Der Kick-off in eine gewaltfreie Zukunft
Können sexuell übergriffige Jungen in der Jugendhilfe therapiert werden? "Ja, wenn das richtige Konzept dahintersteht", antwortet Hans Scholten, Leiter des Dormagener Jugendhilfezentrums Raphaelshaus. Dies wurde auch wissenschaftlich bestätigt. Mit dem Institut für Kinder- und Jugendhilfe in Mainz hat das Raphaelshaus eine dreijährige Begleitforschung seiner Otmar-Alt-Gruppe durchgeführt. Auf das Ergebnis kann Scholten stolz sein: "Auch im kritischen Vergleich mit ausgesuchten und ähnlich schwierigen Gruppen der Jugendhilfe haben wir mit unserem Konzept sehr gute Ergebnisse erzielt", erklärt der 60-Jährige. Die Zahlen geben ihm recht: Die Erfolgsquote der Otmar-Alt-Gruppe, die sich an Faktoren wie beispielsweise soziale Integration, Interessen und Freizeitbeschäftigung sowie Selbstsicherheit misst, liegt bei 75 Prozent und ist somit um rund 33 Prozent höher als bei herkömmlichen Therapiemethoden.
Das Raphaelshaus in Dormagen betreut über 250 Kinder und Jugendliche und beschäftigt rund 200 Mitarbeiter(innen). Die zahlreichen Teilsysteme des Raphaelshauses umfassen ambulante, teilstationäre, stationäre, familienanaloge und schulische Angebote für Mädchen und Jungen. "Deutschland ist morgen ohne dich ärmer, wenn wir es nicht mit dir schaffen", lautet einer der Leitsprüche. Im Mittelpunkt der Einrichtung stehen der Mensch und seine gesellschaftliche Bedeutung - auch der Mensch, der Täter geworden ist. Zwar wird die Tat verurteilt, aber der Jugendliche wird intensiv begleitet und soll so Treue, Beständigkeit und Wertschätzung erfahren.
Um besonders schwierige Kinder und Jugendliche entsprechend zu betreuen, entstand 2001 die erste Kick-off-Gruppe1 - die Kurt-Hahn-Gruppe. Die Jungen der Kurt-Hahn-Gruppe haben Erfahrungen mit Diebstahl, Körperverletzung, Raub oder anderen delinquenten und dissozialen Verhaltensweisen. Weil dieses Konzept Erfolge zeigte, eröffnete das Raphaelshaus 2004 auch die Otmar-Alt-Gruppe2. Sieben sexuell auffällige und grenzüberschreitende Jungen unter 14 Jahren werden hier betreut. Sie haben Gewalt und Ausgrenzung erfahren und sind zum Teil traumatisiert. Ihre Lebensgeschichte ließ wenig Raum für Wertschätzung, positiv geprägte Bindungen und Vertrauen. Drei Viertel von ihnen haben bereits einen Psychiatrieaufenthalt hinter sich. Neben der sexuellen Auffälligkeit liegen bei den Jugendlichen im Schnitt zwölf verschiedene Problemlagen vor. Am häufigsten sind Aggressivität sowie Aufmerksamkeits- und Konzentrationsdefizite in Kombination mit Hyperaktivität. "Sie haben aber auch positive Eigenschaften und häufig versteckte Talente, die wir in ihnen wecken", macht Scholten deutlich.
Die notwendige Begleitung und Kontrolle wird durch sieben pädagogische Fachkräfte und einen Lehrer gewährleistet. Sie suchen nach Erklärungen für die Verhaltensmuster, die zur Tat geführt haben. Um diese Muster zu durchbrechen, arbeiten Pädagog(inn)en und externe Therapeut(inn)en Hand in Hand.
Die Kick-off-Gruppen haben einen festen Tagesablauf
"Bei uns gibt’s fast nichts umsonst. Bei uns werden die Jugendlichen gefördert und gefordert", erklärt Hans Scholten. Das Herzstück der Gruppenpädagogik ist ein festgelegter Tagesablauf vom Aufstehen bis zum Zubettgehen. Innerhalb des Tages wird das Verhalten der Jungs dreimal nach verschiedenen Kategorien reflektiert. Selbst- und Fremdreflexion führen zu einer Benotung von eins (sehr gut) bis sechs (ungenügend). Die Note 3 (= befriedigend) kennzeichnet zum Beispiel normales Verhalten, ohne besonderes positives Engagement, aber auch ohne besondere Defizite. Für die einzelnen Wochen gibt es ausgehandelte und reflektierte Wochenziele. Je nach Note und je nachdem, ob das Wochenziel erreicht wurde, gestaltet sich ein Stufenplan, über den einmal in der Woche entschieden wird. Der Plan hat acht Stufen und eine Minusstufe. Jede höhere Ebene ist mit einem Plus an Privilegien und eigenverantwortlicher Zeit verbunden. Bei Abstiegen entfallen diese Privilegien und müssen erneut "verdient" werden. Pro Woche geht es maximal eine Stufe nach oben oder nach unten.
"Damit stellen die Kick-off-Gruppen die gewohnte Gruppenpädagogik von Jugendhilfe auf den Kopf", erklärt Scholten. Dort würden die Jungen zunächst mit allen Rechten und Privilegien in eine Gruppe aufgenommen. Nach einer kurzen, positiv orientierten Erprobungsphase gebe es in der Regel aufgrund von auffälligem Verhalten Sanktionen, die dann die Privilegien (wie zum Beispiel Ausgang) mehr und mehr einschränkten. In den Kick-off-Gruppen dagegen fangen die Jungen bei "Stufe null" an und können sich von dort aus weiterentwickeln. Vier Säulen bilden die Basis des Konzepts:
Erlebnis- und Sportpädagogik fordern heraus
"Das, was die Jugendlichen getan haben, war illegal, hat ihnen aber einen Kick gegeben. Bei uns erhalten sie einen legalen Kick, der das Illegale überflüssig macht", sagt Scholten. Ballsportarten, Schwimmen, Kinderzirkus, Kajak, Kanu, Klettern oder Hochseilgarten - die Gruppe bestimmt selbst ihre Settings, die vorrangig dem Erlernen positiven Verhaltens dienen. Dabei sind 100 Tage Outdoor-Exkursionen im Jahr obligatorisch. Diese Exkursionen sind aber keine Ferien: Auch unterwegs wird das Schulprogramm absolviert. Auf Radtouren lernen die Jungen durchzuhalten, gemeinsam als Gruppe ein Ziel zu erreichen und mit einfachsten Mitteln das Leben zu bewältigen.
Tierpädagogik gibt Selbstwertgefühl
Zwölf Pferde, zwei Kamele, drei Lamas, fünf Hunde, drei Strauße und ein Muli… Während die Erlebnispädagogik die "abenteuerliche" und herausfordernde Komponente bildet, ist die Tierpädagogik ihr zärtliches Gegenstück. Sie dient der Selbsterfahrung und dem Aufbau von Selbstwertgefühl. Kindern und Jugendlichen, die mit Menschen in der Regel sehr schlechte Erfahrungen gemacht haben, ermöglicht sie unverdächtige Annäherung an ein anderes Wesen. "Ein Tier ist arglos und nimmt jeden Menschen so an, wie er ist", erklärt Scholten. Die Jugendlichen - auch die "coolen Jungs" - können also nach Belieben mit den Tieren schmusen. Gleichzeitig lassen die Verantwortung für die Tiere und die Arbeit im Stall ihr Einfühlungsvermögen und ihr Verantwortungsbewusstsein reifen. Damit ist ein erster Schritt für empathisches Verhalten auch gegenüber Menschen getan.
Pädagogen vermitteln Wertschätzung
Das Eins-zu-eins-Verhältnis von Fachkräften und anvertrauten Jungen plus einem Lehrer garantiert eine gute und individuell orientierte Pädagogik sowohl im Indoor- als auch im Outdoorsetting. Zusätzlich zeichnen sich alle Fachkräfte im Raphaelshaus durch Mehrfachqualifikationen aus: Hier gibt es 14 ausgebildete Erlebnispädagog(inn)en, zwölf Zirkuspädagog(inn)en und fünf Tierpädagog(inn)en. Zum Teil haben die Mitarbeiter(innen) auch noch eine handwerkliche Ausbildung oder ganz spezielle Hobbys, mit denen sie sich im Raphaelshaus engagieren. Eine Mitarbeiterin, erzählt Scholten, fuhr mit ihrem Mann auf einem Tandem 2806 Kilometer nach Málaga und sammelte damit 7000 Euro für ein Bauprojekt des Raphaelshauses.
Liebevolle Ausstattung schafft eine anerkennende Atmosphäre
Wer das Gelände des Raphaelshauses betritt, dem fallen sofort die vielen Kunstwerke und die liebevolle Gestaltung der einzelnen Gebäude auf. Die Wertschätzung gegenüber den Jugendlichen und den Mitarbeitenden wird durch eine geschmackvolle Ausstattung mit allen erforderlichen Materialien, Werkzeugen und Möbeln zum Ausdruck gebracht. Diese Ästhetik wird als eine Komponente verstanden, die heilend wirkt. Das hat sich bis heute ausgezahlt: Im Raphaelshaus allgemein, aber insbesondere in den Kick-off-Gruppen, kommt Vandalismus außergewöhnlich selten vor.
Um die Otmar-Alt-Gruppe aufzubauen, brauchte es eine lange Vorbereitungs- und Aufklärungsarbeit in der Einrichtung. Diese Jugendlichen stießen auf eine kritischere Haltung und mehr Abwehr als die Jungen aus der Kurt-Hahn-Gruppe. Natürlich existierte die Klientel der Otmar-Alt-Gruppe auch schon vorher in der Jugendhilfe. Es handelte sich oft um die Jungen, die unauffälliger, angepasster und sozial intelligenter waren. Wenn sie dann durch ihre sexuellen Übergriffe auffielen, wurden sie oft schnell aus der Gruppe herausgenommen. So ging es schließlich von Einrichtung zu Einrichtung.
Konsequenz und Wertschätzung haben sich bewährt
Der gelungene Mix aus Konsequenz, Wertschätzung und Perspektive, der sich in der ersten Kick-off-Gruppe erfolgreich bewährt hat, rechtfertigte den Mut, auf diese neue Zielgruppe zuzugehen. In der Otmar-Alt-Gruppe spielt die Verzahnung von authentischen und moralischen Grundhaltungen eine wichtige Rolle. Im Falle eines Fehlverhaltens wird der Jugendliche unmittelbar mit der Situation und seiner Handlungsweise konfrontiert. Mit einem konzeptionell festgelegten bürgerschaftlichen Engagement gelang der Paradigmenwechsel der stigmatisierten "Parias" zu positiv in Erscheinung tretenden Vertretern der jungen Generation in den Augen der Öffentlichkeit. Erst kürzlich retteten zwei Jugendliche des Raphaelshauses einem Mann mit Wiederbelebungsmaßnahmen das Leben. Dass auch die Anwohner(innen) sich keine Sorgen machen, zeigt der öffentliche Spazierweg, der quer über das sechs Hektar große Gelände führt und rege genutzt wird.
Drei Jahre dauerte die Begleitforschung des Instituts für Kinder- und Jugendhilfe. Das Fazit der Instituts-Mitarbeiter(innen): "Erneute sexuelle Übergriffe konnten trotz anfänglich stark vorhandener sexueller Auffälligkeiten wie beispielsweise einem sexuell geprägten Vokabular oder häufigen sexuellen Gesten sowie bei mehr als einem Viertel aller Jugendlichen vorliegenden abnormen sexuellen Fantasien vollständig verhindert werden. Die Rückfallwahrscheinlichkeit bei Abschluss der Hilfe wird von den Fachkräften insgesamt als gering eingeschätzt."
Die meisten der Jungen sind nach einer zweijährigen Behandlung geeignet, in eine andere Gruppe des Raphaelshauses überzuwechseln oder auch externe Jugendhilfe in Anspruch zu nehmen. Hans Scholten, der selbst mit seiner Familie auf dem Gelände des Raphaelshauses lebt, zieht sein Fazit: "Ich will nicht die ganze Welt verbessern, aber zumindest das kleine Stück, das mir anvertraut ist."
Anmerkungen
1. Kick-off ist der Spielbeginn, der Anstoß im American Football. Das Konzept der Gruppen wurde von Hans Scholten und Pädagog(inn)en des Hauses entwickelt. Die Kinder und Jugendlichen haben in unserer Gesellschaft ebenfalls "Anstoß" erregt. In den Kick-off-Gruppen bekommen sie die Chance zu einem neuen Spiel.
2. Otmar Alt ist ein bekannter zeitgenössischer Künstler aus Hamm, der dem Raphaelshaus eng verbunden ist und die Räume der Gruppe mit seiner lebens- und farbenfrohen Kunst ausgestaltet hat.