Auch alte Menschen wünschen Nähe
Sexualität in der Altenpflege ist nicht "cool" zu besprechen. Das wurde schnell deutlich innerhalb der Runde, die sich zum gleichnamigen Seminar der Caritas-Akademie für Gesundheits- und Sozialberufe, Freiburg, angemeldet hatte. 20 Teilnehmer(innen) aus der Altenpflege trafen sich zu dem Thema im Franz-Völker-Haus in Mannheim. Die Teilnehmenden kamen aus verschiedenen Einrichtungen und waren Pflegefachkräfte, Schüler(innen), Wohnbereichsleiterinnen und eine Leiterin des Sozialdienstes. Ihre Arbeitsfelder sind der ambulante Dienst, das betreute Wohnen und die stationäre Altenhilfe. Der jeweilige persönliche Erfahrungsbereich mit der Thematik war also sehr facettenreich.
Sexualität im Alter ist ein Tabuthema, das auch in der Gruppe tabuisierte Gefühle provozierte. Uns alle betreffen Sexualität und die alterstypischen Veränderungen, die damit verbunden sind. Das Sprechen darüber fiel den Teilnehmenden anfänglich schwer, weil eigene Erfahrungen (die vielleicht nicht immer glücksspendend waren) wachgerufen wurden.
Andererseits ist das Thema Sexualität täglich präsent. In Zeitschriften, im Fernsehen, im Internet, auf Plakaten, in Filmen und in der Literatur. Besonders in der Werbung wird vieles sichtbar - öffentlich, zum Teil obszön und provokativ dargestellt. Die Models werden immer jünger - denn der alternde Körper ist nicht werbeträchtig. Trotz aller Offenheit (bei jungen Menschen), über Sexualität zu reden, wird über Liebe und Sex im Alter wenig gesprochen, schon gar nicht bei der älteren Generation. "Wir haben nie (auch nicht in unserer Ehe) darüber gesprochen" - solche Sätze sind oft von älteren Menschen zu hören. Sich gegenseitig Wünsche und Vorlieben mitzuteilen, wäre undenkbar gewesen. Dominant war: "Was werden denn die Leute sagen?", und so wurde geschwiegen, um ja kein "Lustgreis" oder eine "schamlose Alte" zu sein. Lange Zeit wurde die lebensfeindliche Lüge aufrechterhalten, dass Sexualität ausschließlich mit jungen und schönen Körpern verknüpft sei.
Tatsache ist aber, dass alte Frauen und Männer genauso verliebt, eifersüchtig, schüchtern und leidenschaftlich sind. Sie sind keine asexuellen Wesen. Wissenschaftlich betrachtet gibt es keine Altersgrenze, um sexuelle Bedürfnisse auszuleben. Das hat so manche historische Persönlichkeit vorgelebt, beispielsweise der Dichter Johann W. von Goethe, der Schriftsteller Victor Hugo, der Arzt Samuel Hahnemann oder der Schauspieler Charly Chaplin, um nur einige zu nennen.
Auch alte Menschen verlieben sich
Wenn dennoch Beziehungen zwischen älteren Menschen entstehen - und wir können sicher sein, dass es so ist - und sie werden öffentlich, dann werden die Alten belächelt oder nicht ernst genommen. Nicht selten werden solche Paare auch Zielscheibe von Spott und eindeutigen Witzen ("je oller - je doller").
In der Altenpflege entwickelt sich bei Pflegenden manchmal eine einseitige Perspektive vom Alter und den damit verbunden Bedürfnissen und Vorlieben. Vermutlich liegt es daran, dass die Konfrontation mit den Schattenseiten des Alters wie Pflegebedürftigkeit zu dieser Sichtweise führt. Der Körper verliert seine begehrenswerten Eigenschaften, unter anderem auch dadurch, dass er häufig sichtbar wird, beispielsweise beim Baden und Duschen.
Wie eingangs erwähnt, wirft uns dieses Thema auch stark auf uns selbst zurück und es kann sein, dass der Anblick des alternden Körpers uns mit unserer Endlichkeit konfrontiert und uns dadurch zu ungewünschter Trauerarbeit zwingt. Darum wird es verständlich, dass sich viele Sexualität im Alter nicht vorstellen wollen. Denn wir wollen ja nicht mit den Einschränkungen des Alters konfrontiert werden. Darum wurde dieses Thema bisher verdrängt oder verleugnet.
In einem Klima von Akzeptanz, persönlicher (mutiger) Offenheit und fachlicher Wertschätzung kamen innerhalb des Seminars die "Geschichten" auf den Tisch. Es wurde von peinlichen und zum Teil schambesetzten Erlebnissen berichtet wie dem Stören von Bewohner(inne)n, die gerade miteinander intim waren, dem Überraschen von Bewohnern bei der Selbstbefriedigung und Ähnliches.
Frauen sind mit übergriffigem Verhalten konfrontiert
Auch sexualisierte Begegnungen, grenzüberschreitendes Verhalten oder belastende obszöne Situationen wurden besprochen und zusammen nach angemessenen Reaktionsmöglichkeiten gesucht. Dabei wurden die (sexuellen) Bedürfnisse der Bewohner(innen) einerseits und der Mitarbeiterschutz andererseits berücksichtigt. Über Fotos, die Nähe von älteren Menschen ausdrückten, fand in der Gruppe ein Angleichen über die Begrifflichkeit Sexualität statt. Verschiedene Ebenen und präventive Strategien können Pflegekräften Sicherheit im Umgang mit Sexualität in pflegerischen Beziehungen vermitteln (siehe Kasten oben). Weitere inhaltliche Schwerpunkte waren
- Drei-Kreise-Modell der Sexualität nach Paul Sporken (Sexualität ist mehr als der Geschlechtsakt; sie umfasst alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens und Empfindens);
- Dimension von Sexualität aus biologischer, psychologischer, sozialer Sichtweise;
- Sexualität als Lebenssinn;
- Einengung des Begriffes Sexualität;
- Sexualität im Alter;
- Ineinandergreifen von der Berufswelt, Privatwelt und Heimwelt;
- Intimsphäre und Regression;
- Bedeutung von Intimität und Nähe. Hier wurde herausgearbeitet, dass es verschiedene Formen von Nähe gibt: erstens Nähe, die Vertrauen schafft und näherbringt ("holding"); zweitens aufdringliche Nähe, die direkt und invasiv ist (zum Beispiel bei der Intimpflege), also eine erzwungene Nähe, die eher Distanz schafft, sowie drittens sexuelle Übergriffe und Grenzüberschreitungen: Nähe, die mehr (zu viel) will.
Durch Körperübungen wurden die Teilnehmer(innen) zu den verschiedenen Formen von Nähe sensibilisiert. Erlebte Situationen wurden in Kleingruppen besprochen, in kollegialer Beratung reflektiert und angemessene Handlungsstrategien entwickelt. Besondere Beachtung fanden dabei übergriffige Nähewünsche von demenziell erkrankten Bewohner(inne)n. Schwerpunkt war, die Handlungsfähigkeit der Pflegekräfte zu erhalten. Dies mündete in einer Übung, in der die Teilnehmenden exemplarisch trainieren konnten, sich deutlich abzugrenzen und zweifelsfreie Botschaften bei sexualisierten Begegnungen angemessen auszudrücken, beispielsweise wenn ein männlicher Bewohner sich im Beisein einer weiblichen Pflegekraft selbst befriedigen möchte, weil sie ihn an seine verstorbene Frau erinnert. Eine idealtypische Reaktionskette von der Pflegekraft könnte sein:
- den Wunsch wahrnehmen, nicht überhören oder überspielen!
- in Kontakt mit den eigenen Gefühlen kommen; was genau stört mich an der Situation? Schäme ich mich oder ärgere ich mich?
- um Einfühlung und Verständnis für den Wunsch des Bewohners bemüht sein;
- sich entscheiden, zum Beispiel dass dies nicht mein professioneller Auftrag ist und mich zudem auf der persönlichen Ebene zu stark negativ berührt;
- die konkrete Situation benennen, wie "Herr XY, ich sehe ..., denke mir ..., kann mir teilweise vorstellen, dass ...";
- die Situation bald beenden, nicht diskutieren;
- zweifelsfreie Wortwahl verwenden und Entschiedenheit durch Körpersprache ausdrücken, beispielsweise "Ich möchte das nicht! Ich respektiere Ihr Bedürfnis und werde jetzt rausgehen!"
- sich im Team entlasten, davon den Kolleg(inn)en erzählen, die eigene Betroffenheit schildern, ohne geringschätzende Zuschreibungen für den Bewohner zu verwenden;
- zu einem günstigen Zeitpunkt die peinliche Situation mit dem Bewohner nachbereiten, dabei Verständnis ausdrücken (wenn es ernst gemeint ist!) und überlegen, wie das dahinterliegende Bedürfnis anders zu befriedigen sei, beziehungsweise wie in Zukunft damit umgegangen werden soll.
Deutlich wurde, dass Strategien für den Eigenschutz und für eine angemessene Abgrenzung höchst individuell sind wie das Thema Sexualität selbst. Für die eine Person mag es hilfreich und passend sein, eine sexualisierte Situation mit Humor zu "entschärfen". Andere wählen eine deutliche verbale Abgrenzung. Bei aller Problematik war es positiv zu sehen, wie sich die Teilnehmer(innen) mit respektvoller Offenheit für eine würdevolle Sexualitiät im Alter engagieren.