Schuldenbefreiung als Chance für einen Neubeginn
Einen gesetzlichen Anspruch auf einen neuen Start in ein schuldenfreies Leben haben überschuldete Menschen in Deutschland seit dem Inkrafttreten der Insolvenzordnung im Jahr 1999. Eine halbe Million überschuldete Menschen haben bis Ende 2008 ein Insolvenzverfahren beantragt. 50.000 von ihnen haben die Restschuldbefreiung bereits erhalten, sind also schuldenfrei.
Die Zahl der Verfahren hat sich seit 2002 alle zwei Jahre mehr als verdoppelt.1 Aufgrund der derzeitigen Wirtschaftskrise ist zu befürchten, dass die bisher höchste Zahl der in einem Jahr beantragten Verfahren, rund 105.000 (2007), überschritten wird. Das Statistische Bundesamt meldete zwar für das Jahr 2008 sieben Prozent weniger Verbraucherinsolvenzen und damit den ersten Rückgang seit 1999. Im ersten Halbjahr 2009 verzeichneten die Verbraucherinsolvenzen jedoch wieder eine Zunahme um vier Prozent auf 50.350 Verfahren.
Lebenslang an der Pfändungsfreigrenze
Bis 1999 mussten viele Schuldner(innen) auf Dauer ein Leben an der Pfändungsfreigrenze führen, denn die Gläubiger(innen)2 konnten 30 Jahre lang und mehr ihre Forderungen mit Zwangsvollstreckungen beitreiben. Seit die Kostenstundung Ende 2001 eingeführt wurde, hat jeder zahlungsunfähige Schuldner Zugang zum Verbraucherinsolvenzverfahren. Davor musste ein Vorschuss in Höhe der gesamten Verfahrenskosten erbracht werden, was viele Schuldner nicht konnten, weswegen sie von der Restschuldbefreiung ausgeschlossen waren.
Die Zahl der beantragten Verfahren ist weit niedriger als die der überschuldeten Personen. Schätzungen gehen von rund drei Millionen überschuldeten Privathaushalten aus. Nur ein Teil davon nimmt das Verbraucherinsolvenzverfahren in Anspruch. Es liegt in erster Linie an den fehlenden Kapazitäten der Schuldnerberatungsstellen, dass nicht mehr Verfahren beantragt werden. Denn der Schuldner muss mit deren Hilfe zunächst eine außergerichtliche Schuldenbereinigung versuchen. Erst wenn diese scheitert, kann das Verbraucherinsolvenzverfahren beantragt werden.
Die Verbraucherinsolvenz bietet redlichen Schuldnern die Chance für einen wirtschaftlichen Neustart. Der Weg in ein schuldenfreies Leben ist jedoch kein Spaziergang: Schuldner müssen zunächst ihr pfändbares Vermögen und dann sechs Jahre lang ihr pfändbares Einkommen an einen vom Gericht bestellten Treuhänder abgeben. Die eingesammelten Beträge werden zunächst für die Verfahrenskosten verwendet und anschließend an die Gläubiger verteilt. Außerdem müssen sich die Schuldner ihren Gläubigern gegenüber sechs Jahre lang "wohlverhalten" und bestimmte Pflichten erfüllen. Insbesondere wird eine Erwerbstätigkeit erwartet oder zumindest das aktive Bemühen darum. Sie dürfen keine vorsätzlich falschen Angaben zu den Gläubigern, zum Einkommen und zum Vermögen machen. Für die allermeisten Schuldner sind dies keine unüberwindbaren Hürden, und sie erlangen die Restschuldbefreiung. Noch offene Verbindlichkeiten werden ihnen erlassen. Von bestimmten Schulden kann man auch durch die Verbraucherinsolvenz nicht befreit werden, zum Beispiel Geldstrafen oder Forderungen aus vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlungen.
Das Verbraucherinsolvenzverfahren eröffnet den überschuldeten Menschen neue Lebensperspektiven. Für sie entlastend ist bereits, dass sie keine Vollstreckungsmaßnahmen einzelner Gläubiger mehr fürchten müssen. Dies kann sich wiederum positiv auf ihre Arbeitsmotivation, auf die Vermittlung in Arbeit beziehungsweise den Erhalt des Arbeitsplatzes auswirken.
Das Leben ist wieder lebenswert
Auch die Überschuldeten selbst sehen die gesetzliche Schuldbefreiung als Chance für einen Neubeginn. So gaben 95 Prozent von 1600 Befragten einer ersten Studie zur Wirksamkeit des Verbraucherinsolvenzverfahrens an, "Verbraucherinsolvenz anzumelden sei das Beste gewesen, was sie tun konnten"3. Gut 70 Prozent der Befragten sprechen von einer gestiegenen Lebensqualität, und fast 55 Prozent bestätigen, dass sich ihre Gesundheit verbessert habe. Für die allermeisten Schuldner ist das Verfahren nur die zweite Wahl: 81 Prozent der Befragten hätten statt der Insolvenzeröffnung lieber ihre Schulden zurückgezahlt.
Für mehr als 80 Prozent von 700 befragten Schuldnern von Berliner Schuldnerberatungsstellen brachte das Insolvenzverfahren konkrete Vorteile4: Es gäbe keine Kontenpfändungen mehr, der Gerichtsvollzieher komme nicht mehr und sie hätten Ruhe vor den Gläubigern. Mehr als 60 Prozent gaben an, sie hätten nun endlich wieder ein sicheres eigenes Girokonto. Und immerhin etwa drei Viertel der Befragten meinten, sie könnten nun ihren Haushalt besser planen.
Schuldner mit Beratungsstellen zufrieden
Schuldnerberatungsstellen sind für überschuldete Menschen wichtige Anlaufstellen, die ihnen den Zugang zum Verbraucherinsolvenzverfahren und damit den Weg in ein schuldenfreies Leben oft erst ermöglichen. Die befragten Schuldner waren sehr zufrieden mit den Schuldnerberatungsstellen. Über 90 Prozent fühlten sich sehr gut oder gut auf das Verfahren vorbereitet. Und nahezu ebenso viele gaben an, dass sie es ohne ihre(n) Berater(in) nicht in das Verfahren geschafft hätten.
In Deutschland gibt es etwa 950 gemeinnützige Schuldner- und Insolvenzberatungsstellen in Trägerschaft der Gemeinden, Landkreise, Kirchen und Wohlfahrtsverbände. Durch ihre Einbindung in das Verbraucherinsolvenzverfahren haben die Schuldnerberatungsstellen eine deutliche Aufwertung erfahren. Die Insolvenzgerichte loben gut vorbereitete Schuldner und aufbereitete Anträge. Auch die in den Verfahren vom Gericht bestellten Treuhänder schätzen die Arbeit der Berater.
Ein Viertel der Beratungen ohne gerichtliche Verfahren
Das gerichtliche Verfahren hat sich positiv auf die Verhandlungsbereitschaft der Gläubiger ausgewirkt. So ist es seit Einführung des Verbraucherinsolvenzverfahrens eher möglich, sinnvolle außergerichtliche Einigungen mit den Gläubigern zu erzielen. Diese gelingen vor allem dann, wenn die Schuldner Zahlungen anbieten können und sie nur wenige Gläubiger haben.
Die Schuldnerberatungsstellen konnten 2007 etwa 16 Prozent der Beratungen mit einer außergerichtlichen Schuldenbereinigung und neun Prozent mit einem vom Insolvenzgericht bestätigten Schuldenbereinigungsplan beenden. Aufwendige gerichtliche Verfahren wurden so vermieden.5
Hilfe nicht nur auf Entschuldung beschränken
Die Ursachen für Überschuldung sind vielschichtig, auch wenn die Auslöser häufig Arbeitslosigkeit, Trennung/Scheidung und andere kritische Lebensereignisse sind. Die Chemnitzer Studie6 legt wie auch andere dar, dass mangelndes Wissen und zu wenig Erfahrung im Umgang mit Geld, Krediten und Finanzdienstleistungen die Überschuldungsgefahr deutlich erhöhen. Deshalb ist ein schneller Insolvenzantrag zwar ein verständlicher Wunsch, aber die Erfahrungen zeigen: Eine bloße Entschuldung greift häufig viel zu kurz. Wenn in der Beratung der Fokus nur auf die Entschuldung gerichtet ist, wird die zehnjährige Sperrfrist, bis nochmals Restschuldbefreiung erlangt werden kann, gar nicht ausreichen, weil bereits wieder neue Schulden entstanden sind. Vorrangiges Ziel der sozialen Schuldnerberatung ist es, eine erneute Überschuldung zu vermeiden.
Eine aktuelle Studie zur Wirksamkeit von Schuldnerberatung in Deutschland belegt, dass sich nach durchschnittlich acht Monaten Beratung die Überschuldungssituation, die Einkommens- und Arbeitssituation, die Lebensqualität, die familiäre Situation und soziale Integration sowie die gesundheitliche und emotionale Befindlichkeit der rund 1000 befragten Personen deutlich verbessert hat.7 Die Autoren gelangen zu dem Ergebnis: "Hilfe zur Selbsthilfe ist der nachhaltigste Weg zum Erfolg in der Schuldnerberatung."
Die Einbindung in das Verbraucherinsolvenzverfahren hat die Arbeit der Schuldnerberatung nachhaltig verändert. Die Beratungsfachkräfte sind zunehmend in berufsfremde Verwaltungstätigkeiten eingebunden. Befürchtungen, dass die soziale Schuldnerberatung dadurch gefährdet ist, sind durchaus ernst zu nehmen.8
Um auf diese Anforderungen adäquat reagieren zu können, benötigt Schuldnerberatung eine Organisationsentwicklung. Die Beratungsfachkräfte brauchen Unterstützung durch qualifizierte Sachbearbeiter wie Rechtsanwaltsfachangestellte, um die Effizienz der Schuldner- und Insolvenzberatungsstellen deutlich zu steigern (vgl. Dokumentation in neue caritas 16 2009, S. 31 ff.).
Vereinfachtes Verfahren für masselose Schuldner
Viele Schuldner verfügen über kein pfändbares Einkommen und Vermögen, das heißt, es gibt kein Geld an die Gläubiger zu verteilen. Dennoch durchlaufen auch die masselosen Schuldner das aufwendige und teure Insolvenzverfahren. Mit einem vereinfachten Entschuldungsverfahren für diesen Personenkreis ließen sich Gelder einsparen, die für die dringend gebotene Beratung der Schuldner eingesetzt werden könnten. Voraussetzung für ein solches Verfahren wäre, dass dem Insolvenzgericht verlässliche Informationen über das Einkommen und Vermögen der Schuldner vorliegen. Dafür könnten die Schuldnerberatungsstellen sorgen.
Kürzere Wohlverhaltensphase angestrebt
Eine nachhaltige Wirkung der Restschuldbefreiung ist nur zu erreichen, wenn sich die Situation der Schuldner bereits vor dem Verfahren verbessert. So bringt die vor kurzem beschlossene Einführung eines Pfändungsschutzkontos (siehe neue caritas 16 2009, S. 15) bei der Kontenpfändung erhebliche Entlastung für die Schuldner. Es fehlt aber nach wie vor ein wirksamer Vollstreckungsschutz bei der außergerichtlichen Schuldenbereinigung.
Der Gesetzgeber hat die Laufzeit der Wohlverhaltensphase mit der Reform Ende 2001 bereits um ein Jahr verkürzt. Seitdem wird auch die Dauer des gerichtlichen Verfahrens angerechnet.9 Trotzdem sind sechs Jahre für die Schuldner zu lang. Die Zeit von der ersten Anfrage bei der Schuldnerberatung bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens kommt noch hinzu.
In Fachkreisen wird eine fünfjährige Wohlverhaltensdauer als völlig ausreichend erachtet, zumal es - mit Ausnahme von Österreich - in den anderen europäischen Staaten kürzere Laufzeiten gibt. Die Erfahrungen der Beratungspraxis zeigen, dass es weniger der Wohlverhaltenszeitraum ist, der die gewünschten Einstellungs- und Verhaltensänderungen bei den Schuldnern bewirkt. Die von der Schuldnerberatung angestrebten Lern- und Erfahrungsprozesse setzen lange vor dem Insolvenzverfahren ein. Auch aufseiten der Gläubiger glaubt man nicht so recht an die erzieherische Wirkung, die das deutsche Insolvenzrecht mit der langen Frist bis zur Restschuldbefreiung auf die Schuldner entfaltet.10 Nicht zuletzt geht es um eine zügige berufliche und soziale Integration der überschuldeten Menschen.
Die derzeitige wirtschaftliche Krise wird noch mehr Schuldner als bisher in die Schuldenfalle treiben. Deshalb muss die Schuldnerberatung stärker als bisher präventiv arbeiten. Es gilt die Insolvenz zu vermeiden und durch frühzeitige Budgetberatung zu erreichen, dass sich die gefährdeten Haushalte besser auf die veränderten Verhältnisse einstellen können.
Die Beratungsstellen können der großen Nachfrage bei weitem nicht nachkommen. Deshalb sollte das Beratungsnetz dringend ausgebaut werden. Es bedarf neuer gesetzlicher Finanzierungsgrundlagen, um den zeitnahen Zugang zu kostenloser Schuldnerberatung sicherzustellen. Für 25.000 Einwohner müsste es mindestens eine Beratungsfachkraft geben.
Viele Schuldner wissen nicht, an wen sie sich wenden können. Einerseits wird durch die Medien bekannt, dass es unseriöse Anbieter gibt, andererseits fehlt es an Klarheit bei den seriösen Angeboten. Ratsuchende können sich im Internet unter: www.forum-schuldnerberatung.de und www.meine-schulden.de über die nächstgelegenen Beratungsstellen informieren. Dieses Angebot erreicht jedoch viele Schuldner nicht. Die Amtsgerichte wie auch Gerichtsvollzieher sollten Auskunft geben, welche Beratungsstellen bei den Insolvenzgerichten als geeignet anerkannt sind. Rheinland-Pfalz geht mit gutem Beispiel voran: Dort wurde das Landesgesetz zur Ausführung der Insolvenzordnung geändert, um überschuldete Menschen vor unseriösen Schuldenregulierern zu schützen.
Viele Amtsgerichte verweigern die vom Bundesgesetzgeber vorgesehene Beratungshilfe für die Beratung und Unterstützung mittelloser Schuldner im Verbraucherinsolvenzverfahren durch Rechtsanwälte. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch ausdrücklich hervorgehoben, dass es Beratungshilfe für die außergerichtliche Schuldenbereinigung grundsätzlich geben kann. Allerdings ist die Bewilligung nur gerechtfertigt, wenn die Beratung durch eine anerkannte Schuldner- und Insolvenzberatungsstelle nicht möglich oder wegen der langen Wartezeiten unzumutbar ist.
Die Beratungshilfe greift zu kurz. Es mehren sich die Fälle, dass Schuldner nach einer anwaltlichen Beratung zur Schuldnerberatung kommen und Hilfe beim Ausfüllen ihres Insolvenzantrags brauchen. Hier ist der Gesetzgeber gefragt, die Beratungshilfe so zu erweitern, dass sie beim Beantragen des Insolvenzverfahrens unterstützen kann. Diesen Weg hat der Bundesgerichtshof bereits vorgezeichnet.
Anmerkungen
1. Angele, Jürgen: Überschuldung der Privathaushalte in Deutschland. In: Schuldenreport 2009. Fakten, Analysen, Perspektiven. Deutscher Caritasverband e.V. u.a. (Hrsg.), Berlin/Freiburg, 2009, S. 18f.
2. Der Lesefreundlichkeit wegen wird die weibliche Form "Schuldnerin" und "Gläubigerin" im weiteren Text nicht aufgeführt. Frauen sind an entsprechender Stelle mitgemeint.
3. Lechner, Götz; Backert, Wolfram: Menschen in der Verbraucherinsolvenz : Rechtliche und soziale Wirksamkeit des Verbraucherinsolvenzverfahrens. Universität Chemnitz, 2007.
4. Landesarbeitsgemeinschaft Schuldner- und Insolvenzberatung Berlin e.V.: Das Verbraucherinsolvenzverfahren : Eine Zwischenbilanz aus Schuldnersicht. Berlin, 2006.
5. Angele, Jürgen: a.a.O., S. 27.
6. Lechner, Götz; Backert, Wolfram: a.a.O.
7. Kuhlemann, Astrid; Walbrühl, Ulrich: Wirksamkeit von Schuldnerberatung in Deutschland : Expertise im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Frauen, Senioren und Jugend. Gummersbach, 2007. Auch: 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung : Lebenslagen in Deutschland. Juli 2008.
8. Buschkamp, Heinrich-Wilhelm: Schuldnerberatung im 21. Jahrhundert - Vortrag bei der Fachwoche Schuldnerberatung von Caritas und SKM am 5. Juni 2008 im Kloster Bernried, Infodienst Schuldnerberatung Nr. 1/2009, S. 11-25.
9. Seit 1.12.2001 beginnt die sechsjährige Frist mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Vor der Reform begannen die sieben Jahre erst mit Aufhebung des gerichtlichen Verfahrens, das durchaus ein Jahr und länger dauern konnte.
10. Amann, Melanie: Auf der Flucht vor dem Gläubiger. FAZ Nr. 167 vom 22.7.2009.