidend für den Auf- und Ausbau von Unterstützungsstrukturen für asylsuchende Kinder und ihre Familien ist die Kooperation der verschiedenen Institutionen. Diese verfügen über spezifisches Fachwissen bezüglich des Asylbereichs, legen aber möglicherweise den Fokus zu wenig auf die Bedürfnisse von Kindern. Hier müssen sie auf die Angebote der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe verweisen können. Diese wiederum muss entsprechend sensibilisiert sein, um besondere Bedürfnisse der Kinder zu erkennen. In allen Bereichen wird das Problem fehlender Kapazitäten Thema sein. Bevor aber neue Strukturen errichtet werden, sollte geprüft werden, ob und an welcher Stelle ein Ausbau und eine Vernetzung bestehender Strukturen sinnvoll ist. Dabei können auch Ehrenamtliche eine wichtige Rolle spielen,
allerdings immer in einem abgesteckten Rahmen und mit professioneller Unterstützung. Auch über Beteiligungsformen der Kinder und Jugendlichen muss nachgedacht werden.
Anmerkungen
(1.) Die Autorin ist Mitarbeiterin bei UNHCR. Der Beitrag gibt ausschließlich ihre persönliche Meinung wieder, die nicht unbedingt von den Vereinten Nationen oder von UNHCR geteilt wird.
2. UNHCR: A Framework for the Protection of Children. Genf, 2012. www.refworld.org/docid/4fe875682.html
3. § 1 Abs. 1 SGB VIII.
4. § 6 Abs. 2 SGB VIII.
5. Richtlinie 2013/33/EU des europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Neufassung), und Richtlinie 2013/32/EU vom 26.6.2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Neufassung).
6. Deutsches Jugendinstitut: Top Thema 2014, www.dji.de/fileadmin/user_upload/bulletin/d_bull_d/bull105_d/DJI_1_14_WEB.pdf
7. Die Quoten beziehen sich auf alle Schutzstatus, die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geprüft werden. Verfahren, die als unzulässig abgelehnt oder eingestellt wurden, sind nicht in die Quote einbezogen.
8. Zur Berechnung der Quoten siehe Fn.7.
9. § 47 und 53 AsylVfG.
10. Wedel, K.: Unterbringung von Flüchtlingen in Deutschland - Regelungen und Praxis der Bundesländer im Vergleich. Pro Asyl, 2014.
11. Pressemitteilung vom 19.8.2015.
12. EU-AufnahmeRL, siehe Fußnote 3, Art. 18 und 23.
13. § 44 Abs. 3 bzw. § 53 Abs. 3 Asylverfahrensgesetz.
14. § 24 SGB V.
15. In einigen Bundesländern beginnt die Schulpflicht erst nach drei Monaten, das Ende der Schulpflicht ist in den Bundesländern sehr heterogen geregelt.
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