Balanceakt im Hotelalltag
Beim Stichwort "Dezentralisierung" denkt man in der Behindertenhilfe in erster Linie an die Konversion von Zentraleinrichtungen, an ausgelagerte Wohnheime, ambulante Betreuung in unterschiedlichen Stadtteilen und an betriebsintegrierte Arbeitsplätze in externen Unternehmen. Das Franz Sales Haus in Essen betreut Menschen mit geistiger Behinderung, hat bereits viele Dezentralisierungsvorhaben realisiert und verlor dennoch nie die Vorteile einer Zentraleinrichtung aus den Augen.
"Man muss die Inklusion aus unterschiedlichsten Perspektiven betrachten", ist sich Direktor Günter Oelscher sicher. "Wir integrieren Menschen mit Behinderungen in die Gemeinden, holen aber auch Menschen ohne Behinderungen zu uns ins Kerngelände." Ein gutes Beispiel dafür ist der integrative Sportverein: Er wurde 1978 gegründet, und mittlerweile treiben in dem modernen Sportzentrum Ruhr über 2000 aktive Vereinsmitglieder, davon ein Drittel mit Behinderung, gemeinsam Sport. Das Konzept ist aufgegangen. Der Erfolg hat bundesweit für Aufmerksamkeit gesorgt und ist auch für andere Vereine interessant. "Die DJK Franz Sales Haus bietet daher Wissenstransfer an", berichtet Ewald Brüggemann, Sportlicher Leiter im Franz Sales Haus. "Schulungsteilnehmer und Sportverbände fragen uns regelmäßig auch nach einer Übernachtungsmöglichkeit." Aufgrund dieses Bedarfs wurde ein Konzept für ein eigenes Gästehaus erarbeitet.
Wirtschaftlich betreiben heißt Marktchancen nutzen
Karin Poppinga führte 2009 im Auftrag des Franz Sales Hauses eine Machbarkeitsstudie für das Hotel durch. "Die Ergebnisse waren eindeutig: Nur wenn das Hotel alle Marktchancen konsequent nutzt, kann es wirtschaftlich betrieben werden", resümiert die Hoteldirektorin. Weil Essen wenige Hotels im bezahlbaren Dreisternesegment hatte, riet sie zum Bau eines solchen Hauses. Direktor Günter Oelscher entwickelte das Konzept in Richtung Inklusion weiter: ein Hotel, das für Gäste und Mitarbeiter(innen) gleichermaßen barrierefrei ist, ein Ort, an dem sich Menschen mit und ohne Behinderungen in einem positiven Kontext begegnen und dadurch Vorurteile abbauen können. Schon die Kontaktfreudigkeit der geistig behinderten Bewohner(innen) in der Zentraleinrichtung ist für Gäste ungewöhnlich: Sie werden auf dem Gelände überall freundlich gegrüßt.
Vor zwei Jahren wurde das Hotel Franz mit 48 barrierefreien Zimmern eröffnet. "Unser bundesweit einzigartiges Hotel mit angeschlossenem Veranstaltungszentrum ist für Rollstuhlfahrer ebenso konzipiert wie für Menschen mit Hör-, Seh- oder geistiger Behinderung", beschreibt Günter Oelscher. Die Zimmer entsprechen genau den Bedürfnissen des Gastes und das Personal geht auf Menschen mit unterschiedlichsten Handicaps individuell ein. Keine leichte Aufgabe für Karin Poppinga, die das Hotel Franz leitet. Der Spagat zwischen Design und Funktion musste bewältigt werden. "Ich wollte von Anfang an ein Haus mit ansprechendem und modernem Ambiente. Keine Pflegeheim-Optik." Obwohl dies gelungen ist, taten sich im laufenden Geschäft weitere Spannungsfelder auf: "Der Balanceakt zwischen Wirtschaftlichkeit und den besonderen Bedürfnissen der Mitarbeiterschaft ist jeden Tag wieder eine große Herausforderung."
Von der Leistung der Mitarbeiter begeistert
Das Hotel Franz wird von dem gemeinnützigen Integrationsunternehmen "in service GmbH" betrieben, und rund die Hälfte der rund 45 Mitarbeiter(innen) hat eine anerkannte Schwerbehinderung. Erfahrungen mit behinderten Mitarbeiter(inne)n hatte Karin Poppinga zuvor nicht, konnte aber von dem Know-how der Kolleg(inn)en in der Zentraleinrichtung profitieren. "Es fand ein reger Austausch statt, denn ich konnte am Anfang nicht genau abschätzen, ob und wie der Betrieb mit unserer besonderen Mitarbeiterschaft laufen wird." Die Zweifel sind inzwischen längst zerstreut und die Hoteldirektorin ist von der Leistung ihrer gehandicapten Mitarbeiter(innen) begeistert: "Sie sind mit so viel Freude und hoher Motivation bei der Arbeit, dass dies alle Mitarbeiter ohne Behinderung beeindruckt."
Für die geistig behinderten Beschäftigten aus den Franz Sales Werkstätten ist das Hotel als Arbeitsplatz ein großer Ansporn und eine interessante Möglichkeit, sich in Richtung erster Arbeitsmarkt zu entwickeln. Sie können durch Praktika testen, ob sie den Leistungsanforderungen gewachsen sind. Immer wieder gelingt dies, und so konnten in der Großküche inzwischen betriebsintegrierte Arbeitsplätze für Beschäftigte aus Werkstätten geschaffen werden. Das langfristige Ziel ist auch hier die Integration in externe Unternehmen.
"Natürlich eignet sich nicht jeder Beschäftigte für eine Tätigkeit im Hotel", gibt Karin Poppinga zu bedenken. Aber das sei auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht anders. "Deshalb haben wir uns gefreut, dass Bewerbungen von potenziellen Mitarbeitern aus der gesamten Region kamen. Die Behinderungen der potenziellen Mitarbeiter waren ebenso vielfältig wie bei den Gästen: Menschen mit Hör-, Seh-, Körper- oder geistiger Behinderung bewarben sich für Tätigkeiten als Zimmermädchen, im Service, in der Großküche oder an der Rezeption."
Die meisten Gäste sind Businessreisende
In einer Praktikumsphase wird für die neuen Mitarbeiter(innen) zunächst ein möglicher Einsatzort gefunden. "Wenn jeder seinen Platz gefunden hat, können wir unseren Gästen die gleichen Leistungen anbieten, die sie in konventionellen Hotels bekommen", so die Hoteldirektorin. Und das, obwohl der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband dem Haus Anfang 2013 den vierten Stern verliehen hat. "Wir haben damit am Anfang nicht aktiv geworben, denn wir wollten bei unseren Gästen keine zu hohen Erwartungen wecken", verrät Poppinga. Inzwischen hat sich das geändert: Alles hat sich gut eingespielt. Der größte Teil der Gäste sind Businessreisende ohne Handicaps. Sie buchen über diverse Hotelportale und die meisten wissen nicht, dass sie in einem "besonderen" Haus untergekommen sind. Wenn sie von dem Konzept erfahren, ist die Begeisterung groß. Fast jeder Gast freut sich, dass er mit seiner Buchung automatisch etwas Gutes tut und dabei hilft, Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft zu integrieren. Denn die Mitarbeiter(innen) werden im "Franz" so ausgebildet, dass sie in jedem anderen Viersternehaus arbeiten können. "Ziel der Arbeit der ,in service‘ ist schließlich die dauerhafte Integration der Mitarbeiter mit Handicap in ,normale‘ Hotels", erläutert Günter Oelscher. Aber den meisten gefalle es so gut, dass sie am liebsten für immer bleiben würden.
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