Wer wegschaut, macht sich strafbar
Es sind nicht mehr nur Einzelfälle: Die Informationen und Meldungen über sexuelle Übergriffe auf Kinder und Jugendliche in Kitas oder anderen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe häufen sich. Und es fehlt nicht an medialen Skandalisierungen solcher Meldungen mit den hinlänglich bekannten Folgen, dass der Handlungsdruck im städtischen und gemeindlichen Verwaltungs- und Personalmanagement permanent steigt und schließlich "Köpfe rollen" oder (vermeintliche) Bauernopfer vom Dienst freigestellt werden. Das gilt für Einrichtungen und Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe ganz genauso.1
Verständlicherweise sorgt solches Gebaren im Kreise nicht nur der unmittelbaren Mitarbeiter(innen) in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe für Unmut, Irritationen und inzwischen auch für inneren Widerstand gegenüber den organisationsverantwortlichen Spitzen der Kommunalverwaltungen und auch der freien Träger. Denn nicht immer ist im arbeits-, haftungs- oder strafrechtlichen Sinne ein fehlerhaftes Verhalten des sanktionierten Personenkreises - Sachgebietsleiter(in), Einrichtungsleiter(in), Kitaleiter(in) - auf den ersten Blick erkennbar.
Die Leitungskräfte tragen eine hohe Verantwortung
Die Gemengelage von Verantwortlichkeiten und Pflichten der leitenden Funktionsträger in der Kinder- und Jugendhilfe ist komplex. Heraus stechen hier allerdings die Sorgfaltspflichten, wenn Vorgesetzte neue Mitarbeiter(innen) in ihren Einrichtungen einstellen. Zur Verdeutlichung dieses Pflichtenkreises mag das Beispiel eines Falls von sexuellem Übergriff in einer Kita der Stadt Freiburg im Breisgau dienen:2 Danach hat ein nicht pädagogischer Mitarbeiter, der bereits seit zwei Jahren in der städtischen Kita beschäftigt war, im Werkraum der Holzwerkstatt mehrere Kinder (die bekleidet waren) im Intimbereich berührt. An der Tür zum Werkraum hatte er ein Schild "Bitte anklopfen" angebracht. Überdies hatte der Mitarbeiter mit Hilfe einer Malwand dafür gesorgt, dass man in den Werkraum, der an sich durch eine Glaswand einsehbar war, nicht hineinblicken konnte. Die unsittlichen Berührungen hatte der Mitarbeiter mit versteckter Kamera gefilmt. Durch Zufall deckte die Polizei die sexuellen Übergriffe auf. Der Mitarbeiter wurde nach einer Information der Polizei unverzüglich von der Kita abgezogen.3
Das Fachkräftegebot muss eingehalten werden
Eine wesentliche Verantwortlichkeit der Leitungskräfte betrifft die Einhaltung des Fachkräftegebots gemäß § 72 SGB VIII. Diese Verantwortung fällt unter den Aspekt von Controlling durch "Compliance in der Kinder- und Jugendhilfe". (Compliance meint die Einhaltung von Gesetzen und Richtlinien). Das für die Anstellung von Mitarbeiter(inne)n in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zuständige Leitungspersonal hat deren Qualifikation als Fachkraft im Sinne des § 72 SGB VIII verantwortlich zu prüfen. Allerdings bindet § 72 SGB VIII "nur" die Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Das Fachkräftegebot des § 72 SGB VIII verpflichtet daher - zunächst - die Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe nicht unmittelbar. Gleichwohl sind die Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe nicht davon freigestellt, in ihrem Tätigkeitsbereich das Fachkräftegebot ebenfalls zu beachten und einzuhalten. Es ist anerkannt, dass dieses Gebot in seinem Kerngehalt - etwa bei der Förderung der freien Jugendhilfe, im Zusammenhang mit der Anerkennung als Träger der freien Jugendhilfe oder im Wege einer Betriebserlaubnis - auf die Arbeit der Träger der freien Jugendhilfe übertragbar ist. Dementsprechend wird es über diesen "Verfahrensweg" mittelbar wirksam.4 Ein Verstoß des Anstellungsträgers gegen das Fachkräftegebot kann strafrechtliche und andere haftungsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Das gilt unabhängig davon, dass § 72 SGB VIII keine abschließende Definition der Fachkraft zu entnehmen ist; denn es besteht Einigkeit darüber, dass sich die Anforderungen an die fachliche und persönliche Eignung des in der Kinder- und Jugendhilfe (beruflich) tätigen Personals grundsätzlich nach der Zweckbestimmung der Einrichtung und den jeweiligen Funktions- und Arbeitsbereichen sowie - soweit maßgeblich - einzelnen Leistungs- und Projektbeschreibungen richten. Je anspruchsvoller die Aufgaben in einer Einrichtung sind, desto höhere Anforderungen sind an die Eignung des in ihr tätigen Personals zu stellen.5 In einem mehr formalen Sinne setzt die Qualifikation als Fachkraft allerdings in der Regel einen jeweils disziplineigenen Hochschulabschluss, ein Diplom, eine staatliche Anerkennung, einen BA- oder MA-Studienabschluss oder sonstige anerkannte Zertifizierungen voraus.6
Eine hinreichende Konkretisierung des in § 72 SGB VIII nicht abschließend definierten Fachkräftebegriffs liefert vielfach das Landesrecht. So bestimmt etwa das baden-württembergische "Gesetz über die Betreuung und Förderung von Kindern in Kindergärten, anderen Tageseinrichtungen und der Kindertagespflege (Kindertagesbetreuungsgesetz - KiTaG)" vom 19. März 2009 in seinem § 7 Abs. 2, welcher Personenkreis als Fachkräfte in Einrichtungen in Betracht kommt.7 Dieser enumerative Fachkräfte-Katalog bezieht sich auf § 7 Abs. 1, S. 1 KiTaG. Danach sind die Kinder in den Einrichtungen durch pädagogisch qualifizierte Fachkräfte zu betreuen, zu erziehen und zu bilden.
Mit Blick auf den im geschilderten Beispielsfall wegen sexueller Übergriffe tatverdächtigen Mitarbeiter der Freiburger Kita lässt sich mit Bezug auf das Fachkräftegebot §§ 72 SGB VIII, 7 Abs. 1, S. 1 KiTaG ein Fehlverhalten der für die Anstellung des Mitarbeiters entscheidungszuständigen Stellen nicht feststellen; denn aus weiteren Presseinformationen wird ersichtlich, dass der "nicht pädagogische" Mitarbeiter zunächst als Küchenhelfer und später dann als Bürgerarbeiter in der Holzwerkstatt tätig war. Es handelte sich danach im Sinne der Terminologie des KiTaG um eine sogenannte Zusatzkraft, keine Fachkraft. Die Anstellung des Mitarbeiters als Zusatzkraft gründete sich offenbar auf § 7 Abs. 1, S. 2 KiTaG. Danach können die Fachkräfte durch weitere geeignete Personen (Zusatzkräfte) unterstützt werden. Ob und inwieweit der Mitarbeiter durch die für das Beschäftigungsverhältnis zuständige Personalabteilung auf seine Eignung geprüft wurde, lässt sich den Presseinformationen nicht entnehmen. Anhaltspunkte für die Eignungsprüfung liefern die §§ 8, 9 KiTaG. Insoweit ist zunächst ebenfalls kein Fehlverhalten erkennbar.
Entscheidend ist allerdings, dass der Mitarbeiter entsprechend seiner Anstellung als Zusatzkraft im tagtäglichen Betrieb der Kita keine Aufgaben übernommen hat, die allein den Fachkräften vorbehalten sind. Ob diese Aufgabenverteilung in der Kita mit der gebotenen Stringenz tatsächlich eingehalten wurde, lässt sich anhand der fassbaren Informationen nur schwer beurteilen, Zweifel daran sind allerdings erlaubt. Ein im besten kinder- und jugendhilferechtlichen Sinne kindeswohlsicherndes Controlling gemäß KiTaG oblag der Kitaleitung. Soweit ein derartiges (regelmäßiges) Controlling nicht stattgefunden hat, lässt sich ein Fehlverhalten der Einrichtungsleitung nicht ausschließen. Das hat zur Folge, dass dann auch eine strafrechtliche Verantwortlichkeit naheliegt, weil der tatverdächtige Mitarbeiter nicht am sexuellen Missbrauch gehindert worden ist. Allerdings sind an die Strafbarkeit solchen Fehlverhaltens eine ganze Anzahl weiterer Strafbarkeitsvoraussetzungen geknüpft8, deren tatsächliches Vorliegen mangels genauer Sachverhaltskenntnis nicht endgültig beurteilt werden kann.
Bei der Einstellung oder Vermittlung und in regelmäßigen Abständen sollen sich die Anstellungsträger der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe von Mitarbeitenden, die Aufgaben in der Kinder- und Jugendhilfe wahrnehmen, ein erweitertes Führungszeugnis nach § 30 Abs. 5 sowie § 30a Bundeszentralregistergesetz (BZRG) vorlegen lassen. Die Vorlageverpflichtung ist ausweislich der amtlichen Überschrift in § 72a SGB VIII wesentlicher Bestandteil der Überprüfung von Mitarbeiter(inne)n auf ihre persönliche Eignung. Ein Verstoß gegen diese Pflicht zur formalen Eignungsprüfung kann grundsätzlich eine strafrechtliche (oder sonst haftungsrechtliche) Verantwortlichkeit für deliktisches, also strafbares Verhalten der angestellten Mitarbeiter(innen) auslösen. Im Freiburger Kita-Fall soll allerdings der tatverdächtige Mitarbeiter das erforderliche erweiterte Führungszeugnis ohne Eintragungen vorgelegt haben. Damit zeigt sich einmal mehr, dass ein Restrisiko für strafbares Verhalten von Einrichtungsmitarbeiter(inne)n auch bei einwandfreiem erweitertem Führungszeugnis letztlich nicht ausschließbar ist.
Risiko mit Nebenwirkungen für Mitarbeiter
Soweit sich dieses Restrisiko verwirklicht, trifft die Kolleg(inn)en des deliktisch handelnden Mitarbeiters unter Umständen ein eigenes Strafbarkeitsrisiko. Dieses Strafbarkeitsrisiko resultiert aus der tatsächlichen und rechtlichen Nähe der Mitarbeiter(innen) zu den in der Einrichtung betreuten Kindern und Jugendlichen. Regelmäßig erlangt der/die Mitarbeitende qua beruflicher Aufgabenerfüllung eine Garantenstellung zum Schutze der Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit der Kinder und Jugendlichen. Diese Garantenstellung gründet sich auf mehrere sogenannte garantenpflichtbegründende Umstände: Zum einen basiert die Garantenstellung originär auf einer tatsächlichen Schutzübernahme. Zum anderen übernehmen die Mitarbeitenden einer Kita auf der Basis entsprechender Betreuungsverträge mit den Sorgeberechtigten die Sorgeverpflichtungen.9 Die aus diesen Garantenstellungen resultierenden Garantenpflichten sind samt und sonders auf die Abwehr von Gefahren für die Rechtsgüter der Kinder und Jugendlichen gerichtet.10 Das gilt generell für die Mitarbeiter(innen) von Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe jeder Art und ohne Frage auch für Mitarbeitende von Kitas.
Bei ersten Anzeichen sorgfaltsgerecht handeln
Derlei Garantenstellungen und Garantenpflichten umfassen auch die Abwehr sexueller Übergriffe auf die betreuten Kinder und Jugendlichen gegebenenfalls durch Mitarbeiter(innen) des eigenen Kollegiums. Das hat einige "Nebenwirkungen": die Verpflichtung zur Abwehr solcher Übergriffe zu erkennen und bei Wahrnehmung dieser Anzeichen sorgfaltsgerecht zu handeln. Zumeist bleibt nach eingehender Prüfung und oftmals angezeigter Rückversicherung bei der Einrichtungsleitung in der dann problematischen kollegialen Konfliktlage nichts anderes übrig, als die Strafverfolgungsbehörden einzuschalten.11 Ein solches Vorgehen ist jedenfalls dann geboten, wenn sexuelle Übergriffe bereits stattgefunden haben und es darum geht, Wiederholungstaten zu verhindern. Alles andere begründete ein weiteres eigenes Strafbarkeitsrisiko wegen Strafvereitelung gemäß § 258 (Strafgesetzbuch - StGB) oder auch §§ 258, 13 StGB. Dass dieses Strafbarkeitsrisiko bei Kenntnis der Sachlage für das Leitungspersonal ganz genauso besteht, sei nachdrücklich klargestellt.
Im Zusammenhang mit solchem kinder- und jugendhilferechtlichen Fehlverhalten stellt sich die Frage nach der "Compliance in der Kinder- und Jugendhilfe" beziehungsweise einer "Compliance in der Sozialwirtschaft".12 Weil beim Führen einer Einrichtung in der sozialen Arbeit und insbesondere beim Personaleinsatz stets Risiken in beträchtlichem Umfang bestehen, kommt alles darauf an, diese Risiken auch durch ein gutes und einrichtungsbezogenes Compliancemanagement kontrollierbar zu machen. Wer Risiken gesehen und ernstzunehmende Schritte unternommen hat, diese zu mindern, sichert sich weitgehend gegen strafrechtliche Sanktionen ab. Auch bei der Bewertung zivilrechtlicher Risiken entstehen erhebliche Vorteile. Wichtigstes Werkzeug für eine einrichtungsbezogene Compliance ist eine Untersuchung der bestehenden Risiken vor allem unter rechtlichen Gesichtspunkten. Vieles spricht dafür, diese Gefährdungen extern untersuchen zu lassen - zum Beispiel durch einen
Dachverband (etwa Deutscher Caritasverband) oder andere zugelassene Rechtsberater(innen).
Anmerkungen
1. Vgl. dazu "pars pro toto" die Berichterstattung über einen Fall sexueller Übergriffe in einer städtischen Kita in Freiburg, Badische Zeitung vom 15. Oktober 2012 und Folgeberichte.
2. Vgl. ebd.
3. Weitere Einzelheiten des Sachverhalts sind für die hier aufgegriffenen Fragen nicht von Belang.
4. Vgl. zum Beispiel für Vereinbarungen gemäß § 77 Abs. 1 SGB VIII Meysen, Thomas in: Münder, Johannes; Meysen, Thomas; Trenczek, Thomas (Hrsg.): Frankfurter Kommentar SGB VIII. Kinder- und Jugendhilfe. 7. Aufl. Baden-Baden, 2013, § 72 Rn. 2.
5. In diesem Sinne übereinstimmend Lakies, Thomas in: Münder, Johannes; Meysen, Thomas; Trenczek, Thomas (Hrsg.), a.a.O., § 45 Rn. 16; Mörsberger, Thomas in: Wiesner, Reinhard: SGB VIII. Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar. 4. Aufl. München, 2011, § 45 Rn. 44 jeweils mit Nachweisen aus der Rechtsprechung.
6. Vgl. dazu etwa Wiesner, Reinhard, a.a.O., § 72 Rn. 7 ff.
7. Ähnliche Regelungen finden sich in allen Bundesländern. Vorliegend wird wegen des in Freiburg/Brsg. angesiedelten Fallbeispiels nur auf das KiTaG BaWü rekurriert.
8. Vgl. dazu etwa Achenbach, Hans: Sanktionierung und Zurechnung unternehmensbezogenen Handelns im Überblick. In: Achenbach, Hans; Ransiek, Andreas (Hrsg.): Handbuch Wirtschaftsstrafrecht. 3. Aufl. Heidelberg etc., 2012, S. 3 ff., Rn. 24 ff.
9. Vgl. dazu etwa Bringewat, Peter in LPK-SGB VIII. 4. Aufl. Baden-Baden, 2011, § 8a Rn. 108 ff.; ders.: Grundbegriffe des Strafrechts. 2. Aufl. Baden-Baden, 2008, Rn. 412 ff., 422 ff. mit weiteren Nachweisen.
10. Auch Sicherungsgarantenstellungen zum Schutze der betreuten Kinder und Jugendlichen kommen in Betracht, spielen aber im thematischen Zusammenhang keine Rolle.
11. Vgl. dazu Kliemann, Andrea; Fegert, Jörg M: Kategorische Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden bei sexuellem Kindesmissbrauch in Institutionen. In: JAmt 2012, S. 127-137.
12. Vgl. dazu Rotsch, Thomas: Compliance. In: Achenbach, Hans; Ransiek, Andreas (Hrsg.): a.a.O., S. 45 ff., Rn. 3, 4.