Gemeinsam sind wir stark - eine Utopie wird Wirklichkeit
Die Bürgergesellschaft ist die Atemluft der Freiheit. Wenn man in einer freien Gesellschaft leben will, dann lebt man in einer Gesellschaft, die die Bürger selber gestalten."1 Mit dieser Utopie eröffnete Ralf Dahrendorf seinen Vortrag auf dem vierten Treffen der Europäischen Freiwilligen-Universität in Freiburg. Wie den Armen dieser Welt diese "Atemluft der Freiheit" bekommt, ist täglich den Medien zu entnehmen. Utopien können blind machen und den Blick für die soziale Wirklichkeit verstellen. Die Vision von der freien Bürgergesellschaft verkommt zum Sedativum, wenn sie dazu verleitet, von ressourcenschwachen Menschen gebetsmühlenartig zu fordern, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen müssen.
In diesem Beitrag geht es um eine andere Utopie. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Immer mehr Menschen verarmen. Die traditionelle Wohlfahrtspflege ist am Ende. Manche prognostizieren bereits einen Pflegenotstand. Die Hoffnungen in dem neu ausgerufenen aktivierenden Sozialstaatsmodell richten sich auf neue Formen eines "Bürger-Profi-Mixes", in dem sich Freiwillige, Ehren- und Hauptamtliche in überschaubaren Lebens- und Sozialräumen organisieren und lokale Sozialprojekte entwickeln. Diese Diskussion wird auf nationaler und internationaler Ebene geführt. Josua Cohen von der Stanford University spricht in seinem Vorwort zu "Making aid work" (frei übersetzt: "Damit Hilfe funktioniert") die Ohnmacht globaler Entwicklungs- und Sozialpolitik an und setzt die ganze Hoffnung auf lokal verantwortete Projekte an der Basis: "To work on the ground, get ,inside the machine‘ and simply try things out and see what works" ("Um vor Ort zu arbeiten, müsst ihr mittendrin mitmischen und einfach Dinge ausprobieren und schauen, was funktioniert").2 Cohen nimmt dabei Sozialräume in den Blick, in denen eine gruppen- und gemeinwesenvermittelnde Gegenseitigkeitskultur Gestalt gewinnen kann - eine Kultur, die Hamberger folgendermaßen beschreibt:
"Sozialraum ist der von Menschen angeeignete und in der Auseinandersetzung erfahrene Raum, den ich kenne, in dem ich mich auskenne, ein Raum, in dem ich über Beziehungen verfüge, auch über Ressourcen, in dem es Probleme gibt; er ist also der Raum, in dem ich konkret meinen Alltag bewältigen muss, im Kontext der Vorgaben zwischen dem, was die Strukturpolitik an Wohnmöglichkeiten, an Arbeitsmöglichkeiten bietet, was vielleicht an Spielflächen eingerichtet ist, was an Traditionen in einem Dorf oder in einem Stadtteil herrscht."3
Theodor Strohm, der Nestor der Diakonik in der evangelischen Theologie, entwickelt ähnliche Visionen. Er hat sich mit der Rede des Sozialreformers Johann Hinrich Wichern auf dem Kirchentag zu Wittenberg 1848 beschäftigt, die als "Wichern I" zum Startschuss für die evangelische Diakonie wurde. Für die Gegenwart macht er sich zum Anwalt für ein "Wichern III" mit neuen Koordinaten für die zukünftige Arbeit von Diakonie und Caritas. Nach außen ist für Strohm "diakonische Arbeit (…) heute nicht mehr ohne Bündnisse, Vernetzungen und Zusammenarbeit mit anderen sozial engagierten Verbänden, Gruppen und einzelnen Menschen möglich".4 Er plädiert für eine ökumenische Vernetzung und Kooperation mit nichtkirchlichen Einrichtungen. Innerhalb der evangelischen Kirche seien verbandliche, gemeindespezifische und selbsthilfeorientierte diakonische Aktivitäten zusammenzuführen. Jenseits von Kongressen und den Leerformeln wohlklingender Leitbilder müsse die Theorie in die Praxis hineindekliniert werden. Nur, diese Theorie gibt es noch nicht. Hier beginnen die Probleme, mit denen sich seit dem II. Vatikanum auch die Vertreter(innen) einer diakonischen Pastoral in der katholischen Kirche beschäftigen.
Nicht zuschauen, sondern etwas tun
Das Projekt "Diakonie im Lebensraum der Menschen", dessen Ergebnisse im Herbst unter dem Titel "Menschen brechen auf - Gemeinden und Caritas bilden Netze"5 veröffentlicht werden, hat eine lange Geschichte. Stefan Schohe und Rudolf Devic kommen in ihrem Beitrag in neue caritas 15/2008 auf sie zu sprechen. Dieses Projekt verdankt seine Anfänge nicht den Expertisen von Theoretiker(inne)n, sondern dem Ringen von Praktiker(inne)n in Caritas und Pastoral, die daran arbeiten, dass zusammenwächst, was zusammengehört: Diakonie und Pastoral. Lange vor der Enzyklika "Deus caritas est" von Papst Benedikt XVI. haben sie die Zeichen der Zeit erkannt und - manchmal belächelt - an einer Diakonisierung der Pastoral gearbeitet und vor Ort in Projekten Erfahrungen gesammelt. Nur so ist es zu verstehen, dass wir in einer ersten Erhebung bei den Caritasverbänden und Seelsorgeämtern der Diözesen auf 353 sozial- und lebensräumliche Projekte gestoßen sind. "Wichern III" - die Forderung von Strohm - ist damit bereits im Kommen!
Schon 1968 griff ein Studientag das Thema "Caritasarbeit der Kirchengemeinden" auf. Konfrontiert mit Ballungszentren, Neubaugebieten, sozialen Brennpunkten und der anstehenden Integration von Gastarbeiter(inne)n und Immigrant(inn)en setzte man große Hoffnung auf eine caritative Mobilisierung der Pfarrgemeinden. Damals war den Verantwortlichen schon klar, dass weder Verbände noch andere überregionale Organisationen in Kirche und Staat mit ihren Initiativen im Vergleich zu den Kirchengemeinden die Reichweite und Tiefenwirkung entwickeln konnten, um auf Augenhöhe mit den Armen ihre Probleme zu lösen. Die Auswertung erster Projektberichte durch den Diakon und Sozialarbeiter Hannes Kramer und den Theologen Walter Dennig6 im Jahre 1974 fiel jedoch sehr ernüchternd aus:
- In den Kirchengemeinden fehlt eine umfassende Reflexion sozialer Problemsituationen.
- Die Arbeit der Gemeinden mit "Problemzielgruppen" wird als besonders schwierig bezeichnet.
- Eine klare Zielorientierung wird vermisst.
- Rolle und Selbstverständnis des Sozialarbeiters in der Kirchengemeinde bleiben unklar.
- Deutlich zeichnen sich die Grenzen gut gemeinter Aktivitäten von Ehrenamtlichen ab.
- Die mangelnde Zielorientierung gründet in einem unreflektierten Gemeindeverständnis.
Die beiden Autoren sprechen von Ziel- und Rollenkonflikten, von Autoritäts- und Interessenkonflikten. Ohne diese klaren Worte und den Mut, mit kleinen Gruppen gemeindecaritative Projekte zu starten, wäre vermutlich nie der Prozess in Gang gekommen, der letztendlich auch zum Forschungsprojekt geführt hat.
Jemand muss die Lunte legen
Das Lamento ist bekannt. Mitarbeiter(innen) der Caritas klagen, dass die braven Kirchgänger(innen) in den Pfarrgemeinden vom Haupt bis zu den Gliedern den Überlebenskampf nicht mitbekommen, in dem viele Menschen in den entsprechenden Sozial- und Lebensräumen stehen. Umgekehrt stellen Insider fest: Die Institutionalisierungs- und Professionalisierungswelle in der Verbandscaritas habe dazu geführt, dass die Gemeinden aus ihrer caritativen Verantwortung ausgestiegen seien. In den untersuchten Projekten wurde dieses Schwarzer-Peter-Spiel beendet. Entscheidend ist nicht, wer die Lunte legt, sondern dass jemand die Augen aufmacht und sagt: So kann es nicht weitergehen!
In acht Projekten ging die Initiative eindeutig von den Mitarbeiter(inne)n der Pastoral aus, in sieben von Verantwortlichen in der verbandlichen Caritas. Bei der exakten Analyse hat sich dann gezeigt, dass in 14 von 22 Fällen schon vor Projektbeginn Verband und Gemeinde miteinander kooperierten. Der Startschuss kam in den meisten Fällen von Menschen, die in Gemeinden und Verbänden engagiert waren und als Christ(inn)en die materielle und kommunikative Not von Menschen, denen sie tagtäglich über den Weg gelaufen sind, verbessern wollten.
Folgende inhaltliche Schwerpunkte prägten die Arbeit in den 22 Projekten: Hilfen in Familien, der Erziehung oder der Pflege (vier Projekte), Kinder- und Jugendarbeit (drei Projekte), Integration von Migrant(inn)en (drei Projekte), präventiv-offene Stadtteilarbeit (acht Projekte) sowie Besuchsdienste, Frauenarbeit, Alleinerziehende (vier Projekte). Dabei richtete sich in fast allen Projekten die Initiative nicht auf eine konfessionelle Klientel, sondern war für alle Bewohnergruppen offen. In der Mehrzahl der Projekte stimmten der Lebensraum der Bewohner(innen) und das Projektgebiet überein. Natürliche Verbündete in der Lebensraumarbeit waren die Institutionen, die ebenfalls im sozialen Bereich tätig waren und nicht in Konkurrenz zu den Initiatoren standen. Dazu gehörten Ämter, Schulen, Kindergärten, Polizei, karitative Gruppen, Bürgerinitiativen, zum Teil auch andere Wohlfahrtsverbände und Wohnungsbaugesell- schaften. Die ökumenische Zusammenarbeit hielt sich in Grenzen.
Probleme schweißen zusammen
Ein weiteres Problem, auf das bereits Hannes Kramer gestoßen ist, betrifft die Kooperation zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen. Die einen fürchten um ihre Arbeitsplätze, die anderen kommen mit ihren Kompetenzen nicht zum Zuge. Vor diesem Hintergrund wurde am Beginn in den Projekten mit einem großen Konfliktpotenzial gerechnet und der Leitfaden für die Gespräche entsprechend ausgelegt. Es kam anders. Die Zusammenarbeit zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen empfanden die Interviewten durchweg als geglückt. Die Arbeit an den konkreten Problemlagen schweißte alle Beteiligten zusammen und führte zu Erfolgserlebnissen, die niemand zu Beginn für möglich gehalten hätte, zum Beispiel wenn Kinder im Geldener Stadtteilprojekt selbst die Verantwortung für ihren Lebensraum übernahmen und in einem Brief an das Stadtparlament mehr und besser gepflegte Spielplätze einforderten.
Die Längsschnittanalysen zu den einzelnen Projekten zeigen, dass es sehr schnell zwischen den Haupt- und Nebenamtlichen aus Verbänden und Kirchengemeinden zu einer gelungenen und sinnvollen Arbeitsteilung kam. Während Sozialarbeiter(innen) und Sozialpädagog(inn)en ihre Kompetenzen in die Leitung, Organisation, das Management und die Sozialraumanalyse einbrachten, waren die Mitarbeiter(innen) der Pastoral - in der Mehrzahl Pastoral- und Gemeindereferent(inn)en - mit der Beziehungsarbeit zwischen den Menschen im Projekt und den Gemeinden und der Gewinnung von Ehrenamtlichen beschäftigt. Der Traum von Klaus Dörner, Professor für Psychiatrie, hat in vielen Projekten schon Gestalt gewonnen. Er stellte sich vor, dass die diakonischen Profis, die für (zum Beispiel in Heime) abgeschobene Hilfsbedürftige einer Region zuständig sind, gemeinsam mit diesen in die Region zurückkehrten und sich mit den dortigen Kirchenbürgern vereinigten. "Das ergäbe ein kaum zu schlagendes Modell an Bürger-Profi-Mix, an Ressourcendichte und damit an kommunaler Lebendigkeit."7
Wenn Kirchengemeinden sich den sozialen Herausforderungen in ihrem Lebensraum verschließen, hat dies oft seinen Grund in nicht bewältigten Ohnmachtserfahrungen und Berührungsängsten. "Wir können denen eh nicht helfen!" Hier liegt die eigentliche spirituelle Herausforderung der Lebens- und Sozialraumarbeit. Die Menschen in den Brennpunkten wissen, dass ihre Lage nicht von heute auf morgen veränderbar ist. Sie brauchen aber Menschen, die ihre Not sehen, sich an ihrer Seite einfinden und bereit sind, mit ihnen den ersten Schritt zu setzen. Vielleicht liegt hier die eigentliche Aufgabe von Christengemeinden in sozialen Brennpunkten.
Wenn aus Bewohnern Akteure werden sollen
Ein gelingendes Empowerment, der Aufbau partizipativer Strukturen in den Räumen und die Aktivierung der ressourcenarmen Bewohner(innen) bestimmten in den meisten Projekten die Zielvorgaben, die jedoch in der Umsetzung zu modifizieren waren. Die Arbeit gestaltete sich dabei in drei Stufen. Am Anfang dominierten niederschwellige Angebotsstrukturen, die von den Bewohner(inne)n konsumiert werden konnten (Tafeln, Kinderläden, Beratungen, Übersetzungsdienste, Ämterbegleitungen, Angebote für Kinder, Hausaufgabenhilfe). Darauf aufbauend gab es Gruppenangebote, die sich an den Ideen und Initiativen der Bewohner(innen) orientierten. Schließlich bestand dann die Möglichkeit für die Bewohner(innen), in leitender Tätigkeit Gruppen zu übernehmen, Initiativen zu gründen und dafür die Räumlichkeiten der Haupt- und Ehrenamtlichen zu nutzen. In einem Projekt, das sich an der reinen Lehre des Empowermentprinzips orientierte, hat es zehn Jahre gedauert, bis der Funke von den Initiator(inn)en auf die Bewohner(innen) übersprang und die Menschen sich Schritt für Schritt auf die Gestaltung ihres Sozial- und Lebensraumes einließen. Dafür war der Mobilisierungseffekt umso nachhaltiger. Das Aushalten der Divergenzen zwischen Bewohnerzielen und den Vorstellungen der Projektträger bestimmte die konkrete Arbeit. Die Erwartungen an die Methoden lebensweltlicher und lebensräumlicher Arbeit konnten deshalb in den meisten Projekten nicht ganz erfüllt werden.
Was können die lernen, die anfangen wollen?
Jedes Projekt läuft anders. Es gibt kein Modell, das zu kopieren ist. Trotzdem können Engagierte, die anfangen wollen, bei den Projekten in die Lehre gehen und die Fehler vermeiden, die bereits gemacht wurden. Einige fördernde und hemmende Faktoren zeichnen sich sehr deutlich ab.
Fördernde Rahmenbedingungen:
- Übereinstimmung des Projektgebietes und des Lebensraumes der Menschen, die angesprochen werden sollen;
- Einigkeit der Initiator(inn)en bei Zielvorgaben und eingesetzten Methoden;
- schneller Schulterschluss mit inner- und außerkirchlichen Kooperationspartnern, die ebenfalls aktiv sind;
- Integration der Bewohner(innen) und Ehrenamtlichen in allen Phasen des Projektes;
- positive Gestaltung von Personalwechseln;
- Einbindung von Gremien und Verantwortlichen aus Pfarrgemeinde, Kommune und Verband.
Hemmende Rahmenbedingungen:
- zu große Projekträume;
- Uneinigkeit der Initiator(inn)en über Methoden und Ziele;
- minimale finanzielle Absicherung;
- Planung an den Bewohner(inne)n vorbei;
- zeitliche Vorgaben durch staatliche oder sonstige Geldgeber;
- Instrumentalisierung des Projektes;
- zu schnelle Personalwechsel.
Lebens- und Sozialraumarbeit gibt es nicht zum Nulltarif. Wer anfängt, spürt das Risiko und braucht einen langen Atem. Ein Aktiver aus einem der Projekte meinte: "Das Potenzial ist da. Ob es gelingt, das herauszukitzeln, da wage ich keine Prognose!"
An einigen Orten ist es jedenfalls gelungen. Der Anfang ist gemacht.
Anmerkungen
1. Dahrendorf, Ralf: Der Beitrag der Bürgergesellschaft an der Gestaltung Europas. In: Baldas, E.; Schwalb, H.; Tzetzsch, W. (Hrsg.): Freiwilligentätigkeit gestaltet Europa. Kooperation in Theorie und Praxis (2001), S. 72-84; hier: S. 72.
2. Banerjee, Abhijit V.: Making aid work. Cambridge/London, 2007, S. XIV.
3. Hamberger, Matthias: Lebensweltorientierte Jugendhilfe und das Arbeitsprinzip der Sozialraumorientierung. In: Ev. Erziehungsverband (Hrsg.): Jugendhilfe im Sozialraum. Hannover, 2000, S. 25 f.
4. Strohm, Theodor: "Wichern III" : Die neue Kultur des Sozialen. In: ZEE 42. 1998, S. 171-175, hier S. 172.
5. Schmälzle, Udo F. mit Schürmeyer, Stefan; Gunnemann, Torsten: Menschen brechen auf - Gemeinden und Caritas bilden Netze : Qualitative Analysen zu 22 Projekten in lokalen Lebensräumen. Münster : Lit-Verlag, (Herbst) 2008. Forschungsprojekt der Universität Münster zusammen mit dem Deutschen Caritasverband und der Deutschen Bischofskonferenz. (Ein Projekt wird im Titel "Diese Arbeit kann nicht mit Geld bezahlt werden" von Barbara Graf und Christoph Höttges in diesem Heft vorgestellt).
6. Vgl. Kramer, Hannes; Dennig, Walter (Hrsg.): Gemeinwesenarbeiter in christlichen Gemeinden : Berichte - Analysen - Folgerungen (1974), S. 7.
7. Dörner, Klaus: Leben und sterben, wo ich hingehöre. Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem. Neumünster, 2007, S. 113.