Erst die Umsetzung zeigt die Güte der Reform
Nachdem vergleichbare Initiativen in den letzten Jahrzehnten wiederholt gescheitert waren, treten im Herbst (in einigen Bundesländern erst zur Jahreswende) unter dem Titel „Bedarfsorientierte Mindestsicherung“ neue Landesgesetze in Kraft, die die „offene Sozialhilfe alt“ ablösen. Die Notstandshilfe – als bedarfsgeprüfte, zeitlich unbefristete Leistung der Arbeitslosenversicherung und österreichisches Pendant zur abgeschafften deutschen Arbeitslosenhilfe – wird es daneben weiterhin geben. Politische Pläne, Sozialhilfe und Notstandshilfe zusammenzuführen, waren 2003 gescheitert.
Artikel 12 der österreichischen Bundesverfassung bestimmt, dass die Kompetenz zur Grundsatzgesetzgebung im Bereich „Armenwesen“ – und damit in der Sozialhilfe – dem Bund zufällt, während die Erlassung von Ausführungsgesetzen und die Vollziehung Landessache sind. Ein derartiges Grundsatzgesetz war aber in den Jahrzehnten der Zweiten Republik2 gegen den Widerstand der Länder bislang nicht durchzusetzen. In den 1970er Jahren haben die Bundesländer jeweils eigene Sozialhilfegesetze verabschiedet. Diese lehnten sich zwar ursprünglich an einen Musterentwurf an, wichen im Zuge von Novellierungen aber immer stärker voneinander ab, so dass es aktuell große Unterschiede in der Rechtslage gibt. Diese Unterschiede sind sachlich nicht gerechtfertigt und betreffen so wesentliche Bereiche wie Leistungshöhen, Regressbestimmungen und Vermögensverwertungspflichten.
Auf Initiative des Sozialministeriums wurde 2007 schließlich eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingerichtet, in der über einheitliche monetäre Mindeststandards, eine teilweise Harmonisierung und Weiterentwicklung in sonstigen Regelungsbereichen sowie eine neue Aufgabenverteilung zwischen Sozialhilfebehörden und Arbeitsmarktservice (dem österreichischen Pendant zur deutschen Bundesagentur für Arbeit) im Sozialhilfevollzug verhandelt wurde. Soziale Non-Profit-Organisationen (NPO) wurden nicht eingebunden. Weil ein Bundes-Grundsatzgesetz nicht durchsetzbar ist, wurde eine Umsetzung der Reform im Rahmen einer Vereinbarung gemäß Art. 15a der österreichischen Verfassung und damit eines Vertrags zwischen Bund und Ländern beschlossen.
Diese 15a-Vereinbarung liegt seit Ende April als Regierungsvorlage vor. Ihre Lektüre macht deutlich: Da die Vereinbarung den Ländern wesentliche Gestaltungsspielräume überlässt, wird es weiterhin kein einheitliches Sozialhilferecht geben. So lässt sie zum Beispiel offen, ob und in welcher Höhe die Länder die Leistung kürzen dürfen, wenn Personen im Eigenheim leben und keine Miete anfällt. Dem Landesgesetzgeber bleibt es auch überlassen, zu regeln, ob Landes-Beihilfen für das Wohnen zusätzlich gewährt oder aber angerechnet werden müssen. Weil aber derzeit3 erst teilweise Entwürfe für die einzelnen Landesgesetze vorliegen beziehungsweise nicht alle Bundesländer diese den Wohlfahrtsverbänden zur Begutachtung schicken, ist eine abschließende Einschätzung, welche Veränderungen es im zweiten und letzten Netz des österreichischen Sozialstaates geben wird, noch nicht möglich. Das Vorhaben, Teile des Vollzugs im Sinne eines One-Desk-Prinzips4 an den Arbeitsmarktservice zu übertragen, ist jedenfalls gescheitert.
Laut den von den Bundesländern gemeldeten Daten5 bezogen im Jahr 2007 152.500 Personen eine Leistung der offenen Sozialhilfe (bei einer Gesamtbevölkerung von 8,3 Millionen). Davon lebten 88.600, also mehr als die Hälfte, in Wien (Einwohnerschaft: 1,7 Millionen). Für die Geldleistungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht, wurden 328 Millionen Euro ausgegeben. Insgesamt (inklusive Krankenhilfe etc.) wurden für offene Sozialhilfe 554 Millionen aufgewendet (davon Wien: 268 Millionen). Das entspricht einem Anteil von 0,75 Prozent der österreichischen Gesamtsozialausgaben6 (2007: 73,5 Milliarden Euro).
Die Reform des Sozialhilfe-Systems wurde im politischen Junktim mit einer Stärkung der mindestsichernden Elemente in der Notstandshilfe und einer Einbeziehung der Bezieher(innen) in die gesetzliche Krankenversicherung gekoppelt. In der Konsequenz trägt der Bund die Hauptlast der durch die Reform entstehenden Kosten (budgetiert mit 131 Millionen Euro im Jahr). Die Mehrkosten aufseiten der Länder wurden mit insgesamt 50 Millionen Euro jährlich gedeckelt.
Das Neue der „Bedarfsorientierten Mindestsicherung“
Nun soll vieles anders werden: Die jahrelang verhandelte – und noch immer nicht letztgültig durch das Parlament beschlossene – Reform der „Sozialhilfe alt“ zur „Bedarfsorientierten Mindestsicherung“ umfasst dabei nur die offene Sozialhilfe, also jenen Bereich der Sozialhilfegesetze, die für Personen in Privathaushalten gelten. Im Rahmen dieses Artikels können nur die wesentlichsten Veränderungen dargestellt werden. Dabei gilt es zu bedenken, dass einige der „Neuerungen“ in einigen Bundesländern schon geltendes Recht oder zumindest geübte Praxis sind.
Leistungshöhe
An die Stelle von Teilleistungen (für Lebensbedarf, Wohnen, Energie) tritt eine pauschalierte Leistung. Diese orientiert sich in ihrer Höhe an der Ausgleichszulage in der gesetzlichen Pensionsversicherung, die ein finanzielles Existenzminimum in der Pensionsversicherung sichert und in diesem Jahr ein Monatsnetto von 744 Euro für einen Einpersonenhaushalt beträgt. Anders als in Deutschland kommt bei der Festlegung der Leistungshöhe kein Statistik-Modell zum Einsatz, sie erfolgt also letztlich „freihändig“. Ausgleichszulagen-Bezieher(innen) erhalten diese Leistung 14-mal jährlich, umgerechnet auf ein Jahreszwölftel also 868 Euro.
Die ursprünglichen Pläne sahen eine Gleichstellung der Bezieher(innen) von Bedarfsorientierter Mindestsicherung einerseits und Ausgleichszulage andererseits vor. Aufgrund des Widerstands des Finanzministeriums beziehungsweise der in Koalition mit der SPÖ regierenden ÖVP enthält der Entwurf für die 15a-Vereinbarung nunmehr keine 13. und 14. Leistung mehr, was einer Kürzung um 15 Prozent gleichkommt. Den Ländern bleibt es unbenommen, günstigere Bestimmungen vorzusehen. Dass sie regen Gebrauch davon machen werden, ist nicht zu erwarten.
Bei der Gewichtung der monetären Mindeststandards in Mehrpersonenhaushalten hat man jene Skala herangezogen, die bei der EU-Armutsberichterstattung7 zur Anwendung kommt. Entsprechend erhalten Alleinstehende und Alleinerziehende 100 Prozent des Ausgangswertes, Paare und Wohngemeinschaften je 75 Prozent pro Person, jede weitere erwachsene Person in der Bedarfsgemeinschaft 50 Prozent. Kinder erhalten 18 Prozent – zusammen mit der universellen, altersgestaffelten Familienleistung „Familienbeihilfe“, die nicht angerechnet werden darf, ergibt das circa 30 Prozent. Allerdings gilt man bei EU-SILC bis zum Alter von 14 Jahren als Kind, im Rahmen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung hingegen bis zum Erreichen der Volljährigkeit. Da kein Statistik-Modell angewendet wurde und es in der österreichischen Verfassung auch kein Sozialstaatsprinzip gibt beziehungsweise diese die Würde des Menschen nicht schützt, ist nicht zu erwarten, dass die höchsten Gerichte die Richtsätze in ähnlicher Weise „kippen“, wie dies im Februar durch das deutsche Bundesverfassungsgericht für die Hartz-IV-Regelsätze geschehen ist.
Verschlechterungsverbot
In einigen Ländern (zum Beispiel Salzburg, das derzeit aufgrund hoher Mieten vergleichsweise hohe Teilleistungen für das Wohnen kennt) würde es mit der Reform zu teilweise beträchtlichen Leistungskürzungen gegenüber dem Status quo kommen. Deshalb sieht der Entwurf der 15a-Vereinbarung ein Verschlechterungsverbot vor, wonach „das derzeit bestehende haushaltsbezogene Leistungsniveau nicht verschlechtert werden“ darf. Es bleibt abzuwarten, wie dieses Verschlechterungsverbot von Landesgesetzgebern interpretiert wird. Das heißt, ob es nur für laufende Bezüge oder auch für Neuanträge zur Anwendung kommt. Pessimismus scheint angebracht: Die bereits vorliegenden Entwürfe für Landes-Mindestsicherungs-Gesetze sehen nur eine entsprechende Übergangsbestimmung vor. Die Ausgaben für das Wohnen (ohne Energie) sind mit 25 Prozent der Gesamtleistung bemessen, betragen also für einen Alleinstehenden-Haushalt gerade einmal 186 Euro. Zusätzliche Leistungen zu gewähren ist den Ländern unbenommen.
Krankenversicherung
Sozialhilfeempfänger(innen) hatten bislang Anspruch auf Sachleistungen im Rahmen der sogenannten „Krankenhilfe“. Nun werden sie in die reguläre Krankenversicherung einbezogen und erhalten anstelle des stigmatisierenden „Sozialhilfe-Krankenscheins“ die elektronische Krankenversicherungskarte (E-Card) wie alle Versicherten.
Vermögensverwertungsbestimmungen
Künftig wird es bundesweit einen Vermögensfreibetrag pro Haushalt geben, und zwar in Höhe des Fünffachen des Ausgangswerts (in diesem Jahr: 744 Euro x 5 = 3720 Euro). Ob pro Person oder Haushalt, bleibt den Landesgesetzgebern überlassen. Die Verwertung von Immobilien, die von den Leistungsempfänger(inne)n selbst bewohnt werden (Eigenheime), darf nicht mehr verlangt werden. Allerdings kommt es weiterhin zu einer „grundbücherlichen Sicherstellung“, das heißt, die Sozialhilfebehörde erhält ein Pfandrecht auf das Eigenheim. Neu ist nur, dass diese erst nach sechsmonatigem Bezug verlangt werden darf. Grundbücherliche Sicherstellungen werden weiterhin nicht verjähren und auf Erben übergehen. Sie werden deshalb in ländlichen Gebieten ein wesentlicher Grund für die Nicht-Inanspruchnahme von Sozialhilfe bleiben.
Verfahrensrecht
Bislang gab es für die Sozialhilfe kein eigenes Verfahrensrecht, es galten die Bestimmungen des Allgemeinen Verfahrensgesetzes. Künftig wird es zum Beispiel eine Verpflichtung geben, Bescheide schriftlich zu erlassen – bisher konnte das alternativ auch mündlich geschehen, war weithin geübte Praxis und schränkte die Möglichkeit, gegen einen Bescheid in Berufung zu gehen, massiv ein. Die Frist, in der über einen Antrag zu entscheiden ist, wird von sechs auf drei Monate verkürzt, Berufungsverzichte und die aufschiebende Wirkung von Berufungen sind nicht mehr zulässig.
Regress
In Zukunft soll es bundesweit nicht mehr zulässig sein, ehemalige Bezieher(innen) zum Regress zu verpflichten, wenn sie durch Erwerbsarbeit zu Einkommen und Ersparnissen kommen. Was die Regress-Verpflichtungen von Angehörigen betrifft, galt (wenn auch nicht immer angewandt) der weitgefasste Familienbegriff des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB). Künftig darf der Ersatz durch Kinder, Enkelkinder oder Großeltern von (früheren) Bezieher(inne)n und von den Eltern volljähriger Kinder bundesweit nicht mehr verlangt werden. Problematisch: für die Bestimmung der Unterhaltspflichten im Sinne der vorrangigen Leistungen durch Dritte gilt der Angehörigenbegriff des ABGB weiterhin.
Integration in den Arbeitsmarkt
Sozialhilfe-Arbeit für sogenannte Vollsozialhilfe-Bezieher (die Sozialhilfe nicht aufstockend zu anderen Einkommen, zum Beispiel Arbeitslosengeld und Notstandshilfe, erhalten) hat in Österreich keine Tradition: Initiativen für eine (Re-)Integration in den Arbeitsmarkt sind nach wie vor rar. Von den Maßnahmen zur Reintegration erwerbsloser Personen waren Vollsozialhilfe-Bezieher(innen) formal nie ausgeschlossen. Faktisch hatten sie allerdings keinen Zugang. Die 15a-Vereinbarung sieht nun vor, dass der Bund einen für alle erwerbsfähigen und dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Personen gleichen Zugang zu den Dienstleistungen des Arbeitsmarktservice gewährleistet.
Abschließende Einschätzung
Die Bedarfsorientierte Mindestsicherung bringt eine Reihe von Veränderungen und darunter zweifellos auch Verbesserungen mit sich. Wie weit ihre Bezieher(innen) davon faktisch profitieren werden, hängt letztlich vom konkreten Gesetzesvollzug ab. Wie eine Studie der Armutskonferenz aus dem Jahre 2008 gezeigt hat, für die 121 soziale NPOs und Einrichtungen in ganz Österreich befragt wurden, weist der Sozialhilfe-Vollzug in allen Bundesländern eine Reihe von ebenso groben wie rechtswidrigen Mängeln auf. Im Ergebnis erhalten Sozialhilfe-Bezieher(innen) in vielen Fällen nicht, was ihnen zusteht.
Dass es um die Finanzsituation der Länder und auch der Städte und Gemeinden, die große Teile der Sozialhilfe-Kosten zu tragen haben, nicht gut bestellt ist, wird einen gesetzeskonformen Vollzug auch künftig nicht befördern. Gleichzeitig fehlen Rechtsschutzagenturen wie der deutsche Sozialverband VdK. Damit droht die Gefahr, dass die Verbesserungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung über weite Strecken ein Papiertiger bleiben.
Anmerkungen
1. Für Menschen in Privathaushalten.
2. Die Republik Österreich wurde nach dem Kriegsende 1945 wiedererrichtet.
3. Stand: Ende April 2010.
4. Etablierung einer Institution als einheitlichen Ansprechpartner für die Hilfesuchenden.
5. Von der Statistik Austria, dem statistischen Amt der Republik Österreich, werden diese Daten regelmäßig ob ihrer schlechten Qualität kritisiert.
6. Angaben nach ESSOSS – Europäisches System Integrierter Sozialschutzstatistiken.
7. Erhebung der Europäischen Union zu Einkommen und Lebensbedingungen EU-SILC.