Berufliche Förderung in der Erziehungshilfe lohnt sich
Kinder und Jugendliche, die im Rahmen der Erziehungshilfe gefördert werden, haben wie alle jungen Menschen alterstypische Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Den 14- bis 18-Jährigen stellen sich Aufgaben wie Berufsorientierung, Schulabschluss, Berufswahlentscheidung und Einmündung in eine Ausbildung. Bei 18- bis 21-Jährigen stehen unter anderem das erfolgreiche Absolvieren der Berufsausbildung und die Integration auf dem Arbeitsmarkt im Mittelpunkt.
Es liegt auf der Hand, dass die Erziehungshilfe-Klientel über deutlich ungünstigere Bewältigungsmechanismen verfügt, die genannten Bildungsaufgaben umzusetzen, als Gleichaltrige mit gesicherten sozialen und psychischen Ressourcen. Somit ergibt sich die Forderung, Erziehungshilfen mit Bildungsangeboten derart zu verknüpfen, dass benachteiligte Kinder und Jugendliche sowohl sozialpädagogisch und gegebenenfalls therapeutisch begleitet werden als auch Unterstützung bei ihren schulischen und beruflichen Aufgaben erhalten. Dabei sind insbesondere die Übergänge von der allgemeinbildenden Schule in die Berufsausbildung und von der Ausbildung in Beschäftigung nachhaltig abzusichern.
Die folgenden Überlegungen und Ansätze basieren auf dem Konzept der Johannesburg GmbH in Surwold (nordwestliches Niedersachsen). Diese Jugendhilfe-Einrichtung hält im Rahmen differenzierter erzieherischer Hilfen attraktive schulische und berufliche Förderangebote vor. Sie bietet in ihren eigenen Ausbildungsstätten 43 verschiedene Berufe an. Zudem verfügt sie über eine eigene Förderschule mit dem Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung sowie über eine interne berufsbildende Schule. Die Erziehungshilfen werden passgenau in voll- oder teilstationärer und ambulanter Form vorgehalten und können im Einzelfall therapeutisch ergänzt werden.
Berufsorientierung, Berufsvorbereitung und Berufsausbildung bietet die Johannesburg im organisatorischen Gesamtzusammenhang an. Somit können die Schüler(innen) unter Beibehaltung der eingeleiteten Erziehungshilfen die schulischen und beruflichen Förderwechsel ohne Brüche vollziehen, die Bildungsbegleitung bleibt in einer Hand.
Berufsorientierung dank praktischer Erfahrungen
Der Begriff der "Ausbildungsnot" hat sich in den letzten Jahren ins Gegenteil verkehrt: Waren früher junge Menschen in Nöten, die angesichts von fehlenden Voraussetzungen und einem unzureichenden quantitativen Angebot große Mühe hatten, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, so haben heute die Betriebe ein Problem: Nur schwer finden sie geeignete Bewerber(innen) für die Ausbildung. Dies ist der demografischen Entwicklung geschuldet, aber auch der nach wie vor aus Sicht der Wirtschaft nicht ausreichenden Ausbildungsfähigkeit der Schulabgänger(innen).
Andererseits liegt gerade in der Umsetzung attraktiver Konzepte der Berufsorientierung bei schulmüden und schulresistenten Jugendlichen die große Chance, Bildungsmotivation zu wecken. Junge Menschen in der Erziehungshilfe mit negativen Schulerfahrungen benötigen das praktische Tun im Schulalltag. In der Johannesburg gehen deshalb die Klassen 7 bis 9 der Förderschule seit Beginn der 1980er Jahre an jedem Vormittag für zwei Stunden ins Praxisprojekt in einer Ausbildungswerkstatt. Nach etwa drei Wochen ist das Projekt in einer Werkstatt abgeschlossen und die Klasse wechselt die Ausbildungsstätte.
Zu ihren gesammelten Praxiserfahrungen erhalten die Schüler(innen) kontinuierlich Rückmeldungen bezüglich ihrer Stärken und Potenziale. Zudem lassen sich über die Projekte in den Ausbildungsstätten die vorgeschriebenen theoretischen Lerninhalte sinnhaft mit Praxiseindrücken verknüpfen. Für viele, die über zwei oder drei Jahre dieses System der Praxisphasen durchlaufen haben, ist die Berufswahlentscheidung oft nur noch "Formsache". Dennoch sind für die Jugendlichen nach wie vor zwischengeschaltete Maßnahmen der Berufsorientierung notwendig.
Berufsvorbereitung - nah am Betrieb, um wirksam zu sein
Maßnahmen der Berufsvorbereitung werden in der Regel ein- oder auch zweijährig einer beruflichen Erstausbildung vorgeschaltet. Sie haben generell einen eher negativen Ruf und werden in einem Übergangssystem zwischen allgemeinbildender Schule und Berufsausbildung als "Warteschleifen" bezeichnet, die den jungen Menschen hinhalten, vertrösten, aber nicht wirklich fördern. Für die Klientel in der Erziehungshilfe gilt jedoch, dass nach Ende der Schulpflicht an der allgemeinbildenden Schule oft noch nicht die Voraussetzungen vorliegen, um passgenau in eine Berufsausbildung einzumünden.
Damit die Berufsvorbereitung nicht zu einer demotivierenden Warteschleife verkommt, ist die Frage ihrer Gestaltung von immenser Bedeutung. In der Johannesburg ist die Berufsvorbereitung deshalb praxis- und betriebsnah strukturiert. Die an ihr Teilnehmenden werden in die bestehenden Ausbildungsstätten integriert und in die produktiven Aufträge eingebunden. Sie stehen damit in direktem Kontakt zur eigentlichen Ausbildung und werden auch in Teams mit Auszubildenden eingesetzt. Auf diese Weise verwischen sich die Grenzen zwischen Berufsvorbereitung und Ausbildung: Die Betroffenen wähnen sich nicht in einer Warteschleife, sondern fühlen sich als integrierter Teil der beruflichen Gesamtförderung. Im Verlauf der Berufsvorbereitung gehen die Jugendlichen auch in betriebliche Praktika.
Der theoretische Unterricht während der Berufsvorbereitung geschieht in überschaubaren Abschnitten über die Woche verteilt, er wird größtenteils von Ausbilder(inne)n mit Lehrbefähigung im Werkstattbereich vermittelt.
Berufsausbildung - in der Einrichtung, wenn nötig
Sollten junge Menschen, die sich in Maßnahmen der Erziehungshilfe befinden, ihre berufliche Erstausbildung in außerbetrieblicher Form erhalten, oder können sie - mit flankierender Unterstützung1 - einen regulären Ausbildungsplatz besetzen? Greifen doch die Betriebe angesichts der erwähnten "neuen" Ausbildungsnot auch auf junge Menschen als Auszubildende zurück, die sie in Zeiten einer Bewerberfülle nicht eingestellt hätten.
Michael Macsenaere vom Institut für Kinder- und Jugendhilfe in Mainz hat stichprobenhaft Auszubildende verglichen, die ihre Ausbildung im Rahmen von Hilfen nach § 34 SGB VIII heimintern oder aber heimextern erhielten (Stichprobengröße 552 versus 591). Hinsichtlich der Ausgangslage ist er zu dem Schluss gekommen, dass die Klientel mit interner Ausbildung eine deutlich höhere Symptombelastung aufwies und niedrigere Ressourcen mitbrachte als die Vergleichsgruppe mit externer Ausbildung.2 Vor diesem Hintergrund hatten die Teilnehmer(innen) der heiminternen Ausbildung eine ungünstigere Prognose bezogen auf einen geglückten Ausbildungsabschluss; anders ausgedrückt: sie waren in ganz besonderem Maße auf die interne Ausbildungsvariante angewiesen.
Trotzdem konnte Macsenaere empirisch nachweisen, dass es gerade bei einer heiminternen Ausbildung positive Effekte gibt.3 Diese bezogen sich nicht nur auf den formalen Ausbildungserfolg, sondern auch auf die Reduzierung von Symptomen, die für die Einleitung einer Hilfe nach § 34 SGB VIII vormals maßgeblich waren (beispielsweise Schulangst, schulische Leistungsschwäche, Unselbstständigkeit, Delinquenz und soziale Unsicherheit).4 Dieses Ergebnis deckt sich mit meinen jahrzehntelangen Erfahrungen mit einer einrichtungsinternen Berufsausbildung in der Johannesburg. Die Arbeit mit "bildungsfernen" Jugendlichen, die an schulischen und beruflichen Regelangeboten gescheitert sind, erfordert ein ganzheitliches Konzept von Erziehung und Bildung aus einer Hand. Erziehung ist die Basis für Bildung, und erfolgreiche Bildungsabschlüsse erlauben weitere Erziehungsschritte - ein Kreislauf, der sich bei gelingender Sozialisation immer mehr beschleunigt. Die oben gestellte Frage, ob eine Ausbildung bei typischer Erziehungshilfe-Klientel nur heimintern oder in einem regulären Betrieb ablaufen kann, ist nicht als kategorisches Entweder-oder zu beantworten. In den Ausbildungsstätten der Johannesburg wird Betriebsnähe umgesetzt durch die Abwicklung von Aufträgen, nicht selten durch explizite Aufträge von Wirtschaftsunternehmen der Region. Die Einrichtung unterhält ein Netzwerk mit über 300 Betrieben im Umfeld. Dieses Netzwerk wird auch eingesetzt bei Praktika, bei der Übernahme von Ausbildungsverhältnissen, die vorher außerbetrieblich abgeschlossen waren, und durch die Übernahme der jungen Menschen nach Ausbildungsabschluss.
Das Ziel: Vermittlung auf den Arbeitsmarkt
Der Versuch, junge Menschen mit Benachteiligungen im Rahmen des SGB VIII auch beruflich zu fördern, ist nicht mehr allein sozial motiviert, sondern befriedigt auch aktuelle Bedürfnisse der Wirtschaft. Der Fachkräftemangel muss dazu führen, dass auch für Jugendliche, die auf den ersten Blick als "bildungsfern", wenn nicht gar "bildungsresistent" erscheinen, alle Anstrengungen unternommen werden, um sie zu qualifizieren. In den letzten Jahren sind in der Johannesburg im Durchschnitt 75 bis 80 junge Menschen zum Ausbildungsabschluss geführt worden (neben der Förderung nach SGB VIII bietet die Einrichtung auch Qualifizierung nach den Möglichkeiten des SGB II und SGB III an). Die Vermittlungsquote nach Ausbildungsabschluss liegt bei circa 70 Prozent mit steigender Tendenz. Auch die Eingliederung von Ausbildungsabschlüssen nach § 66 Berufsbildungsgesetz (sogenannte "Werker-, Bearbeiter- oder Fachkraft-Berufe") gelingt immer besser. Nimmt man die Integration auf dem 1. Arbeitsmarkt als ein entscheidendes Kriterium für gelungene Teilhabe, so kann ein einheitliches Bildungsmanagement-System, das die Übergänge von Schule, Berufsvorbereitung, Berufsausbildung und Arbeit ganzheitlich regelt, dieses Ziel in besonderer Weise unterstützen - denn es wirkt präventiv.
Anmerkungen
1. Zum Beispiel durch ausbildungsbegleitende Hilfen.
2. Macsenaere, Michael: Klientel der Beruflichen Bildung. Unveröffentlichte Präsentation. Mainz : Institut für Kinder- und Jugendhilfe, 2010.
3. Ebd.
4. Ebd.