Die Armut hinter den Zahlen bekommt Gesicht und Stimme
Weil die Landesregierung bislang nicht von einer regelmäßigen Armuts- und Reichtumsberichterstattung für das Land Baden-Württemberg überzeugt werden konnte, hat sich die Caritas dieses Projekt zu eigen gemacht. Der Caritasverband und der Diözesanrat der Diözese Rottenburg-Stuttgart haben zusammen mit dem Caritasverband für die Erzdiözese Freiburg das Stuttgarter Institut für angewandte Sozialwissenschaften (Ifas)2 mit einer eigenen Studie beauftragt.
Die Studie kommt zum richtigen Zeitpunkt und weist auf die Wirkungen von Armut in einer krisenhaften Entwicklung hin. Sie stellt auch eine Verbindung dar zu den Jahreskampagnen des Deutschen Caritasverbandes (DCV) in den Jahren 2007, 2008 und 2009, in denen durch die Befähigungs- und Teilhabeinitiative wichtige Schritte zu mehr Teilhabe von sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen gegangen worden sind. So wie die aktuelle Kampagne die Frage nach einer sozial gerechteren Gesellschaft stellt, hat die Studie Armutslagen von Kindern und ihren Familien in den Mittelpunkt gestellt und deutlich gemacht: Es gibt auch in Baden-Württemberg extreme Armut, unter der Kinder leiden und wegen der sie zu einem sehr frühen Zeitpunkt in ihrem Leben wichtige Zukunftschancen einbüßen.
Die sozialarbeitswissenschaftliche Studie stellt den Menschen in den Mittelpunkt und gibt den Menschen hinter den Zahlen ein Gesicht und eine Stimme. Die Expertise erhebt so einen normativen Anspruch an ein sozial gerechtes und gelingendes Kinder- und Familienleben, in dem die selbstbestimmte Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern und an der Gemeinschaft von zentraler Bedeutung ist.
Die Studie macht deutlich, dass Kinderarmut mehr ist als ökonomische Armut. Nach Amartya Sen3 ist Kinderarmut gleichbedeutend mit einem Mangel an fundamentalen Entwicklungsmöglichkeiten. Es handelt sich also auch um die Aneignung von Fähigkeiten im körperlichen, kognitiven, kulturellen, sozialen und persönlichen Bereich. Damit ist eine Verbindung zum Fähigkeitenansatz4 und der Befähigungsinitiative des DCV hergestellt.
Als quantitative und qualitative Datengrundlage standen mehr als 4000 Expertenfragebögen aus nahezu allen Caritas-Diensten sowie 40 Interviews mit Kindern und Eltern im Sozialraum zur Verfügung.
Zunächst nähert sich auch diese Studie der Ausprägung von Armut durch den relativen Armutsbegriff der europäischen Union. Demzufolge gilt als arm, wer in einem Haushalt lebt mit einem Äquivalenzeinkommen von weniger als 60 Prozent des Medians der Einkommen in der ganzen Bevölkerung. Bezogen auf das im Bundesland erzielte Nettoäquivalenzeinkommen leben damit in Baden-Württemberg 10,9 Prozent der Menschen in relativer Armut und somit jede(r) elfte Bürger(in) (siehe Kasten). Einen weiteren Einkommensindikator stellen Sozialgeldbezug oder Leistungen zur Grundsicherung nach dem SGB II dar. Die Studie bleibt bei diesen Zahlen aber nicht stehen, sondern basiert vielmehr auf einem mehrdimensionalen, normativen Armutsverständnis. Danach geht Einkommensarmut mit Entwicklungschancen- und Teilhabechancenarmut einher und nimmt drei verschiedene Ausprägungen an:
Akut armutsgefährdet sind Kinder in Familien, die ohne staatliche Transferleistungen wie ALG II ihren täglichen Bedarf nicht decken können. Wenn die sozialen Netze tragen, Kinder mit ihren Familien integriert sind und die Erwachsenen materiellen Mangel emotional ausgleichen können, haben die Kinder gute Chancen. Löst die schlechte ökonomische Lage jedoch eine permanente Krise in der Familie aus, schwinden die Entwicklungs- und Teilhabemöglichkeiten der Kinder.
Manifeste Kinderarmut besteht, wenn sich die permanente finanzielle Mangelsituation und Unterversorgung negativ auf die Lebenswelt der Kinder auswirken.
Extreme Kinderarmut tritt dann auf, wenn zusätzliche soziale und wirtschaftliche Probleme wie Überschuldung, Drogenabhängigkeit oder Langzeitarbeitslosigkeit die Situation der Familien verschärfen. Psychische und physische Folgeschäden sind bereits eingetreten und das Kindeswohl ist akut gefährdet.
Die Studie hat erstmals die altersbezogenen Armutsquoten von Kindern im SGB-II-Bezug in Baden-Württemberg erhoben und festgestellt, dass das Armutsrisiko umso höher ist, je jünger die Kinder sind. Insbesondere alleinerziehende oder sehr junge Mütter und Frauen mit geringer Schulbildung oder fehlendem Schulabschluss stehen unter einem hohen Bewältigungsdruck und haben geringe Chancen, die Armutslage verlassen zu können.
Gemäß dem verbandlichen Handeln und dem Fachkonzept der integrierten Hilfen für Familien5 hat die Studie bei der Analyse, Beschreibung und Bewertung der Entwicklungsdimensionen durchgängig auf drei wichtige Ebenen Bezug genommen: die Welt und die Bedürfnisse des Kindes, die Familie als soziales Netz und die Ausstattung des Sozialraums mit Ressourcen und Netzwerkpotenzialen.
Es mangelt an Entwicklungs- und Teilhabechancen
Im Zentrum der Studie steht die Beschreibung der unterschiedlichen Armutslagen, in denen die fünf wichtigen kindlichen Entwicklungsdimensionen zum Ausdruck kommen. Es ging vor allem um die (Aus-)Wirkungen, wenn Kinder einen Mangel erleiden oder in ihrer Entwicklung beeinträchtigt werden: In den Interviews waren deshalb Fragen nach dem Alltag, der Zukunft der Kinder und die persönlichen Sichtweisen hilfreich.
"…dann verdrück’ ich mich und schluck’ alles runter!" - Armut macht krank
Eine Mutter schildert im Interview die alltägliche Plackerei, wenn es darum geht, sich um das tägliche Überleben zu sorgen und Existenzängste auszuhalten. "Irgendwann ist es dann so weit, man hat auf das einfach keine Lust mehr, dass es immer das Gleiche ist, jeden Tag das Gleiche."
"Deutsch, Deutsch, Deutsch ist mein Problem!" - Armut macht perspektivlos
Eltern fehlt häufig das Interesse an den kindlichen Bildungswegen und Möglichkeiten. Auch tun sie sich oft schwer, die eigenen Kinder zu ermutigen, zu unterstützen und ihnen geeignete Lernanreize zu bieten. Sie erleben sich hilflos, gegen den Stress anzukämpfen.
"Ich kann’s mir nicht leisten, dass ich sagen kann, lad’ ein paar Freunde von dir ein" - Armut engt ein
Armut wirkt in sogenannten sozialen Brennpunkten besonders beengend. Häufig handelt es sich um geschlossene familiäre Systeme, in denen Scham, Überforderung und fehlende Problembewältigung kumulieren.
Ein Kind schildert: "Manchmal streiten die sich so arg, dass meine Mama was auf den Boden schmeißt."
"Kultur? Kann ich nicht viel damit anfangen" - Armut grenzt aus
Zwischen Reizarmut und Reizüberflutung suchen sich arme Familien und ihre Kinder die nötige Ablenkung und Zerstreuung. Tatsächlich hat der eigene kulturelle Hintergrund keine Wertigkeit. Vielmehr ist es erstrebenswert, mithalten zu können, was die Ausstattung mit neuen Medien anbelangt, und sich durch grenzenlosen Konsum die Langeweile zu vertreiben.
"Ich wär’ gern ein Einhorn, weil es schön ist und fliegen kann" - Armut ist entwertend
Im persönlichen Bereich erleben sich sowohl Kinder als auch Eltern emotional überfordert. Eltern geben negative Selbstbilder an ihre Kinder weiter und verstärken dadurch Resignation, Abwertung und Gleichgültigkeit. Die mangelnde Selbstachtung bei Erwachsenen und Kindern geht oft einher mit einem sehr geringen oder nicht vorhandenen Raum für die persönliche Entfaltung.
Armut nicht nur in Krisenzeiten
- Kinderarmut in Baden-Württemberg existiert in Form von akuter Armutsgefährdung, manifester Armut und extremer Armut. Die Studie gibt ein begriffliches Verständnis von Armut und leistet damit einen Beitrag zur Grundlagenforschung.
- Kinderarmut kann nicht allein auf ökonomische Armut reduziert werden. Sie ist mit einem Mangel an Entwicklungs- und Teilhabechancen gleichzusetzen. Die Fokussierung der sogenannten "ökonomischen Lage von Familien" ist eine Engführung, weil für eine gesunde kindliche Entwicklung weit mehr erforderlich ist als die ökonomische Absicherung.
- Kinderarmut resultiert aus der Armut von Familien und Eltern und verstärkt die soziale Ungleichheit/Ungerechtigkeit. Soziale Probleme haben ihre Ursache in Armutslagen (Arbeitslosigkeit, fehlende soziale Kontakte, Krankheit, Bildungsferne), die sich häufig selbst reproduzieren und sozial vererben.
- Akute Armutsgefährdung kann alle Milieus, Geschlechter, Kulturen und Ethnien - insbesondere in Krisenzeiten - heimsuchen. Die Studie zeigt auf, dass Eltern die Kompetenz erwerben können, Mangellagen in der Entwicklung ihrer Kinder auszugleichen, wenn sie Zugang zum Hilfe- und Bildungssystem haben.
- Die untersuchte und vorgefundene Armut - insbesondere die manifeste und die extreme - ist weniger dynamisch als vielmehr stabil mit der Tendenz zur Chronifizierung. Die Abwärtsdynamik erzeugt Frustration, Resignation, Perspektivlosigkeit und Isolation. Die Durchlässigkeit zwischen den Milieus ist gering.
Für das Land Baden-Württemberg ist eine regelmäßige Armuts- und Reichtumsberichterstattung notwendig. Sie bildet die Grundlage für eine vorausschauende Kinder- und Jugendhilfeplanung, damit Armutsgefährdung, manifeste Armut und extreme Armut in Familien aufgedeckt und ihr entgegengewirkt werden kann.
Armutsprävention braucht verlässliche Strukturen
Es sind verlässliche ressortübergreifend abgestimmte Rahmenbedingungen und Ressourcen zur Armutsprävention und Vermeidung von Kinderarmut anzustreben (interministerielle Arbeitsgruppe). Kinderarmut muss in Verbindung mit Familienarmut untersucht, verstanden und bekämpft werden. Ein Ansatzpunkt sind zweifellos verbesserte Zugangsmöglichkeiten zu Bildung, Ausbildung und Erwerbsarbeit.
Es braucht verlässliche Voraussetzungen für Leistungserbringer in ihrem Engagement für gelingendes Aufwachsen von Kindern in armen Familien. Die Vielzahl der etablierten wohlfahrtsverbandlichen Dienste und Einrichtungen muss in die Lage versetzt werden, auf Armutsgefährdung, manifeste und extreme Armut je spezifisch zu reagieren und dieser vorzubeugen (zum Beispiel frühzeitige Abstimmung und Kooperation von niedrigschwelligen frühen Hilfen und Bildungsangeboten, früher Förderung/Bildung, früher Betreuung und Erziehung in Kita, Familie und außerfamiliärer Betreuung und Familienbildung).
Solidarisches, bürgerschaftliches Engagement benötigt einen Rahmen und verlässliche Strukturen. Dabei ist auch an neue Formen der Solidarökonomie zu denken (zum Beispiel Genossenschaften, Tauschringe, Bürgerstiftungen). Auf diese Weise kann zwischenmenschliches solidarisches Handeln mit der politischen Solidarität zusammenwirken.
Das Menschenrecht auf Gesundheit und Bildung von Anfang an einzulösen ist eine zentrale Aufgabe unserer Zeit. Damit ist der selbstverständliche Zugang von Familien mit Kindern zur Kindertagesbetreuung, zur Erziehung in der Gemeinschaft und zur Teilhabe an der Vielfalt von Kultur und Religion gemeint. In diesem Zusammenhang gilt das Plädoyer für den Kita-Ausbau für Ein- bis Dreijährige und den kostenlosen Kitabesuch zunächst für arme Familien (ALG-II-Bezug, beziehungsweise Bezieher von Sozialgeld).
Eine Studie zur Kinderarmut, in der Kinder und Mütter mit ihren Bedürfnissen zu Wort kommen, fordert die Politik heraus und fordert Antworten von der Politik. Die Befähigung zum selbstbestimmten Leben beginnt mit der Wertschätzung und Achtsamkeit für jedes einzelne Kind. Die Politik ist gut beraten, eine Kultur der achtsamen Familien- und Kinderfreundlichkeit im ganzen Land anzuregen. Darauf sind vor allem jene Familien angewiesen, die auf der Schattenseite des gesellschaftlichen Wohlstands leben und ihren Alltag zu bewältigen suchen.
Anmerkungen
1. Die Studie ist für eine Schutzgebühr von 20 Euro zuzüglich Versandkosten zu beziehen beim Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Bereich Sozialpolitik und soziale Hilfen, Strombergstraße 11, 70188 Stuttgart, E-Mail: grimm@caritas-dicvrs.de
2. www.dhbw-stuttgart.de
3. Amartya Sen ist Professor der Wirtschaftswissenschaften an der Harvard University in Cambridge (Massachusetts). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Problematik der Armut und die Wohlfahrtsökonomie.
4. Nussbaum, Martha: Gerechtigkeit oder das gute Leben. Frankfurt/Main, 1999.
5. DiCV Rottenburg-Stuttgart (Hrsg.): Vom Menschen aus gedacht : Integrierte Hilfesysteme für Familien. Stuttgart, 2007.