Verlängerung über die WM hinaus
Sie gilt gleichermaßen als globaler Event, als Tribüne der Völkerverständigung, als milliardenschweres Geschäft und als sportliches Großereignis: die Fußball-Weltmeisterschaft. Erstmals findet das Weltereignis in diesem Jahr auf dem afrikanischen Kontinent statt. Mancher in Südafrika hegt große finanzielle und sportliche Erwartungen, andere befürchten nach der WM ein tiefes Loch.
„Catholic Welfare & Development“ (CWD), die Caritas-Partnerorganisation in Südafrika, steuert beidem entgegen – denn sie blickt über das Ereignis hinaus. Im Verbund mit anderen Gruppen aus dem sozialen Bereich hat CWD das magische Datum „Juni 2010“ kurzerhand übersprungen und konzentriert sich auf die Zeit nach der WM. „Schaut nicht alle nur auf die WM! Macht euch Gedanken, wie es weitergehen soll! Denkt auch an die, auf die keine Fernsehkameras gerichtet sind!“, lautet der Tenor der daraus entstandenen „Kampagne 2011“.
Kurzfristig wittern Straßenhändler Geschäfte
Kurzfristig wittern Straßenhändler vor den Stadien und auf öffentlichen Plätzen gute Geschäfte. Getränke, Snacks, Fan-Utensilien oder Schmuck und Uhren – in Südafrika wird vieles direkt auf der Straße verkauft. Doch die Händler haben ihre Rechnung ohne den Fußball-Weltverband Fifa gemacht. Der nämlich ist bekannt für seine äußerst restriktive Marketingpolitik. Die Fifa hat Exklusivverträge abgeschlossen für alles, was irgendwie mit der Weltmeisterschaft zu tun hat. So muss jedes Bier, das gezapft und jede Wurst, die verkauft wird, von Fifa-Vertragspartnern kommen oder genehmigt werden. Die Einhaltung dieser Regeln wird streng kontrolliert durch die Marketing-Wächter des Verbandes. Wer dagegen verstößt, muss mit empfindlichen Strafen rechnen. Gegen dieses System wird die Kritik immer lauter. Doch die Fifa wiegelt ab. Man schütze lediglich die kommerziellen Partner, ließ die Organisation verlauten. Also werden die Straßenhändler aus dem Umfeld der Stadien vertrieben und Geschäftsinhabern im Bereich der offiziellen Fan-Parks wird vorgeschrieben, welche Produkte sie verkaufen dürfen und welche nicht.
Obdachlose und Straßenkinder werden vertrieben
Und damit nicht genug: Während der Weltmeisterschaft bleiben die Zonen um die Stadien auch für andere „störende“ Gruppen abgeriegelt: Obdachlose, Straßenkinder, Bettler und Prostituierte werden in die Randbezirke vertrieben. Hilfswerke für benachteiligte Kinder und Jugendliche befürchten große Rückschläge in ihrer Arbeit, die stark von der Kontinuität ihrer Betreuungsangebote abhängig ist. Streetworker und soziale Anlaufstellen werden ihre Klientel über Wochen nicht erreichen, wenn sie vorübergehend in ganz andere Stadtteile verbannt wird.
Manche soziale Organisationen empören sich über die Machenschaften der Fifa, andere verhandeln noch mit ihr. Und wieder andere lassen die Weltmeisterschaft einfach links liegen. So etwa CWD, dessen Büro mitten auf der Fanmeile in Kapstadt liegt.
Dabei ist Fußball ein wichtiger Bestandteil der Arbeit von CWD, kann man doch so viele Jugendliche erreichen. Schon 1995 begann die Organisation in Elsies River mit einem Jugendförderungsprogramm, um gegen das Hauptproblem des Vororts von Kapstadt, die Jugendkriminalität, anzugehen. Eines der Programme ist für die Jugendlichen gedacht, die die Schule abgebrochen und sich arbeitslos in Jugendbanden zusammengeschlossen haben. Diese Banden führen einen brutalen Kleinkrieg gegeneinander und sind häufig in kriminelle Machenschaften verwickelt.
Jugendliche vom Gruppenzwang der Banden lösen
„In unserem Projekt ‚Youth Unlimited‘“, sagt die CWD-Direktorin Lungisa Huna, „arbeiten wir mit Jugendlichen, die in Banden organisiert sind. Die Jugendlichen stecken dort zum Teil sehr, sehr tief in Gruppenzwängen und haben oft fast keine Chance, sich dem zu entziehen. Wir möchten den Jugendlichen andere Wege öffnen, sie entdecken lassen, wer sie selbst sind – ohne den Druck von ihren Gang-Führern. Zum Beispiel können sie bei dem Straßenkinder-Fußball-Projekt ganz neue Gruppenerfahrungen machen.“
Um Kontakt zu den Jugendlichen aufzunehmen, mietete die CWD zwei Sporthallen an und stellte sie ihnen zur Verfügung. Die Aufsicht übernahmen Streetworker. Jeden Tag kommen zwischen 50 und 100 Jugendliche. 80 Prozent von ihnen sind Bandenmitglieder. Es geht nicht nur darum, die Jugendlichen durch sportliche Herausforderungen von ihrem kriminellen Tun abzubringen. Der Raum mit einer sicheren und offenen Gesprächsatmosphäre soll ihnen einen Zugang zu Beratungsstellen ermöglichen. Den Sozialarbeitern geht es um bestehende Probleme, aber auch darum, die Jugendlichen in Ausbildungs- und Arbeitsplätze zu vermitteln. Pädagogisches Ziel ist es, den Jugendlichen das Gefühl zu geben, ein vollwertiges Mitglied in diesem offenen Jugendtreff zu sein und sie so aus ihren Banden zu lösen.
Die Projektleiter schätzen, dass sie im vergangen Jahr etwa 12.000 Jugendliche erreichten. Sei es als Teilnehmer einer Veranstaltung oder mit langen und intensiven Beratungen, Hausbesuchen und Erziehungsberatungen der Eltern. Die beratende Tätigkeit wird innerhalb Kapstadts und der Provinz Western Cape ausgebaut.
Auch die Mädchen sind verrückt nach Fußball
„Alle Kinder – auch die Mädchen – sind verrückt nach Fußball“, sagt auch Sandy Naidoo von Sinosizo, einer Partnerorganisation von Caritas international, die sich Aidswaisen widmet, „über das Spiel als Medium sind sie sehr gut zu erreichen. In das ganz normale Fußballtraining für Kinder ab acht Jahren werden immer wieder Trainingseinheiten integriert, die das Spiel zur Lern- und Lebenserfahrung nutzen.“ Das können kleine Rollenspiele am Rande des Spiels sein oder Regelabwandlungen beim Fußball selbst, bei denen die Kinder beispielsweise als Minderheit gegen eine größere Gruppe antreten müssen. „Die Kinder“, so Naidoo, „lieben diese Spiele und die überraschenden Wendungen.“
Den Eltern die Sorge um die Zukunft ihrer Kinder nehmen
Sinosizo betreut im südafrikanischen Durban Kinder, deren Eltern an Aids erkrankt oder gestorben sind. Etwa 1800 Kinder kommen momentan in die sechs Zentren des Sinosizo-Projekts, die in den Townships, den Armenvierteln rund um Durban, liegen. Noch zu Lebzeiten der Eltern besprechen die Mitarbeiter(innen) von Sinosizo mit den aidskranken Eltern, ihren Kindern und den Verwandten, wo die Kinder später untergebracht werden sollen. So stehen die Kinder nach dem Tod der Eltern nicht plötzlich allein da, und den kranken Eltern wird die Sorge um die Zukunft der Kinder genommen. Auch die Patenfamilie – meist die Familie der Schwester oder anderer Angehöriger – ist so auf die Schwierigkeiten, die auftauchen können, vorbereitet und kann sich auf weitere Unterstützung verlassen.
Vertrauen aufzubauen braucht viel Zeit
Wie Youth Unlimited ist auch Sinosizo ein Projekt, das die Kinder und Jugendlichen zunächst in oft langwierigen Prozessen erreichen muss. Vertrauen aufbauen, Kontakte knüpfen, über lange Zeit für sie da sein – das alles braucht viel Zeit. Viel Zeit braucht man in fast allen Bereichen der sozialen Arbeit. Dies mag ein Grund dafür sein, warum viele Mitarbeiter(innen) der Projekte sehr reserviert sind gegenüber der WM, in deren Umfeld viele das schnelle Geld suchen – mit der Betonung auf schnell.
Insofern ist die „Kampagne 2011“ nur konsequent. „Ich glaube“, sagt jedenfalls Sandy Naidoo, „den Menschen in Europa ist nicht so bewusst, wie groß die Armut hier ist. Wie viele Menschen hungern oder auch wegen Mangelernährung schwer krank sind. Die soziale Ungleichheit in Südafrika ist enorm.“ Und durch die Fußball-WM wird Südafrika nicht reicher, jedenfalls werden es die meisten Südafrikaner nicht.
Auch wenn die Hoffnung am Kap nicht erfüllt werden wird, dass der Fußball dem Land Reichtum bringt: Vielleicht bringt er ihm zumindest eine Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit, die länger anhält als den kurzen Sommer 2010.