Farbspritzer am Rollstuhl erinnern an integratives Künstlerleben
38 Menschen mit und ohne Behinderung trafen sich Ende Februar 2011 für zwei Tage in den Räumen der Galerie Münsterland in Emsdetten. Sie wollten künstlerisch arbeiten und dadurch in einen Dialog miteinander treten, wie er oft nur über das Medium Kunst möglich ist: frei von Vorurteilen, interessiert an den schöpferischen Möglichkeiten der unterschiedlichsten Techniken.
Im Rahmen des bundesweiten Kunstprojekts "b.kunst" der Caritas1, in dem sich Künstler mit und ohne Behinderung begegnen, hat der Fachbereich "Hilfen für Menschen mit Behinderungen" des Caritasverbandes Emsdetten-Greven neben den wöchentlich kreativen Angeboten drei integrative Kunstworkshops geplant. Initiiert von der Teilhabeinitiative des Deutschen Caritasverbandes zielt "b.kunst" darauf ab, selbstbestimmte Teilhabe durch einen künstlerischen Dialog zu ermöglichen2. Die Emsdettener Workshops in den Sparten Malerei, Druckgrafik und Skulptur sollen vor allem Gelegenheit für einen Austausch zwischen Menschen mit und ohne Behinderung über das in den Workshops Geschaffene bieten.3
Von Anfang an großes Interesse
Für die Durchführung der Workshops konnten sehr engagierte Kooperationspartner gewonnen werden:
- die Galerie Münsterland mit ihrer Kuratorin Andrea Brockmann, die dem Caritasverband beratend zur Seite steht und die Galerie für den Malereiworkshop sowie für die Abschlusspräsentation zur Verfügung stellte;
- der Fotoclub "Kreativ", dessen Mitglieder das Projekt fotodokumentarisch begleiteten und hervorragende Bilder des Malereiworkshops gemacht haben;
- das Künstlerehepaar Dresemann, welches den Malereiworkshop geleitet hat und auch die noch ausstehenden Workshops ehrenamtlich begleiten wird.
Das Interesse an den Workshops war von Anfang an sehr groß. Ein gezieltes Anschreiben kunstinteressierter, regional ansässiger Personen sowie ein Zeitungsartikel über die Zielsetzung des Projektes und die Ankündigung der Workshops reichten aus, um schon nach kurzer Zeit 34 Anmeldungen allein für die Malerei zu verbuchen, davon 16 Personen mit und 18 ohne Behinderung. Zum hier beschriebenen Workshop kamen 29 Kunstinteressierte.
Hier geht es nicht um Malen nach Zahlen
Schon deutlich vor Beginn um zehn Uhr fanden sich die ersten Teilnehmer(innen) in der Galerie ein. Die beiden insgesamt 400 Quadratmeter großen, für künstlerische Aktivitäten präparierten Hallen ließen so manchen staunen: zwei ehemalige Maschinenhallen einer vor über hundert Jahren in Betrieb genommenen und inzwischen stillgelegten Weberei mit über 120 laufenden Metern Wandfläche und einer Raumhöhe von bis zu zwölf Metern. Arbeitstische und Staffeleien, ganze Batterien von Farbflaschen, Gläsern, Pinseln, Malgründen und allerlei Hölzer, Steine, Sand und weitere Materialien luden zur künstlerischen Arbeit ein. All das machte deutlich: Es wird in den zwei Tagen nicht um "Malen nach Zahlen" gehen. Nur durch das Einbringen der eigenen Persönlichkeit scheint man diesem stillen, aber wirkungsvollen Aufruf zu künstlerischer Arbeit gerecht werden zu können.
Neben der kreativpädagogischen Arbeit liegt einer der weiteren konzeptionellen Schwerpunkte des Caritas-Fachbereichs "Hilfen für Menschen mit Behinderungen" in der Arbeit mit hörgeschädigten Menschen. So wurde beim Begrüßungskaffee und ersten Kontakten im Workshop schnell klar, dass sich vor Ort auch Hörgeschädigte und gehörlose Personen unter den Teilnehmer(inne)n befanden. Die allgemein positive, erwartungsfreudige Stimmung ließ die Vermutung zu, dass sich einige der hörenden Anwesenden in der für sie noch unbekannten Gebärdensprache versuchen würden: "Guck mal, die können mit den Händen reden" war dann auch ein oft gehörter Satz. Wieder andere fielen durch ihr umfangreiches Fotoequipment auf: Mitglieder des Fotoclubs "Kreativ", die sich besondere Motive erhofften.
Selbstverständlich alles in Gebärdensprache übersetzt
Das Thema der beiden Tage lautete "Kontraste". Es orientierte sich damit an einem der grundlegenden Kriterien von Wahrnehmungsfähigkeit. Es ließ genügend Spielraum für Interpretationsmöglichkeiten, ohne willkürlich zu sein. So wurde bei der Einführung auf spielerische Weise der Begriff "Kontrast" erläutert. Anhand von Otto Waalkes’ ostfriesischer Nationalflagge "Weißer Adler auf weißem Grund" konnte schon mal geklärt werden, was Kontrastlosigkeit bedeutet. Von dort ging es schnell zum Schwarz-Weiß-Kontrast und zu allgemeinen Farbkontrasten. Auch die unterschiedlichen Formkontraste wurden in einem witzig ironischen Dialog zwischen dem Künstler Uwe Dresemann und dem Autor erläutert. Selbstverständlich wurde alles in die Gebärdensprache übersetzt.
Mit der Empfehlung, die genannten Kontraste auszuprobieren oder - noch besser - selber welche zu erfinden, begann für die Teilnehmer(innen) der praktische Teil des Workshops.
Als Malgrund waren Dämm- und Bauplatten ausgesucht worden, die sich leicht auf jede beliebige Größe zuschneiden ließen. Überwiegend wurde mit Acrylfarbe gearbeitet, aber auch Aquarellfarben und Kreiden für grafische Elemente wurden bereitgehalten. Außerdem konnten und sollten noch zahlreiche andere Materialien genutzt werden: Sand, Kies, Stöcke, Knochen, Stoffe, Federn und vieles mehr.
Ungebremste Experimentierfreude
Während offenbar keine(r) der Teilnehmer(innen) Hemmungen hatte, Farbe mit Pinsel oder Spachtel aufzutragen, mussten viele vom experimentellen Einsatz von Sand und den anderen genannten Werkstoffen überzeugt werden. Anfangs schreckten viele davor zurück, beispielsweise Holzspäne auf eine Farbfläche zu streuen oder Stöcke in die Bildgestaltung mit einzuarbeiten. Waren diese anfänglichen Hemmungen aber erst überwunden, setzte bei vielen eine ungebremste Experimentierfreude ein. Das inzwischen angelieferte Mittagessen kam einigen viel zu früh…
Nach dem Essen wurde die Arbeit - verständlicherweise etwas träge - mit einem Rundgang durch die Hallen wieder aufgenommen. Die meisten hatten schon gesehen, was ihr Nachbar gestaltet hatte, der Rundgang komplettierte nun diese Übersicht. Viele verschiedene Ansätze und Herangehensweisen waren zu sehen: großflächig angelegte Arbeiten und kleine Formate, rein malerische und grafisch betonte Blätter, differenziert Ausgearbeitetes und großzügig Aufgetragenes. Das Ungegenständliche überwog.
Es fand ein erster intensiver Austausch über bisher Geschaffenes statt. Die Akteure führten sich gegenseitig zu ihren Arbeitsplätzen, fanden plötzlich Worte und Beschreibungen für das vorher intuitiv Gestaltete und alle befanden sich unversehens in einer komplexen Kommunikationsstruktur: Künstler - Werk - Betrachter - Künstler. Ein Nebeneffekt war - wenn es überhaupt der Erwähnung bedarf -, dass die Frage nach Behinderung oder Nicht-Behinderung überhaupt keine Rolle spielte. Allem voran stand jetzt die Kommunikation über die Substanz des Gemachten einerseits und des Erlebten andererseits. Erste Absprachen zu Gemeinschaftsarbeiten wurden getroffen und auf den nächsten Tag terminiert. Eine gute Stunde vor Schluss beendeten die meisten ihre Arbeiten oder saßen bereits vor ihrer zweiten oder dritten, wieder andere umlagerten die Fotografen, weil viele sich die Fotos auf den Kameradisplays anschauen wollten.
Gruppenarbeit und intensive Kommunikation
"Das ist toll! Sieht richtig gut aus!" Kira war begeistert von dem Anblick, der sich ihr am Morgen des zweiten Tages beim Betreten der Galerie bot: Die inzwischen durch sichtbare künstlerische Gebrauchsspuren veredelte Galerie und die aufgereihten Arbeiten boten einen beeindruckenden Rückblick auf den vergangenen Tag. Während des Begrüßungskaffees wurden die Werke noch einmal besprochen, was bei vielen den Wiedereinstieg in die produktive Tätigkeit auslöste.
Einige Teilnehmer(innen) bevorzugten weiterhin das Arbeiten für sich, während sich andere gleich auf Gruppenarbeit verlegten. Die Kunstschaffenden, auch Hörende und gehörlose Menschen, kommunizierten nun in Gruppen über Größe, Technik, Anzahl der Bildteile - beispielsweise Diptychon oder Triptychon - und legten die gemeinsame Vorgehensweise fest. Die Gruppen, die sich zur Gemeinschaftsarbeit gefunden hatten, waren gemischt; sowohl was den Männer- und Frauenanteil als auch die Behinderung oder Nicht-Behinderung betraf. Auffällig war eher, dass sich die Beteiligten nach Alter sortierten.
"Wie hält das Stück Holz bloß auf der Leinwand, wie hast du das denn gemacht?", fragt Klaus seinen Staffeleinachbarn Dieter, einen erfahrenen Hobbykünstler aus der Nachbarstadt. Dieser reicht ihm die Dose mit Strukturpaste und erklärt Klaus die Anwendungsmöglichkeiten. So wie Klaus und Dieter arbeiteten einige Künstler noch allein für sich, tauschten sich aber untereinander aus, schauten sich Techniken ab, gaben Erfahrungen stolz an Dritte weiter und bauten ihre Bereitschaft zum Experiment weiter aus.
"Ich könnte morgen sofort weitermachen"
Die meisten hatten inzwischen erkannt, dass die Intensität, mit der an einem Werk gearbeitet wurde, diesem deutlich zugutekam - ja, es sogar ausmachen konnte. Intensität durch Hingabe war denn auch zunehmend zu beobachten. Oft wurden Methoden des Farb- oder Materialauftrags gewählt, von denen die Akteure zu Beginn des Workshops nicht im Traum gedacht hätten, dass sie möglich seien, geschweige denn von ihnen angewandt werden würden.
Gegen Ende des zweiten Tages gab es eine kleine Präsentation, und jede(r) Künstler(in) und jede Künstlergruppe stellten seine/ihre Werke vor. Bei der Verabschiedung in großer Runde war die Erschöpfung aller Beteiligten spürbar, genauso aber auch die Zufriedenheit über das Erlebte und Erarbeitete. "Ich fand es gut, dass so viele Künstler zusammengearbeitet haben. Ich könnte sofort morgen weitermachen." Tanja kümmert sich nicht um die Farbspritzer an ihrem Rollstuhl. "Die erinnern mich an den Workshop, bis sie wieder abgehen." Auch Thomas ist begeistert: "Ich wusste erst gar nicht so richtig, wie malen geht. Ich bin froh, dass ich mitgemacht habe. Und viele nette Leute habe ich kennengelernt, mit denen ich wieder malen will." Eine baldige Wiederholung des Workshops wurde von allen gewünscht und es gab Vorschläge aus den Reihen der Künstler(innen), diesen eventuell durch Verkäufe bei der Abschlusspräsentation zu finanzieren.
Zwei gehörlose Klienten fassten am Tag darauf ihre Eindrücke so zusammen: "Die großen Gemeinschaftsarbeiten fand ich am besten! Durch das viele Guckenmüssen von allen, die da waren, haben die Hörenden den Vorhang zwischen uns und ihnen fallengelassen."
Anmerkungen
1. Gefördert durch Aktion Mensch.
2. Neben den dezentralen Ausstellungen der elf b.kunst-Partner gibt es drei zentrale, zu denen sie ausgewählte Werke beigetragen haben: Galerie Schuster, Berlin (9.9.-22.10. 2011), Lorenz-Werthmann-Haus, Freiburg (14.11.-30.12.2011), EU-Parlament, Brüssel (31.1.-2.2.2012). Der Berliner Ausstellungskatalog "Inklusiv" erscheint im Lambertus-Verlag (ISBN: 978-3-7841-2056-0).
3. Die bundesweit elf an b.kunst teilnehmenden Caritaseinrichtungen entwickelten vergleichbare Workshops wie in Emsdetten mit vielfältigen Rahmenangeboten, beispielsweise durch Einbeziehen der darstellenden Kunst (Tanz, Theater, Musik). Im Vordergrund aller Aktivitäten stand die Möglichkeit zu kultureller und sozialer Teilhabe.