Willkommen in der gesellschaftlichen Mitte
Die Hilfen zur Erziehung bieten Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern ein differenziertes Spektrum an ambulanten, teilstationären und stationären Hilfen. Die Inanspruchnahme dieser Hilfen setzt voraus, dass eine Erziehung zum Wohl des Kindes in der Familie allein nicht mehr garantiert werden kann: "Ein Personensorgeberechtigter hat bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist" (§ 27 Abs. 1 SGB VIII).
Die Voraussetzungen für die Hilfen zur Erziehung hat der Gesetzgeber in unbestimmte Rechtsbegriffe gefasst, um die unterschiedlichen Lebenssituationen zu berücksichtigen. Parallel dazu besteht mit dem individuellen Rechtsanspruch des Sorgeberechtigten eine eindeutige Verpflichtung des Jugendamtes, bei Bedarf tätig zu werden.
Wie die Voraussetzungen für die Hilfen zur Erziehung konkret aussehen und wie die Leistung ausgestaltet werden soll, ist also schwer zu definieren. Dies stellt im Alltag hohe Anforderungen an die Jugendämter: Sie müssen sich einerseits geeigneter fachlicher Instrumente bedienen und auf vergleichbare Lebenslagen von belasteten Familien reagieren und andererseits auch den individuellen Besonderheiten jedes Einzelfalls gerecht werden.
Als ein zentrales Steuerungsinstrument fungiert der Hilfeplan (§ 36 SGB VIII). Innerhalb dieses Hilfeplans sind "der Personensorgeberechtigte und das Kind oder der Jugendliche vor der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe und vor einer notwendigen Änderung von Art und Umfang der Hilfe zu beraten und auf die möglichen Folgen für die Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen hinzuweisen" (§ 36 Abs. 1 SGB VIII).
Dies bedeutet, dass die Entscheidung darüber, ob eine Hilfe zur Erziehung notwendig ist - und wenn ja, welche Hilfe es sein und wer sie erbringen soll -, nicht über die Köpfe der Sorgeberechtigten und der Kinder oder Jugendlichen hinweg gefällt werden darf. Der Hilfeplan ist also ein wichtiges Dokument, in dem der Planungsprozess festgehalten wird. Darüber hinaus stellt er eine unverzichtbare Datenquelle dar, die dokumentiert, ob die Angebote dem Bedarf entsprechen beziehungsweise welche Änderungen der Leistungsangebote notwendig sind.
Hilfen zur Erziehung sind sozialpolitisch gewollt
Die Hilfen zur Erziehung sind Ausdruck einer werteorientierten Haltung, die dem Wohl junger Menschen Vorrang einräumt. Zugleich wird mit den Hilfen zur Erziehung die öffentliche Übernahme von Verantwortung auch im Bereich der Erziehung postuliert.
Hilfen zur Erziehung sind eine sozialstaatliche Antwort darauf, dass viele Familien das Leben zunehmend als unübersichtlich und entgrenzend empfinden. Dadurch reagieren Familien zunehmend verunsichert in der Gestaltung des Alltags, der Organisation der Familie und in der Erziehung. Ob und wie Hilfen zur Erziehung gewährt und genutzt werden, ist von komplexen Einflussfaktoren abhängig:
- zunehmende Armut durch Arbeitslosigkeit, Wohnraumprobleme und deren Auswirkungen auf die Erziehungsfähigkeit von Familien;
- veränderte Familienstrukturen, zum Beispiel wachsende Zahl Alleinerziehender;
- Selektion durch andere Systeme wie zum Beispiel das sogenannte Abschulen von schwierigen Jugendlichen;
- Ausbaugrad der sozialen Infrastruktur, zum Beispiel Frühe Hilfen, Kita, Familienbildung, Beratung;
- Stellenwert des Kinderschutzes in der Öffentlichkeit;
- Entscheidungspraxis und -kultur in den Jugendämtern.
Die politische Grundentscheidung, für Sorgeberechtigte einen individuell einklagbaren Rechtsanspruch auf Unterstützung der familiären Erziehung zu schaffen, hat die Politik in den letzten Jahren durch weitere Gesetzgebung unterstrichen. Mit dem Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz (KICK) im Jahr 2005 und dem Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz - BkiSchG) im Jahr 2012 wurden noch einmal Schutzbedürftigkeit und Hilfebedarf für Kinder und Jugendliche gerade bei vermuteter oder tatsächlicher Bedrohung des Kindeswohls akzentuiert. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Hilfen zur Erziehung politisch gewollt und gesellschaftlich akzeptiert sind.
Längst keine Nothilfe mehr
In den vergangenen Jahren ist die Nachfrage der Hilfen zu Erziehung rasant gestiegen. Der 14. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung stellt die These auf, dass die Hilfen zur Erziehung und die gesamte Kinder- und Jugendhilfe "in der Mitte der Gesellschaft" angekommen sind.1 Heute werden die Hilfen zur Erziehung jedes Jahr von rund einer Million junger Menschen genutzt (Anfang der 90er Jahre waren es nur 218.000). Dies entspricht einem Anteil von 6,3 Prozent der Jugendlichen unter 21 Jahren.
Auch wenn das Leistungsfeld heute noch das Image hat, eine Nothilfe für Problemfamilien zu sein, so wird es tatsächlich zunehmend selbstverständlich von breiten Bevölkerungsschichten benötigt und genutzt. Beim Blick auf die konzeptionellen Veränderungen zeigt sich, dass die Hilfen zur Erziehung immer mehr ausdifferenziert werden und die Ausgaben der Jugendämter steigen. In den letzten zwei Jahrzehnten waren verschiedene konzeptionelle Weiterentwicklungen zu beobachten:
- Ambulantisierung und Familialisierung der Hilfen zur Erziehung, das heißt, mehr niedrigschwellige Formen der Hilfen bei gleichzeitiger stärkerer Familienorientierung;
- Flexibilisierung und Lebensweltorientierung: Hier zeigt sich der Trend hin zu mehr integrierten, flexiblen Hilfen, die mehr vom Kind aus gedacht, passgenau und aus einer Hand sind;
- Sozialraumorientierung und Vernetzung; die konzeptionellen und strukturellen Ansätze der Hilfen zur Erziehung hinsichtlich der Schnittstellen zu Regeleinrichtungen werden herausgearbeitet. So finden sich beispielsweise zunehmend Kooperationsstrukturen bei der Ausgestaltung von Hilfesettings in Familienzentren oder auch Maßnahmen innerhalb der sozialen Gruppenarbeit in Schulen;
- Intensivierung und Verkürzung der Hilfen zur Erziehung kommen gerade bei ambulanten Leistungen zum Ausdruck, zum Beispiel in Form von kurzzeitigen, familienbezogenen Kriseninterventionsprogrammen wie der aufsuchenden Familientherapie;
- Partizipation und Beteiligung nehmen in der Diskussion um Kinderrechte und Kinderschutz in den Hilfen zur Erziehung eine wichtige Rolle ein. Partizipation und Beteiligung von Kindern und Jugendlichen wird dabei als Schutzfaktor gesehen;
- Stärkung der Elternarbeit, insbesondere in den stationären Hilfen zur Erziehung, beispielsweise durch die zeitweise Aufnahme von Eltern in einer Fünftagegruppe im Rahmen der stationären Erziehungshilfe;
- stärkere Betonung des Wächteramtes und des Schutzauftrages in den Hilfen zur Erziehung und im Kontext der Kinderschutzgesetzgebung: Leistungen der Hilfen zur Erziehung balancieren stets zwischen den Aufträgen Dienstleistung/Unterstützung und Intervention beziehungsweise zwischen Hilfe und Kontrolle. Seit Mitte der 2000er Jahre ist eine Aufwertung der Interventions- und Kontrollelemente zu verzeichnen.
Die Nachfrage nach Hilfen bleibt hoch
Die Hilfen zur Erziehung werden trotz demografisch bedingten Rückgangs der Jugendpopulation auch zukünftig gebraucht. Mit einer sogenannten demografischen Rendite, das heißt einem nennenswerten Rückgang des Bedarfs an Hilfen zur Erziehung, an Eingliederungshilfen für junge Menschen mit einer seelischen Behinderung und Hilfen für junge Volljährige aufgrund der schrumpfenden Gesamtzahl junger Menschen, ist allen Befunden zufolge auch in den kommenden Jahren nicht zu rechnen.
Stärker noch als bislang werden sich die Hilfen zur Erziehung bei ihrer Ausgestaltung zukünftig auf neue Herausforderungen einstellen müssen. Exemplarisch werden hier drei wesentliche Aspekte genannt - die Wirkungsorientierung, die Inklusion und der Ausbau von Prävention.
Sich kontinuierlich über die Qualität der Leistungen sowie die erzielten Wirkungen zu vergewissern, muss selbstverständlicher Bestandteil einer professionellen Jugendhilfe werden - in erster Linie im Interesse der Adressat(inn)en. Denn sie haben nicht nur ein Recht darauf, über Wirkungen (und Nebenwirkungen) einer Leistung informiert zu werden, sie sind als Koproduzent(inn)en der Leistung an den Ergebnissen auch entscheidend beteiligt. Die Frage, welche Wirkung die Hilfen zur Erziehung tatsächlich erzielen, hat in einer weiteren Dimension mehr oder weniger existenzielle Bedeutung, nämlich hinsichtlich der Legitimation gegenüber der öffentlichen Hand. Bund, Länder und Kommunen schauen verstärkt darauf, die Ausgaben unter Kosten-Nutzen-Aspekten zu gewichten und danach ihre finanzielle Planung auszurichten.
Sowohl in der Schule als auch in den Hilfen zur Erziehung wird über ein "inklusiveres System" diskutiert, um letztlich jedem jungen Menschen mit seinem individuellen Bildungs-, Betreuungs- und Förderbedarf gerecht zu werden. Die aktuelle Debatte um die sogenannte "große Lösung", also der leistungsrechtlichen Zusammenführung der Hilfen für junge Menschen mit und ohne Behinderung im SGB VIII, die zum Beispiel mit der Benennung eines neuen Hilfetypus "Hilfen zur Entwicklung und Teilhabe" gekennzeichnet wird, stellt die Hilfen zur Erziehung vor neue Aufgaben.
Mit dem Ausbau der Prävention ist die Vorstellung verbunden, dass die Abhängigkeit von (teurer) staatlicher Unterstützung so frühzeitig wie möglich reduziert beziehungsweise beendet werden kann. Hier kommen verstärkt die Schnittstellen der Hilfen zur Erziehung beispielsweise zu Schule, Gesundheitsförderung, Arbeitsmarktförderung in den Blick. Diese Schnittstellen sind im Sinne einer besseren Kooperation einmal innerhalb des Systems der Kinder- und Jugendhilfe und zum anderen zwischen den verschiedenen Leistungssystemen auszugestalten. Dies macht auch eine verstärkte sozialräumliche Planung und Entwicklung von Hilfen zur Erziehung notwendig.
Vielleicht trägt eine weitere sozialräumliche und präventive Ausrichtung der Hilfen zur Erziehung dazu bei, "ein kooperatives Verständnis zwischen Kommunen und freigemeinnützigen Trägern zu befördern"2.
Anmerkung
1. BMFSFJ (Hrsg.): 14. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung. BT-Drucksache 17/12200, S. 251.
2. Siehe hierzu auch den Beitrag von Georg Cremer: Caritas und Kommunen: Statt Partner Lieferanten? In: neue caritas Heft 11/2013, S. 12.