Dem Dritten Weg schlägt nicht die Stunde
Nicht wenige sehen das kirchliche Arbeitsrecht vor neuen Herausforderungen, einige betrachten es sogar als obsolet. Dass Letzteres nicht einfach unterstellt werden kann, zeigen sowohl die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zum religionsgemeinschaftlichen Individualarbeitsrecht1 als auch die jüngsten Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zum Streikverbot für kirchliche Arbeitnehmer(innen) vom 20. November 2012. Selbst wenn man die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts (Aktenzeichen 1 AZR 179/11 und 1 AZR 611/11) gegenwärtig allein anhand der Pressemitteilungen zu würdigen hat, ist eines schon deutlich geworden: Wer meinte, jetzt sei die Stunde, in der dem Dritten Weg das Sterbeglöcklein geläutet werde, musste sich enttäuscht sehen. Enttäuscht wurden aber auch diejenigen, die der Auffassung sind, dass allein das Existieren eines kircheneigenen Arbeitsrechtsregelungsverfahrens eine komplette Bereichsausnahme zugunsten der Kirche und der ihr zurechenbaren Einrichtungen führen muss. War dieses Ergebnis völlig überraschend? Wie wird es mit dem kirchlichen Arbeitsrecht weitergehen? Man könnte geneigt sein, die berühmte Sentenz des Schriftstellers Tomasi di Lampedusa aus seinem Roman "Der Gattopardo" zu zitieren: "Wenn alles so bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern." - Muss sich aber wirklich alles ändern?
Sowohl die Entscheidungen des EGMR als auch die Entscheidungen des BAG verdeutlichen, dass es rechtliche Gründe für kirchliche Besonderheiten im Individual- und kollektiven Arbeitsrecht gibt und geben kann. Die durch das Grundrecht der Religionsfreiheit fundierte und durch das religionsgemeinschaftliche Selbstbestimmungsrecht auch zur institutionell-organisatorischen Seite von Religion verfassungsrechtlich abgerundete Rechtsposition eröffnet kirchliche Freiheitsoptionen. Das Konzept der Dienstgemeinschaft als Leitidee für kirchliches Wirken in der Welt entfaltet arbeitsrechtliche Wirkung. Die Rechtsordnung erweist sich als freiheitlich, indem sie sich für individuelle und institutionelle Besonderheiten öffnet und es insofern ermöglicht, dass Kirchen oder andere Religionsgemeinschaften ihrem je eigenen Selbstverständnis nach leben können. Das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht wäre aber juristisch falsch verstanden, wenn sich Religionsgemeinschaften durch Berufung auf ihr wie auch immer konzipiertes Selbstverständnis aus den weltlich-rechtlichen Ordnungszusammenhängen vollständig herausnehmen könnten. Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV fungiert in diesem Sinn nicht als "metakonstitutionelle Zuständigkeitsscheidung"2, die sämtliche eigenen Angelegenheiten von Kirchen dem Zugriff des staatlichen Rechts entzieht. Zwar war eine solche Bereichsscheidung zwischen dem staatlichen und dem kirchlichen Sektor in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland durchaus verbreitet, jedoch ist sie heute - bis auf die engen Ausnahmen Organisation und Ämterhoheit/Geistlichenamtsrecht - nicht mehr vorherrschend. Gleichwohl wirkt sie als Denkstil oder Erwartungshaltung bisweilen in bemerkenswerter Weise fort.
Kirchen dürfen ihr Arbeitsrecht selbst gestalten
Die Kirchen und Religionsgemeinschaften können die Gestaltung ihres Dienst- und Arbeitsrechts nach wie vor als ihre eigene Angelegenheit qualifizieren. Das BAG hat eindrücklich und präzise klargestellt, dass eine Ausgestaltung dieses Lebensbereiches durch das Leitbild der Dienstgemeinschaft durchaus vorsehen kann, dass die Arbeitsbedingungen nicht durch Tarifverträge geregelt werden müssen, sondern durch ein kircheneigenes Arbeitsrechtsregelungsverfahren "ersetzt" werden können. Es ist aber auch ebenso zulässig, dass Religionsgemeinschaften Tarifverträge abschließen, diese wegen der Besonderheiten des kirchlichen Dienstes aber dahingehend modifizieren, dass der Arbeitskampf ausgeschlossen wird.
Allein die Qualifikation eines Sachverhalts als kircheneigene Angelegenheit bedeutet aber nicht, dass sie sich auch letztlich juristisch durchsetzen muss. Es reicht für die juristische Bewertung nicht aus, dass der konkrete Sachverhalt in den Schutzbereich einer Grundrechtsnorm fällt. Damit allein lässt sich noch nicht die effektive Gewährleistungsreichweite einer verfassungsrechtlichen Gewährleistung im konkreten Fall feststellen. Der tatsächliche Freiheits- und Entfaltungsraum ergibt sich erst aus einem Zusammenspiel von Freiheitsgrund und Freiheitsgrenzen. Die Grenzen des religionsgemeinschaftlichen Selbstbestimmungsrechts sind in Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV ausdrücklich mit den für alle geltenden Gesetzen benannt. Das BAG neigt dabei vielleicht zu der - rechtswissenschaftlich nicht unumstrittenen - Auffassung, dass Grundrechte Dritter wie etwa die durch Art. 9 Abs. 3 GG verbürgte Koalitionsfreiheit (also das Recht von Arbeitnehmer(inne)n, sich einer Gewerkschaft anzuschließen) ein für alle geltendes Gesetz sein können; anhand der Pressemitteilung wird dies nicht ganz klar. In jedem Fall ist die verfassungsrechtlich garantierte Koalitionsfreiheit für das BAG geeignet, dem religionsgemeinschaftlichen Selbstbestimmungs- recht Grenzen zu setzen. Bemerkenswert ist, dass sich das BAG Art. 9 Abs. 3 GG nicht allein final auf Aspekte des Tarifvertrags bezieht, sondern ausdrücklich auch konsensuale Lösungen als koalitionsfreiheitskonform qualifiziert.
Die miteinander in Konflikt stehenden Rechtsgüter kirchliches Selbstbestimmungsrecht und Koalitionsfreiheit sind nun gemäß dem Grundsatz "praktischer Konkordanz"3 einander abwägend so zuzuordnen, dass zwischen diesen widerstreitenden Rechtspositionen ein schonender Ausgleich erfolgt. Eine solche verhältnismäßige Zuordnung intendiert, dass kein Rechtsgut übermäßig zurücktreten muss.
Das BAG wägt ab
Dass das BAG dieser Abwägungslösung folgt, überrascht denjenigen nicht, der die Kommentierung der Präsidentin des BAG, Ingrid Schmidt, im "Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht" kannte. Abwägungslösungen werden zwar immer wieder rechtswissenschaftlich kritisiert, jedoch durchweg gerichtlich - nicht zuletzt wegen der gleichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - praktiziert. Das BAG legt auf die eine Seite der Waagschale das Leitbild der Dienstgemeinschaft, welches durch einen antagonistischen Arbeitskampf nach dem kirchlichen Selbstverständnis nachhaltig gestört würde, auf die andere Seite das Koalitionsbetätigungsrecht der Gewerkschaften. Im Ergebnis führt dies dazu, dass der Dritte Weg die koalitionsmäßige Betätigung der Gewerkschaften nicht völlig unterbinden darf, sondern die Gewerkschaften in dieses kircheneigene Arbeitsrechtsregelungsverfahren "organisatorisch eingebunden" werden müssen.
Wirklich bemerkenswert ist, dass das Gericht sich derart organisationssensibel erweist, dass es für Maß und Gewicht der Beeinträchtigung der Leitidee Dienstgemeinschaft auf das kirchliche Selbstverständnis abstellt. Damit wird auch dem Ansatz der Vorinstanz eine Absage erteilt, die noch die Dienstgemeinschaft hinsichtlich des Streikrechts "aufteilen" wollte: Das LAG Hamm wollte bei der Zulässigkeit des Streiks nach Kern- und Randbereichen kirchlicher Tätigkeit differenzieren. Diesem Differenzierungsansatz für ein "geteiltes Streikrecht"4 hat das BAG nunmehr eine eindeutige Absage erteilt und damit den theologisch-religiösen Grundansatz, dass die Dienstgemeinschaft eine Einheit ist, bei der nicht zwischen wichtigen oder unwichtigen Tätigkeitsbereichen unterschieden werden kann, höchstrichterlich bestätigt.
In dem Parallelverfahren (Aktenzeichen 1 AZR 611/11), in dem es um die Zulässigkeit des Arbeitskampfes in kirchlichen Einrichtungen ging, für die der Zweite Weg gilt5 , also Tarifverträge abgeschlossen werden, hat das BAG den Ausschluss der Streikmöglichkeit gebilligt. Dieses hat hinter dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht zurückzutreten.
Nicht ohne Gewerkschaften
Wenn man ein höchst vorläufiges Zwischenergebnis festhalten will, dann können sich all jene bestätigt sehen, die nicht von vornherein davon ausgingen, dass sich Gewerkschaftsrechte per se zurückdrängen lassen, sondern stattdessen Abwägungslösungen den Vorzug geben, bei denen es um den Ausgleich kollidierender Freiheitssphären geht. Das BAG hat sich Extremlösungen versagt: Weder wird die Dienstgemeinschaft in den Entscheidungen vom 20. November 2012 mit dem (fragwürdigen) Kriterium "Verkündigungsnähe" aufgespalten noch hat das BAG eine Entscheidung gegen den Dritten Weg und damit für den Vorrang des Tarifvertrags getroffen. Es hat aber auch der vollständigen Exklusion der Gewerkschaften aus dem Dritten Weg eine Absage erteilt und deren organisatorische Einbindung gefordert, wobei sich jetzt die Frage stellt, was genau darunter zu verstehen ist.
Das BAG fordert zwar eine evolutorische Anpassung des Ordnungskonzeptes Dritter Weg, sagt aber gleichzeitig auch, dass dieses kirchenspezifische Konzept grundsätzlich den Anforderungen des staatlichen Rechts entspricht. Vor diesem Hintergrund lässt sich die bisherige Rechtsprechung des BAG, die Regelungswerke des Dritten Wegs nicht den Tarifverträgen gleichzustellen, nochmals infrage stellen, zumal Art. 9 Abs. 3 GG nicht nur die Tarifautonomie betrifft, sondern auch konsensuale Lösungen erfasst. Und schließlich: Die wohlverstandene, hinsichtlich ihrer Voraussetzungen gehegte und gepflegte Dienstgemeinschaft besitzt auch im Rahmen von Abwägungsentscheidungen argumentative "Schwere". Dass die freiheitliche Rechtsordnung dieser Dienstgemeinschaft, die in den Worten des verstorbenen Aachener Bischofs Klaus Hemmerle nicht nur Überbau, sondern Fundament für die Aufgabe und die Herausforderung ist, exemplarisch Kirche zu sein, durchaus Achtung zollt, ist bei allen nunmehr folgenden Anpassungserfordernissen und Veränderungsbedarfen ein gutes Zeichen. Auch der Deutsche Bundestag hat dies in einer Entschließung zum kirchlichen Arbeitsrecht im Dezember 2012 letztlich bestätigt.
Anmerkungen
1. EMGR vom 23. September 2010 - Rs. Schüth und Obst sowie EMGR vom 3. Februar 2011 - Rs. Siebenhaar.
2. Germann, Michael, Art. 140 Rdn. 31.1. In: Epping, Volker; Hillgruber, Christian (Hrsg.): Grundgesetz-Kommentar. München : Beck, 2009.
3. Hesse, Konrad: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Heidelberg : C.F. Müller, 20. Auflage 1995, Rdn.72.
4. Joussen, Jacob: Grundlagen, Entwicklungen und Perspektiven des kollektiven Arbeitsrechts der Kirchen. In: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 46 (2012), S. 53 (96f.).
5. Zum Beispiel in der ehemaligen Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, also einem Teil der heutigen "Nordkirche".