Auch in der Schweiz gilt: Fördern und Fordern
Die Sozialhilfe, aber auch andere soziale Sicherungssysteme erleben seit Ende des letzten Jahrhunderts einen systematischen Wandel. Dieser führt zu institutionellen Neuausrichtungen – nicht nur in der Schweiz, sondern in den meisten modernen Gesellschaften, die ihren Sozialstaat vom fürsorgenden zum aktivierenden Sozialstaat umbauen; auch in Deutschland. Die Möglichkeiten und Grenzen dieser Veränderung werden hier am Beispiel Schweiz aufgezeigt.
Was heißt aktivierende Sozialhilfe? Hinter dem Begriff der Aktivierung stehen verschiedene Veränderungen in Gesellschaft und Arbeitswelt, die zu einem schleichenden Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik geführt haben. Es liegt ihm kein einheitliches Konzept zugrunde. Und doch ist „Aktivierung“ zu einem populären Politikbegriff geworden, weil er Dynamik, Flexibilität und Wandel verspricht und damit attraktiv wirkt.
Meistens führen primär ökonomische Entwicklungen zu solchen Veränderungen. Der Wandel in der Arbeitswelt zur Dienstleistungsgesellschaft, die auf hoher Produktivität und breitem Know-how beruht, ruft nach Arbeitskräften, die für Veränderungen offen sind. Der Wettbewerb verlangt eine hohe Flexibilität. Die Frage der Beschäftigungsfähigkeit (engl. employability) wird zur Schicksalsfrage. Wer ist und bleibt beschäftigungsfähig? Wer hat und erhält sich die Fähigkeit, seine gesamten Kompetenzen und seine Arbeitskraft laufend den Anforderungen des Arbeitsmarktes anzupassen? Dieser Wandel einer globalisierten Wirtschaft hat in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft, so vor allem in der Bildung und der Arbeitsmarkspolitik, aber eben auch in der Sozialpolitik seine Spuren hinterlassen. Die Lissabon-Erklärung der Europäischen Union im Jahr 2000 nennt die Modernisierung der Sozialsysteme in Richtung eines aktiven und dynamischen Wohlfahrtsstaates als gemeinsames Ziel.
Damit einher geht der Ruf nach Flexibilität, der in weiten Bereichen des Lebens Einzug gehalten hat und einerseits mit den Bedürfnissen der Arbeitswelt in Einklang steht, andererseits auch mit den Lebenserwartungen des Individuums, das der freien Wahl, der persönlichen Gestaltung des Lebens oder der Möglichkeit zur Veränderung einen hohen Stellenwert zumisst. Die Individualisierung der Lebenswelten findet ihre Entsprechung in der Flexibilisierung der Institutionen.
Von der Existenzsicherung zur Aktivierung
Damit verbunden ist ein verändertes Staatsverständnis. Die Aufgabe des Staates ist es nicht mehr, auf Dauer und für alle seine Mitglieder materielle Leistungen zu erbringen. Vielmehr soll der Staat Chancen eröffnen, damit das Individuum selber sein Leben gestalten kann. Faire Chancen sind es denn auch, welche die Bildung, die Berufswelt und die Sozialsysteme sichern sollen. Gute Dienstleistungen auch des Sozialstaats sind gefordert, die das eigenverantwortliche Individuum in Anspruch nehmen kann. Diese sollen zudem möglichst individualisiert angeboten werden: der Staat nicht mehr als Versorger, sondern als Dienstleister.
Vor dem Hintergrund dieser Veränderungen ist generell eine Entwicklung festzustellen, die auch in der Schweiz von der Existenzsicherung zur Aktivierung führt. Dies ist selbstverständlich eine Überzeichnung. Nach wie vor sind die sozialen Sicherungssysteme in hohem Maße dazu da, Renten zu bezahlen, materielle Hilfen auszurichten und damit den Lebensunterhalt zu sichern. Der Trend aber geht dahin, die Leistungen zur Existenzsicherung eher zu reduzieren, den Berechtigtenkreis wenn nicht einzuschränken, so doch weniger verpflichtend zu umschreiben und auf Aktivierungselemente zu setzen. Angefangen hat dies in der Schweiz in den Neunzigerjahren mit der Arbeitslosenversicherung, die konsequent auf Eingliederungsprogramme gesetzt hat. Später folgten die Sozialhilfe und die Krankenversicherer. Nun erfahren wir bei der Invalidenversicherung eine ähnliche Entwicklung.
Inzwischen ist die Aktivierung nicht nur als Begriff im gesellschaftlichen Diskurs, sondern auch in der Praxis angekommen. Neben der Daseinsvorsorge hat die Sozialhilfe das anerkannte Ziel der gesellschaftlichen und beruflichen Eingliederung. Der sogenannte Integrationsauftrag ist inzwischen breit anerkannt. Diese Aufgabe ist selbstverständlich nicht neu. Neu aber ist seine explizite Anerkennung und der Niederschlag in der praktischen Ausgestaltung der Sozialhilfe.
Praktische Umsetzung – die SKOS-Richtlinien
In der Schweiz leben drei Prozent der Bevölkerung oder rund 230.000 Menschen ganz oder teilweise von Sozialhilfe. Diese ist nicht in einem nationalen Sozialhilfegesetz geregelt, sondern verfassungsmäßige Aufgabe der Kantone. Es gibt entsprechend 26 verschiedene Ausprägungen der Sozialhilfe. Um eine gewisse Vereinheitlichung der Sozialhilfepraxis sicherzustellen, erarbeitet die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) Richtlinien und Empfehlungen, die sogenannten SKOS-Richtlinien. Die seit über hundert Jahren bestehende Konferenz ist vergleichbar mit dem Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge. Die Empfehlungen der SKOS werden in der Regel von den Kantonen übernommen und mit Gesetzeskraft ausgestattet. Bei der Ausgestaltung der Richtlinien hat die SKOS fachliche Gesichtspunkte in den Vordergrund zu stellen. Gleichzeitig muss sie aber auch auf die politische Akzeptanz der Richtlinien achten. So also bestimmt die SKOS, angesiedelt zwischen Fachwelt und Politik, faktisch die Praxis zur Sozialhilfe. Sie legt beispielsweise den Regelsatz als Empfehlung fest. Die letzte umfassende Revision der Richtlinien stammt aus dem Jahr 2005 und trägt deutlich die Züge der aktivierenden Sozialhilfe.
Berufliche und soziale Integration ist nicht dasselbe
Deutlich unterschieden wurde im Integrationsauftrag der Sozialhilfe bereits in den späten Neunzigerjahren zwischen dem Ziel der beruflichen und der sozialen Integration. Während die berufliche Integration die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zum Ziel hat, will die soziale Integration die Menschen zum eigenständigen Leben in der Gesellschaft befähigen. Oft besteht das Ziel aber auch schlicht in der Stabilisierung prekärer Lebensverhältnisse. Dabei orientieren sich viele an einem Stufenmodell, das von der Vorstellung ausgeht, dass in einem ersten Schritt die soziale Stabilisierung vorausgehen muss, die dann in einem zweiten Schritt die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ermöglichen soll. Inwieweit dies einer Realität entspricht oder eher ins Reich der Mythen gehört, wird noch zu bereden sein.
Mit zur aktivierenden Sozialhilfe gehörte der Aufbau von Integrationsprogrammen. Diese reichen vom individuellen Coaching, Sozialfirmen, Treffpunkten, Qualifikationen bis hin zur Beschäftigung in Wald und freier Natur. Mit den SKOS-Richtlinien wurden erstmals auch Einkommensfreibeträge für erwerbstätige Sozialhilfeempfänger(innen) festgelegt. Diese sollen sicherstellen, dass sich eine Erwerbstätigkeit auch finanziell lohnt. So kann, wer als „Working Poor“ (übersetzt: arbeitende Arme) voll arbeitet, zwischen 400 bis 700 Schweizer Franken (260 bis 460 Euro) seines Lohns behalten. Sie werden ihm nicht von der Sozialhilfe abgezogen. Damit soll die Erwerbstätigkeit und auch die Ausweitung des Beschäftigungsgrades gefördert werden. Denn davor war es wirklich nicht sehr motivierend für Sozialhilfeempfänger(innen) zu arbeiten, wenn ihnen das Verdiente gleich wieder vom Staat abgeknöpft wurde. Dazu kamen Zulagen. Die sogenannte Integrationszulage steht jenen Sozialhilfeempfänger(inne)n zu, die sich um ihre Integration bemühen – sei es, indem sie an einem Integrations- oder Qualifikationsprogramm teilnehmen, gemeinnützige Arbeit leisten oder sich sonst in einer erkennbaren Weise um ihre soziale Integration bemühen. Diese Zulagen können zwischen 100 und 300 Franken (70 bis 200 Euro) betragen. Eine Zulage steht auch allen zu, die eine familiäre Betreuungsaufgabe wahrnehmen. Mit diesen Einkommensfreibeträgen und Zulagen wurden erstmals in der Sozialhilfe Komponenten eingeführt, die sich an einer Leistung des Sozialhilfeempfängers orientieren und nicht ausschließlich am Bedarf.
Für die Umsetzung der Integrationsprogramme und zur Ausrichtung der materiellen Hilfe sind in der Schweiz die Kantone, jedoch an den meisten Orten die Kommunen zuständig. So sind heute in der praktischen Umsetzung große Unterschiede im Land festzustellen. Vor allem in den urbanen und regionalen Zentren haben sich der Gedanke und die Praxis der aktivierenden Sozialhilfe durchgesetzt.
Politische Erwartungen
Die Sozialhilfe ist wie kaum ein anderes System der sozialen Sicherung der politischen Beobachtung ausgesetzt. Entsprechend wird sie maßgeblich und in der Schweiz sehr direkt von politischen Erwartungen und demokratischen Entscheidungen beeinflusst. Es sind sehr unterschiedliche Vorstellungen, welche die politischen Erwartungen prägen. Ja, man kann sagen: Gerade weil das Konzept der Aktivierung so viele unterschiedliche Erwartungen auf sich zieht, ist es so populär. Zunächst entspricht das Konzept einem liberalen Denken, das die Eigenverantwortung des Einzelnen ins Zentrum rückt. Es gibt eine Antwort auf die gängige Sozialstaatskritik und orientiert sich im Kern an der angloamerikanischen Idee der „Workfare“, der Verbindung von Work (Arbeit) und Welfare (Fürsorge). Die Übernahme der Begriffe „Arbeit statt Fürsorge“ oder „Arbeit vor Fürsorge“ war ideologisch vorbereitet. Auch Vertreter(innen) einer linken Politik konnten sich mit dem Konzept anfreunden. Sie sahen in der Aktivierung die Möglichkeit einer Investition in die Menschen. Diese sollten nicht verwaltet, sondern gefördert werden. Vielen erschien das Konzept zudem als Chance, den Gedanken der „Flexicurity“, der Verbindung von wirtschaftlich notwendiger Flexibilität des Arbeitsmarktes mit dem Bedürfnis nach sozialstaatlicher Sicherheit zu realisieren.
So erklärt sich die breite Akzeptanz, die das Konzept der aktivierenden Sozialhilfe hatte. Eine Akzeptanz, die es noch heute schwer macht, problematische Erfahrungen und Schwächen des Konzepts zu thematisieren oder auch nur Fragen zu stellen. Für die Entwicklung der SKOS-Richtlinien war die breite Akzeptanz ein Glücksfall. Dank der Einführung von Elementen der aktivierenden Sozialhilfe in die Richtlinien gelang es, einen hohen politischen Konsens zu erreichen und damit den großen Druck der Politik, die Regelsätze zu senken, fast ganz zu umgehen.
Natürlich spielten für das Aktivierungskonzept finanzielle Überlegungen eine wesentliche Rolle. Die rasche Wiedereingliederung sollte die Dauer der Abhängigkeit von staatlichen Leistungen reduzieren und Kosten einsparen. Dazu waren Politik und Behörden auch bereit, in Integrationsprogramme zu investieren. Allerdings vorzugsweise nur in solche, die der beruflichen Eingliederung dienten. Programme mit sozialer Eingliederung als Ziel hatten es bei der Finanzierung schwerer.
Die Erwartungen von Politik und Öffentlichkeit sind bis heute geprägt von einem erstaunlich mechanistischen Menschenbild, von der Vorstellung, dass alle Menschen als Homo oeconomicus feinsinnig auf Anreize und Sanktionen reagieren. Entsprechend ausführlich wurden Ausgestaltung und Höhe der finanziellen Anreize debattiert. Intrinsische Motivation zur Erwerbstätigkeit dagegen wird kaum zur Kenntnis genommen und ist wenig erforscht. In diesem Zusammenhang wird der im Vergleich zur Bundesrepublik eher hohe Regelsatz (für eine Einzelperson 960 Schweizer Franken entsprechend 620 Euro; ALG II in Deutschland: 359 Euro) als Hindernis zur Erwerbsaufnahme bezeichnet. Dieser Betrag ist zumindest teilweise auf das höhere Niveau der Lebenshaltungskosten zurückzuführen. In mechanistischer Manier wird angenommen, dass das Absenken dieses Regelsatzes automatisch zu einer größeren Bereitschaft führt, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen.
Erfahrungen: Aktivierung findet Eingang in Gesetze
Das Konzept der aktivierenden Sozialhilfe hat inzwischen in zahlreichen kantonalen Sozialhilfegesetzen Einzug gehalten. Das Prinzip von Leistung und Gegenleistung, Fordern und Fördern, Arbeit statt Fürsorge und so weiter wurde bei allen Gesetzesrevisionen in der einen oder anderen Form in den Gesetzen festgeschrieben. Nicht in die Gesetze aufgenommen wurde eine explizite Verpflichtung der Kommunen, Integrationsprogramme in ausreichendem Umfang anzubieten. Damit unterliegen solche Programme stets dem Finanzierungsvorbehalt und sind Gegenstand der Haushaltsdebatten.
Konkret wurden in der Schweiz in den letzten fünfzehn Jahren Integrationsprogramme in beachtlichem Umfang aufgebaut. Vor allem die Städte und regionalen Zentren haben dabei eine führende Rolle übernommen. Diese Entwicklung hat auch kleine Kommunen veranlasst, Zusammenschlüsse zu bilden. Die Städte haben mehrheitlich eigene Projekte aufgebaut, während andere eher mit privaten Anbietern zusammenarbeiten. Entstanden ist ein wenig übersichtlicher Markt. Inzwischen ist es auch in der Sozialhilfe üblich, analog zu den arbeitsmarktlichen Maßnahmen der Arbeitslosenversicherung Aufträge öffentlich auszuschreiben. Die Vollkosten dieser Integrationsprogrammplätze sind selbstverständlich je nach Ausrichtung unterschiedlich. Im Durchschnitt ist aber (ohne den Lohn des Programmteilnehmers) mit Aufwendungen von rund 1000 Euro zu rechnen. Dies ist im Vergleich zu Programmen anderer Sicherungssysteme wenig, aber doch beachtlich, wenn es darum geht, eine Gemeindeversammlung von der Investition in Programme zu überzeugen. In gewissen Projekten erhalten die Teilnehmenden einen eigentlichen Lohn, der sozialversicherungspflichtig ist, in anderen wird die Sozialhilfe plus Zulagen als Entschädigung ausgerichtet.
Wie wirksam sind die Programme?
Es gibt bis heute wenig wissenschaftlich erhärtete Erkenntnisse, wie wirksam die Programme sind. Zwar werden sie immer wieder evaluiert, doch dienen diese Evaluationen mehr der politischen Legitimation als dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn. Immer deutlicher wird dabei auch, dass die Ziele der Aktivierung, die Stärkung der Beschäftigungsfähigkeit und der Eigenverantwortung bei den Sozialhilfeempfänger(inne)n vermutlich zu kurz greifen und dass die Aktivierung einen autonomen Klienten voraussetzt, der auf monetäre Anreize zu reagieren vermag und eine Erwerbstätigkeit ausüben kann. Bei verschiedenen Klientengruppen ist diese Voraussetzung nicht gegeben. Die Frage stellt sich: An welchen Zielen messen wir den Erfolg? Ist es nur die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt? Gemessen daran wäre die Wirkung verschiedener Programme gleich null. Eine durchaus seriöse Untersuchung im Auftrag unserer Bundesanstalt für Arbeit glaubte gar den Nachweis zu erbringen, dass Personen, die in Integrationsprogrammen Aufnahme fanden, weniger schnell eine Arbeit fänden, als solche, die außen vor blieben.
Man setzte sich mit der Frage auseinander, ob es manchmal für Sozialtätige, Programmanbieter und -teilnehmer(innen) nicht bequemer sei, in einem Programm zu bleiben, als daraus herauszufinden. Auch die Qualifikation der Sozialarbeitenden und die Qualität der Programme wurden zum Thema. Unterhält hier nicht eine Sozialindustrie ihre ineffizienten Betriebe? In der Tat: Nicht jedes Programm führt zum Ziel. Demgegenüber betonen viele Fachleute und teils auch die Programmteilnehmer(innen), dass die Programme nützlich seien, dass sie die Chancen, auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen deutlich erhöhten. Auch dies ist in verschiedensten Untersuchungen belegt. Die Realität scheint also bunt zu sein. Während die Politik noch unerschütterlich an die Aktivierung glaubt, ist bei Praktiker(inne)n und in Fachkreisen ein Diskurs über Potenziale und Grenzen der Aktivierung im Gange.
Die Anwendung ist unterschiedlich
In jüngsten Untersuchungen wurde auch der Frage nachgegangen, ob und wie in der Praxis die neuen Instrumente der Einkommensfreibeträge und der Integrationszulagen angewendet werden. Zwischen den Kantonen, Kommunen und oft innerhalb desselben Sozialdienstes gab es offenbar Unterschiede bei der Anwendung dieser Anreize. Während sie an einigen Orten ziemlich umfassend eingesetzt werden, gibt es Orte, wo nur ein kleiner Teil der Klient(inn)en in den Genuss dieser zusätzlichen Leistungen kommt. Diese uneinheitliche Anwendung ist Zeichen dafür, dass einerseits das Instrumentarium der aktivierenden Sozialhilfe neu ist und sich noch keine klare Praxis entwickeln konnte, und andererseits ein unterschiedliches Grundverständnis darüber besteht, was aktivierende Sozialhilfe sein soll und kann. Während für die einen Anreize im Sinne einer Investition im Vordergrund stehen, sehen andere in den Sanktionen das richtige Mittel zur Aktivierung. Fördern und Fordern gibt beiden Betrachtungsweisen eine Argumentationsgrundlage.
In der Auseinandersetzung über Aktivierung und Anreize kam ein Problem auf, das weit über die Sozialhilfe hinausreicht. Nicht immer führen zusätzliche Leistungen im Sozialstaat auch zur Erhöhung des verfügbaren Einkommens eines Haushaltes. So kann es sein, dass eine Zusatzleistung einen gegenteiligen Effekt hat, dann etwa, wenn erhöhte Einkommen zu Kürzungen anderer Leistungen, zum Verlust von Vergünstigungen und Anspruchsberechtigungen oder zu höheren Steuern führen. So wird die mit finanziellen Anreizen beabsichtigte finanzielle Besserstellung eines Haushaltes nicht selten pervertiert, indem diesem am Schluss weniger Geld zur Verfügung steht als vorher.
Die SKOS ist diesen Zusammenhängen in den letzten Jahren systematisch nachgegangen und hat gefragt, wie sich das Zusammenspiel der verschiedensten Sozialleistungen, der Steuern und Abgaben auf einen konkreten Haushalt auswirkt. Derartige Untersuchungen wären auch für die Bundesrepublik von höchstem Interesse. Inzwischen wurde mit einem erheblichen Forschungsaufwand ein Instrumentarium entwickelt, das es sehr genau erlaubt, die konkreten Auswirkungen einer Einkommenserhöhung auf die effektiv verfügbaren Einkommen zu berechnen. So können nun geplante neue Sozialleistungen, die Anpassung bestehender Leistungen und Abgaben auf die unterschiedlichsten Einkommen zu simuliert werden. Dies hat im Land zu einer sehr viel sorgfältigeren und differenzierten Fachdiskussion über Anreize und Aktivierung geführt. Verschiedene Kantone sind denn auch dazu übergegangen, ihre Sozialleistungen und Abgaben auf solche Fehlanreize hin zu untersuchen und dort anzupassen, wo sich sogenannte Schwelleneffekte ergeben – also wo bei zusätzlichem Einkommen nicht mehr und gelegentlich sogar weniger Einkommen verfügbar ist.
Ein Ausblick in die Zukunft
In der Debatte über die aktivierende Sozialhilfe steht die Schweiz mittendrin. Gerade für die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe ist es entscheidend, wie der weitere Diskurs gestaltet wird, war die SKOS doch ganz maßgeblich mitverantwortlich für die Einführung dieses Konzeptes in der Sozialhilfepraxis. Als Fachkonferenz ist sie gefordert, nicht nur politisch, sondern auch fachlich überzeugende Antworten zu geben. Es sind vier Elemente, die für die Zukunft ausschlaggebend erscheinen:
Differenzierung der Klientel
Es braucht eine Differenzierung der Klientel. Sozialhilfeempfänger(innen) sind nicht einfach eine Gruppe, sondern sehr unterschiedlich. Diese Unterschiede müssen vermehrt in die Konzepte einfließen. Auch die aktivierende Sozialhilfe muss diese Differenzen besser berücksichtigen. Sie können in Lebenslagen begründet sein. Wer gegenüber mehreren Kindern Betreuungspflichten hat, ist nicht zu vergleichen mit einem Jugendlichen in der Sozialhilfe. „Working Poor“, deren Einkommen nicht zum Leben reicht und die ergänzend unterstützt werden, braucht man nicht zu aktivieren. Sie sind schon erwerbstätig. Auch ist die Arbeitsmarktsfähigkeit der Sozialhilfeempfänger(innen) sehr unterschiedlich. Jedes Konzept, das diesen großen Unterschieden nicht Rechnung trägt, muss scheitern. Immer mehr wird es deshalb in den Sozialdiensten üblich, Programme auf die unterschiedlichen Gruppen zuzuschneidern.
Verbesserung der Integration
Damit einher muss die regelmäßige Überprüfung und Verbesserung der Integrationsprogramme gehen. Vor allem muss klarer deklariert werden, ob diese einer beruflichen oder einer sozialen Integration oder beiden dienen soll. Nur zu oft wurde hier im verständlichen Ringen um politische Akzeptanz geflunkert. Man erklärte soziale Integrationsprogramme als Programme der beruflichen Eingliederung, weil sich diese eher finanzieren ließen. Es muss verständlich gemacht werden, dass die soziale Integration in vielen Fällen die einzige realistische Perspektive für eine(n) Sozialhilfeempfänger(in) sein kann. Generell geht es darum, die Qualität der Integrationsprojekte zu thematisieren und diese auf mögliche Fehlanreize hin zu untersuchen. Inzwischen stellt sich zudem heraus, dass die Individualisierung der Programme wohl der hilfreichste Schlüssel zum Erfolg ist.
Pragmatischer Zugang zur Aktivierung
Wichtig wird es sein, einen pragmatischen Zugang zur Aktivierung in der Sozialhilfe zu finden. In den letzten Jahren trug der Aktivierungsdiskurs durchaus die Züge einer Ideologie. In ihr spiegelt sich ein Zeitgeist, der davon ausgeht, dass jeder eine Arbeit findet, der auch wirklich arbeiten will. Die Realitäten des Arbeitsmarktes werden weitgehend ausgeblendet. Die Konzeption der Aktivierung hat der Sozialhilfe unbestreitbar wichtige Impulse gegeben und Entwicklungen ermöglicht, die man nicht rückgängig machen möchte. Gleichzeitig aber hat sie auch zu Verkürzungen geführt und der komplexen Wirklichkeit zu wenig Rechnung getragen. Die Förderung eines Diskurses, der die Komplexität der Ursachen der Armut, der Unterschiede der Menschen und Lebenslagen sichtbar macht und das Instrumentarium zur Behebung der Notlagen ausdifferenziert, wird Aufgabe der nächsten Jahre sein.
Sozialhilfe im System der sozialen Sicherung
Schließlich geht es auch um eine Klärung der Stellung der Sozialhilfe im System der sozialen Sicherung. Nicht nur die Sozialhilfe will aktivieren, auch die Arbeitsämter, die Krankenversicherer und viele andere. Die Ausführungen zur Aktivierung könnten in ähnlicher Weise auf andere Systeme der sozialen Sicherung übertragen werden. Dabei wird sichtbar, dass vermutlich nicht nur in der Schweiz das Zusammenspiel der Systeme suboptimal funktioniert – gerade, wenn es um die berufliche Eingliederung geht. Mit Hartz IV wurde in der Bundesrepublik Deutschland ein Versuch gewagt, in einem Bereich zusammenzulegen, was zusammengehört. Ob mit Erfolg oder nicht, darüber wird gestritten. Wir in der Schweiz können davon lernen, denn auch in der Schweiz kann aktivierende Sozialhilfe dann wirksam sein, wenn sie sich als Teil einer gemeinsamen sozialen Wohlfahrt verstehen kann und die Integrationsanstrengungen der verschiedenen Träger besser aufeinander abgestimmt werden.