Rückenwind für sozialethische Grundanliegen
Als „Meilenstein zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft“ wertete Karin Evers-Meyer die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Auch wenn es bis zur Umsetzung noch ein weiter Weg sei, fügte die damalige Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen hinzu. Dass sie mit ihrem Urteil über die am 26. März 2009 in Deutschland in Kraft getretene Konvention Recht hat und der Weg dahin keineswegs klar ist, gilt nach wie vor.
Gesetze wollen normierend wirken, so sind sie auch formuliert und dafür werden sie in Kraft gesetzt: so, wie in der UN-Konvention über Rechte von Menschen mit Behinderungen formuliert, soll es werden und sein in den Ländern der Vereinten Nationen. Mit dem Fakultativprotokoll hat die Bundesrepublik Deutschland auch die Möglichkeit ratifiziert, dass ein internationaler Ausschuss die Beschwerden von Einzelpersonen oder Personengruppen prüft, die ihre vertraglich festgelegten Rechte verletzt sehen (Fakultativprotokoll Art. 1). Am 13. Dezember 2006 wurde die Konvention in der UN angenommen, zur Unterzeichnung geöffnet ab 30. März 2007, am gleichen Tag vom ersten Staat ratifiziert, nämlich Jamaika. Bis zum 8. Juni 2010 hatten 87 Länder die von inzwischen 145 Ländern unterzeichnete Konvention ratifiziert, 54 davon auch das Fakultativprotokoll. In jüngster Vergangenheit unterzeichneten die Fidschi-Inseln (2. Juni 2010), und ratifizierte die Slowakei (26. Mai 2010).
Nach Monika Schumann1 manifestiert sich in der UN-Konvention ein grundsätzlicher Perspektivenwechsel. Behinderung wird nicht länger vorwiegend aus medizinischer oder sozialer Sicht betrachtet, sondern als menschenrechtliches Thema festgeschrieben. Sie wird nicht nur als Bestandteil des menschlichen (Zusammen-)Lebens anerkannt und bejaht, sondern darüber hinaus als Quelle (möglicher) kultureller Bereicherung wertgeschätzt.
Behinderung nicht länger aus sozialer Sicht betrachten
Menschen mit Behinderungen soll ohne Diskriminierung der volle Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten garantiert werden, heißt es in der dreiseitigen Präambel der Konvention. Würde, Barrierefreiheit, Chancengleichheit, Inklusion, Selbstbestimmung, Empowerment und Partizipation sind die zentralen Leitbegriffe der Konvention, die in den einzelnen Rechten konkretisiert werden.
Man kann diese Rechte in folgender Weise zusammenfassen:2
- generelle Bestimmungen, die der Anti-Diskriminierung dienen (zum Beispiel Art. 5, Art. 7, Art. 9);
- Personenschutzrechte, die die Rechte auf Leben, Freiheit von Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, Schutz der Person vor Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch garantieren (zum Beispiel Art. 16);
- Selbstbestimmungsrechte, die die Rechts- und Geschäftsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen schützen (zum Beispiel Art. 10, Art. 19);
- Recht auf Barrierefreiheit und Partizipation: alle Maßnahmen, die die Partizipation in der Mitte der Gesellschaft gewährleisten, auch den freien Zugang zur Justiz und Politik;
- Freiheitsrechte wie das Recht auf Nationalität, auf persönliche Mobilität, das Recht von Eltern, ihr Kind mit Behinderung zu versorgen sowie das Recht behinderter Eltern, für ihre Kinder zu sorgen;
- wirtschaftliche und soziale Rechte wie das Recht auf inklusive Bildung, Gesundheitsversorgung, Arbeit und adäquater sozialer Schutz.
Als allgemeine Grundsätze werden in Art. 3 der Konvention formuliert:
a) die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seiner Unabhängigkeit;
b) die Nichtdiskriminierung;
c) die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft;
d) die Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit;
e) die Chancengleichheit;
f) die Zugänglichkeit;
g) die Gleichberechtigung von Mann und Frau;
h) die Achtung vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderungen und die Achtung ihres Rechts auf Wahrung ihrer Identität.
Die Gesellschaft besteht nicht nur aus Gutmenschen
Unsere Gesellschaft besteht nicht nur aus Gutmenschen, die in mehr oder weniger behaglicher Unbetroffenheit zugleich im Ton der Betroffenheit hohe Ideale von sich geben. Die Wirklichkeit ist oft rau, auch in der Behindertenhilfe in ihren unterschiedlichen Dimensionen, die sich in vielen Einrichtungen und Diensten der Caritas schon lange bemüht, was weltweit wie auch in unserer Gesellschaft mehr oder weniger eine neue Errungenschaft werden kann und soll:
- Menschen mit Behinderung werden von Objekten zu Subjekten,
- von Patient(inn)en zu Bürger(inne)n,
- von „Problemfällen“ zu Träger(inne)n allgemeiner Rechte (und zu Rechtssubjekten).
Die Konvention verpflichtet die unterzeichnenden Staaten in Art. 8 zu Bewusstseinsbildung und formuliert in Art. 10 das Recht auf Leben gegen jegliche eugenische Indikation: „Die Vertragsstaaten bekräftigen, dass jeder Mensch ein inhärentes Recht auf Leben hat, und treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um den wirksamen und gleichberechtigten Genuss dieses Rechts durch Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten.“
Die Garantien von Freiheitsrechten finden sich beispielsweise in Art. 19: unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft; in Art. 24: das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung; in Art. 27: das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit.
Diese UN-Konvention stimmt deutlich überein mit SGB IX § 1 mit seinen Zielen der Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Leben in der Gesellschaft.
Sie ist ein enormer Rückenwind für die sozialethischen Grundanliegen, die der Deutsche Caritasverband seiner Befähigungsinitiative (2006/2008) und seiner aktuellen Teilhabeinitiative zugrunde gelegt hat, nämlich Befähigungsgerechtigkeit und Teilhabegerechtigkeit (vgl. neue caritas Heft 12/2009, S. 21 ff.). Zugleich wird deutlich, dass diese verallgemeinerten sozialethischen Impulse für das Wirken der Caritas stark den Errungenschaften ihrer Behindertenhilfe zu verdanken sind.
Normalisierung umfasst alle Kernbereiche des Alltags
Eine wichtige Zielsetzung in der Behindertenhilfe war mit dem Konzept der Normalisierung verbunden, nämlich Menschen mit Behinderung aus den ihnen früher zugewiesenen Sonderwelten herauszuführen und als gleichberechtigte Mitglieder in ihren jeweiligen Sozialverband zu integrieren: „Normalisierung umfasst alle Kernbereiche des alltäglichen Lebens: normaler Tagesrhythmus, räumliche Trennung von Arbeit, Freizeit, Wohnen und der damit verbundene Orts- wie Kontaktwechsel, normaler Jahresrhythmus mit Arbeitszeiten, Ferien, Feiern, normaler biografischer Zyklus (Kindheit, Jugend, Erwachsener, älterer Mensch), Respektierung persönlicher Bedürfnisse und Interessen, angemessene Kontakte zwischen den Geschlechtern, wirtschaftlicher Standard sowie angemessene Ausstattung an Wohn- und Lebensraum. Errungenschaften und Bedingungen des alltäglichen Lebens, die den meisten Menschen zur Verfügung stehen, sollen auch Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung nutzen können.“3 Dieses Konzept stand zugleich unter dem normierenden Sog von Normalität, in dem die Anders- und Fremdheiten von Menschen mit Behinderung als Minus- oder Defizit-Varianten des Lebens betrachtet wurden und werden. Es stellte sich zunehmend die Frage, ob ihre besonderen Bedürfnisse (und Fähigkeiten) damit noch genügend wahrgenommen und realisiert werden – oder folgen nicht noch stärkere Abwertungen, wenn das Kriterium, an dem Maß genommen wird, Vorstellungen von Normalität sind?
Heterogenität als Bereicherung sehen
Demgegenüber will „Integration“ Menschen mit Behinderung in ihren Sozialverband weniger sozialpolitisch als bildungspolitisch integrieren, etwa durch Integrationsklassen. Hier gab es einige Aufregung, als die deutsche Übersetzung in Artikel 24 statt inklusiv integrativ lautete: Denn damit sind unterschiedliche Verständnisse und Ziele verbunden, die mehr als nur diverse Akzentsetzungen sind (vgl. neue caritas Heft 11/2010, S. 3). Nach den UNESCO-Richtlinien für Inklusion4 über das Konzept „Integration“ besuchen Schüler mit Behinderungen gemeinsam mit denjenigen ohne Behinderungen allgemeinbildende Schulen. Dabei werde den Schülern mit Behinderungen eine sonderpädagogische Unterstützung zuteil. Das Integrationskonzept verlange in erster Linie eine Anpassungsleistung von den Schülern mit Behinderungen an die bestehenden Schulstrukturen. Dementsprechend sieht das Konzept der Integration Änderungen der Schulorganisation, des Curriculums sowie der Lehr- und Lernstrategien in größerem Umfang nicht vor. Stattdessen werden die Schüler mit Behinderungen implizit an den Lernschritten der dominanten Mehrheit bemessen, hinter denen die meisten beinahe zwangsläufig zurückbleiben. Der gemeinsame Unterricht lässt kaum Raum für die Entwicklung von ihren spezifischen Eigenarten, die ihnen zu eigen, für sie unverzichtbar und unverwechselbar sind.5
Die mit solcher Integration verbleibenden Exklusionseffekte will das Inklusionskonzept folgendermaßen überwinden: Alle Schüler werden prinzipiell und ungeachtet ihrer individuellen Unterschiede gemeinsam unterrichtet. Heterogenität wird nicht als Problem, sondern als Bereicherung gesehen. Ziele der inklusiven Bildung sind insbesondere die Anerkennung und Wahrung der Vielfalt sowie die Bekämpfung diskriminierender Einstellungen und Werte. Angestrebt wird „eine Schule für alle“. Diese Ziele zu erreichen setzt im Gegensatz zum Konzept der Integration eine systematische Veränderung im Schulwesen voraus, der Schulorganisation, der Lehrpläne, der Pädagogik, der Didaktik und Methodik sowie der Lehrerausbildung. Auch für Schüler mit Behinderungen soll eine Unterrichtssituation geschaffen werden, in denen sie ihr Bildungspotenzial optimal entfalten können. Lernziele werden differenziert, das geforderte Leistungsniveau soll der Leistungsfähigkeit der Schüler mit Behinderungen angepasst werden. Bei lernzielgleichem Unterricht wären sie zu leicht überfordert. Statistisch finden bislang in Deutschland 80 Prozent der rund 500.000 Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen keinen Platz im allgemeinen Schulsystem, obwohl sie selbst und ihre Eltern es wünschen (vgl. Schumann, 2009) (s. dazu auch Beiträge auf S. 16ff. und 21ff. in diesem Heft).
Bei Integration müssen sich kurz gesagt die behinderten Schüler der Schule anpassen, während sich bei der Inklusion die Schulen konzeptionell den Bedürfnissen und Potenzialen der Schüler mit Behinderungen anpassen sollen.
Was hier für den Bildungs- und Schulbereich formuliert war, ist idealtypisch für die gesellschaftliche Utopie, die mit Inklusion gemeint ist: „Durch die Integration wird das Integrierte in seiner Substanz und in seinem Sosein grundlegend verändert und dem Ganzen angepasst. Durch die Inklusion werden das Inkludierte in das größere Ganze in seinem Sosein eingepasst und lediglich die Wechselbeziehungen zu den anderen ‚Elementen‘ grundlegend neu geordnet.“6
Der Akzent ist somit eindeutig auf der Bewahrung der Eigen- und Andersheit, nicht auf dem Eingeschmolzenwerden in ein neues Ganzes.
In der Mineralogie etwa spricht man in diesem Sinn von Inklusion: Etwa Amethysten in einer Druse oder auch im Fall von Perlenbildung in einer Muschel, die einen Fremdkörper „inkludiert“. An dieser Vorstellung lassen sich verschiedene Aspekte der produktiven Utopie „Inklusion“ anknüpfen, aber auch ihre Ambivalenzen, mehr in Frage- als in Aussageform.
1. Wenn Integration eher das Anderssein nivelliert, stemmt sich Inklusion gegen eine Entwertung des Andersseins insbesondere von Menschen mit Behinderung.
In seinem autobiografisch geprägten Essay „Respekt im Zeitalter der Ungleichheit“ liegt für Richard Sennett das zentrale Problem, „vor dem wir in der Gesellschaft und insbesondere im Sozialstaat stehen, … in der Frage, wie der Starke jenen Menschen mit Respekt begegnen kann, die dazu verurteilt sind, schwach zu bleiben“7.
Respekt allein genügt nicht
Allerdings stellt sich mir die Frage, ob Respekt genügt. Wie wird Respekt operativ, wo – gerade in der Andersheit und im bleibenden medizinischen8 und eventuell sozialen Aspekt der Behinderung der andere nicht nur gelassen werden will, sondern Hilfe braucht – und zwar eine Hilfe, die ihn oder sie nicht erniedrigt? Zuwendung, die im Wortsinn und nicht als finanzielle Leistung gemeint ist? Zuwendung kann ambivalent sein, Respekt allein jedoch auch, wo er Not nicht sieht und nicht handelt.
2. Inklusion richtet sich als Begriff primär gegen Exklusion, Ausschluss. Im mineralogischen Bild birgt Inklusion allerdings auch die Möglichkeit der Isolation, des Nicht-mehr-in-Beziehung-Stehens. Die Perle mag ganz schön sein, doch es geht nicht um die Perle, sondern um das Inkludierte. Der Druse sieht man von außen nicht an, welchen Schatz sie birgt. Inklusion darf nicht unter der Hand zur Anonymisierung in einer individualistisch orientierten Leistungs- und Gewinnergesellschaft werden, welche die Inklusion der Menschen mit Behinderung an Profis und Sozialmechanismen delegiert hat. Das gilt auch für die Kirche und ihre Caritas.
3. In diesem Sinn möchte ich, in Analogie zum entwicklungspsychologischen Begriffspaar von Assimilation und Akkommodation, Integration und Inklusion als Begriffspaar der dynamischen Wechselwirkung verstehen. Assimilation meint, knapp formuliert, die Integration einer neuen Erfahrung in bereits bestehende Strukturen, Akkommodation die Anpassung einer bestehenden Struktur an die Erfordernisse einer neuen Erfahrung. Ebenso ist eine Wechselwirkung von Integration und Inklusion von Menschen mit Behinderung (wie allen anderen) in das soziale Miteinander zu denken: Beide Seiten geben und nehmen im Miteinander, in der Begegnung, im Dialog des Lebens, beide Seiten werden verändert und ändern sich und entwickeln auch darin immer mehr sich selbst. Bei Integration und Inklusion sind jedoch bewusste Prozesse von Respekt und Annahme, aber auch von Anstrengung und Einsatz füreinander gemeint.
4. Mit Inklusion wird möglichst viel Selbstbestimmung und Teilhabe im sozialen und kulturellen Leben angestrebt. Zu diesen Rechten gehören in zweifacher Richtung auch die Pflichten. In der einen Richtung dürfen die Lasten von Behinderung nicht wegidealisiert oder -romantisiert werden, etwa vorhandene, definierbare, empirische Defizite und Einschränkungen kognitiver oder motorischer Fähigkeiten. Um Inklusion zu ermöglichen, müssen Maßnahmen ergriffen und vorgehalten werden, die auf die Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung möglichst passgenau zugeschnitten sind (siehe inklusive Schulen). Diese müssen von der Solidargemeinschaft aufgebracht und gesichert werden. Sie muss bereit sein – im Mikro-, Meso- und Makrobereich – die dafür erforderlichen Ressourcen aufzubringen: finanziell wie personell. Dafür braucht die Gesellschaft nicht nur sozialrechtliche Strukturen, diese müssen auch demokratisch getragen werden – was auf Dauer jenes Bewusstsein braucht, das die Behindertenrechtskonvention ebenfalls aufzubauen fordert.
Solidarität und Achtung bedürfen der Erfahrung, selber beschenkt und geliebt zu sein. Sonst wird auf Dauer alles vom Staat erwartet, der alles regeln soll – möglichst anonym. Der christliche Glaube lehrt, alle Menschen als Gottes geliebte Geschöpfe und Ebenbilder zu betrachten.
Menschen mit Behinderung wollen ihre Solidarität zeigen
Die andere Richtung ist die – in vielem vielleicht einfachere –, dass Menschen mit Behinderung nicht nur autonom sein wollen, sondern in Beziehung mit anderen auch ihre Solidarität und Liebe zeigen und leben wollen, „teilgeben“ an ihren menschlichen Gaben und Potenzialen.
5. Implizit befinden wir uns bereits mitten in der Katholischen Soziallehre. Hier wäre der Ort, auch über das christliche Verständnis jedes Menschen als Gottes Ebenbild nachzudenken – also auch darüber, ob wir wirklich in unserem Denken und in unseren Herzen fest verankert haben, dass dies auch für jeden Menschen mit Behinderung gilt.
Einfach übersetzt: Sind wir theologisch bereit oder gar überzeugt sagen zu können, dass Menschen mit Behinderung sich als von Gott so gewollte und geschaffene Wesen, so als seine Ebenbilder verstehen dürfen? Diese Frage trieb den selbst behinderten Theologen Ulrich Bach seit seiner Kinderlähmung um, und er konstatierte einen ständigen Riss in den Gemeinden, ein Apartheidsdenken, das annimmt:
- Krankheit und Behinderung gehörten nicht in die gute Schöpfung Gottes.
- Jeder therapeutische Fortschritt gegen Krankheit und Behinderung sei ein Schritt auf Gottes Reich zu – mehr als die geduldige, tätige Nächstenliebe.9 Beides hält Bach für theologisch falsch. Ich neige dazu, ihm weitgehend zuzustimmen.
6. Im Wort der deutschen Bischöfe zur Situation der Menschen mit Behinderung werden folgende Ziele genannt:
- weg von der defizitorientierten Sicht, also hin zu: „ungewohnte Verschiedenheit des Menschseins“;
- gegen den Traum vom perfekten Menschen und Blick auf das Kreuz;
- Option für eine Kultur der Achtsamkeit;
- Behinderte als bereichernde Lebens- und Glaubenszeugen;
- Einsatz in der Biomedizin für die Würde und Rechte behinderter Menschen;
- in Kirchengemeinden integrieren und lebensraumnahe Wohnformen entwickeln und unterstützen.
Weiter heißt es: „Die deutschen Bischöfe bitten alle … in der Kirche und Gesellschaft, die abwendbaren Erschwernisse, denen Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen ausgesetzt sind, abzubauen und neue Diskriminierungen zu verhindern … und so die christliche Hoffnungsbotschaft glaubhaft und heilsam zu verkörpern.“10
Wie ein abschließendes Beispiel zeigt, ist diese Bitte auch in der Caritas und der Kirche noch lange nicht erfüllt. Eine meiner Studentinnen erlebte im Rahmen eines Praktikums wie eine langjährige Mitarbeiterin in der Behindertenhilfe der Caritas, „im größeren Rahmen“ in den Räumen einer Werkstätte für Menschen mit Behinderung verabschiedet wurde. Lediglich ein Mensch mit Behinderung war anwesend, der Fotograf. Die Glückwünsche der Gratulanten enthielten einen einzigen Wunsch: „noch lange anhaltende Gesundheit.“
So bleibt Inklusion ein inspirierendes, weiterführendes Konzept, nicht ohne Ambivalenzen – zwischen Utopie und Verwirklichung im Miteinander, eine Aufgabe nicht nur für die Gesellschaft, sondern als Schrittmacher für die Gesellschaft für die Kirche und ihre Caritas, die sich von Gott zur Liebe gerufen und gesandt weiß.
Anmerkungen
1. Schumann, Monika: Die „Behindertenrechtskonvention“ in Kraft! – Ein Meilenstein auf dem Weg zur inklusiven Bildung in Deutschland?! In: Zeitschrift für Inklusion-online.net, 2009, Ausgabe 2.
2. Vgl. Schulze, Marianne: Die Konvention: Ihre Notwendigkeit und ihre Möglichkeiten. In: Behinderte Menschen. Graz, (23) 2009; vgl. Schumann, 2009.
3. Lob-Hüdepohl, Andreas: Inklusion nur eine Wortverschiebung? In: Behinderung & Pastoral 9/Dezember 2006, S. 4.
4. UNESCO: Guidelines for Inclusion: Ensuring Access to Education for All, 2005, S. 9; vgl. Schumann, 2009.
5. Vgl. Lob-Hüdepohl, 2006, S. 5.
6. Lob-Hüdepohl, 2006, S. 3.
7. Sennett, Richard: Respekt in Zeiten der Ungleichheit. Berlin, 2002, S. 317 f.
8. Medizinisch bedeutet Behinderung: Krankheit ist vorübergehender Zustand – Behinderung, wo sie nicht vorübergeht. Wenn eine Erkrankung nicht mehr geheilt werden kann, chronisch oder progredient verläuft, wird sie als Behinderung definiert. Behinderung gilt v.a. als Folgeleiden einer Erkrankung, als verbliebener Zustand nach einem Krankheitsprozess. Nach medizinischem Verständnis ist eine vollständige Gesundheit bei Behinderung nicht möglich. Vgl. Gembris-Nübel, Roswitha: Gesundheit und Behinderung : Eine empirische Untersuchung zu subjektiven Gesundheitsvorstellungen bei Fachleuten in der Behindertenhilfe. Frankfurt : Mabuse-Verlag 2005, S. 73.
9. Vgl. Bach, Ulrich: Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Neukirchen, 2006, S. 387 f.
10. „unBehindert Leben und Glauben teilen.“ Wort der deutschen Bischöfe zur Situation der Menschen mit Behinderungen, 2003, S.24.