Der soziale und der pastorale Raum sind eins
In vielen Diskussionen wird - zumindest in Deutschland - das Auseinanderdriften von Caritas und Pastoral thematisiert und beklagt, dass sich die verbandliche Caritas und die Pfarrgemeinden voneinander wegentwickelt haben. Der Ausdifferenzierungsprozess führt unmittelbar zur grundsätzlichen Frage: Wenn Pfarreien ihre diakonische Kompetenz an die verbandliche Caritas abgeben und Menschen in Not in ihrem Umfeld nicht mehr wahrnehmen, weil es ja Profis für sie tun - wie können sie dann vor dem Evangelium bestehen und eine solidarische und liebende Kirche sein?
Das Wort der deutschen Bischöfe "Caritas als Lebensvollzug der Kirche und als verbandliches Engagement in Kirche und Gesellschaft" vom 23. September 1999 hält dazu nüchtern fest: "Verbandliche Caritasarbeit und Caritas der Gemeinde gehören zusammen und ergänzen einander. Dieses ergänzende Zusammenspiel zu gewährleisten ist eine dauernde Aufgabe."1 Zur Vertiefung der Fragestellung heißt es in dem Bischofswort weiter: "Die hauptberufliche professionelle Arbeit ist in der Gefahr, dass sie den Kontakt zu den Gemeinden verliert und sich der Wurzeln nicht mehr genügend bewusst ist, aus denen die christliche Caritas lebt. Andererseits ist in den Gemeinden sowohl in der Praxis als auch im Bewusstsein manchmal nicht klar genug, dass es neben der eucharistischen Gegenwart Christi im Sakrament auch die Gegenwart des Herrn in den Brüdern und Schwestern gibt, der uns in den Hungernden, in den Kranken und Alten, in den Behinderten, Obdachlosen und Heimatlosen anblickt. Die urkirchliche Zusammengehörigkeit von Sakrament und Armenfürsorge ist nicht mehr allgegenwärtig; sie muss sowohl in der Theologie als auch in der Praxis der Kirche wiederbelebt werden."2 Es ist der gleiche Herr, der im notleidenden Menschen gegenwärtig ist und der sein Leben am Kreuz für die Seinen hingegeben hat.
Das ergänzende Zusammenspiel verbandlicher und gemeindlicher Caritas ist Anliegen des Deutschen Caritasverbandes (DCV), der Diözesan-Caritasverbände und ihrer Gliederungen wie auch der caritativen Fachverbände. Zur fachlichen Unterstützung für die Caritas der Gemeinden und die Mitgestaltung ihrer sozialen Nahräume sind spezielle "Fachdienste Gemeindecaritas" des Caritasverbandes tätig. Ihre Ziele, Aufgaben, Adressaten, Partner und Methoden sind verbands- und fachpolitisch in den Eckpunkten für den Fachdienst Gemeindecaritas ausgewiesen.3
Vor diesem Hintergrund haben sich seit 2001 regelmäßig die Referent(inn)en für Gemeindecaritas in den Diözesan-Caritasverbänden und die in vielen Seelsorgeämtern der (Erz-)Diözesen beauftragten Referent(inn)en für die diakonische Pastoral zu einer gemeinsamen "Konferenz der Kooperationspartner im diakonischen Feld" getroffen.4 Innerhalb dieses Forums wurde immer wieder von lokalen und regionalen Projekten berichtet, die lebensraumorientiert ein Empowerment benachteiligter Bewohner(innen) anstrebten. Pfarrgemeinden mit ihren ehren- und hauptamtlichen Ressourcen hatten sich daran ebenso beteiligt wie Fachdienste und die jeweiligen Ansprechpartner Gemeindecaritas bei den Orts- und Diözesan-Caritasverbänden.
Die Mitglieder der Konferenz erkannten rasch das enorme emanzipatorische und gemeindebildende Potenzial, das in solcher lebensräumlichen Projektarbeit steckt. Sie erarbeiteten eine Projektskizze, die neben einer zumindest ansatzweisen Bestandsaufnahme der schon bestehenden lebensräumlichen Projekte in Trägerschaft von Caritas und Pastoral auch eine qualitative Beforschung ausgewählter Projekte vorsah.
Da, wo die Menschen sind: Feldforschung im Sozialraum
Das Forschungsvorhaben "Diakonie im Lebensraum der Menschen" startete im Mai 2005 mit dem Durchführungsbeschluss des DCV-Vorstandes, der Empfehlung des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) und dem Forschungsauftrag an Udo Schmälzle, Professor für Pastoraltheologie und Religionspädagogik an der Universität Münster. In der Folge koordinierte das Referat Gemeindecaritas und Engagementförderung des DCV in enger Kooperation mit dem Bereich Pastoral im Sekretariat der DBK die nötigen Schritte. In gemeinsamer Arbeit wurden mit Unterstützung der Diözesan-Caritasverbände, der diözesanen Seelsorgeämter und der caritativen Fachverbände bundesweit 353 lebensräumliche Projekte erfasst, die der Verbesserung der Bedingungen im unmittelbaren Lebensraum dienen.
Aus dem Kreis der "Konferenz der Kooperationspartner im diakonischen Feld" bildete sich eine Projektbegleitgruppe. Sie suchte zusammen mit der Münsteraner Forschungsgruppe um Udo Schmälzle 22 Projekte für die qualitative Befragung aus, darunter fünf, die das Anliegen der Befähigungsinitiative des DCV für benachteiligte Kinder und Jugendliche aufnahmen. Der qualitativen Befragung der 22 ausgewählten Einzelprojekte diente ein ebenfalls in der Projektbegleitgruppe erarbeiteter Interviewleitfaden.
Systematische Analysen
Anhand der dokumentierten Interviews wurden Längsschnittanalysen angefertigt, die die Entstehungshintergründe der einzelnen Projekte erläutern und die jeweiligen Lebensräume beschreiben. Außerdem stellen die Analysen jeweils die Projektarbeit und ihre Organisation sowie die Aufnahme von Elementen lebensräumlicher Arbeit dar. Zu Letzterer zählt insbesondere die Beteiligung benachteiligter Bewohner(innen) an der Gestaltung ihres Lebensraumes - unter Einbeziehung ehrenamtlich Mitarbeitender -, nicht zu vergessen die Beteiligung lokaler Initiativen und Organisationen. Weitere Themen der Analysen sind die Behandlung von Krisen und Konflikten in der Projektgeschichte sowie die Zusammenarbeit der örtlichen Projekte mit Pfarrgemeinden oder die Wahrnehmung der Projektarbeit im Stadtteil und in der Öffentlichkeit. Eine Einschätzung der Effizienz und Nachhaltigkeit des Projektes rundet die jeweilige Längsschnittanalyse ab.
Eine Querschnittanalyse über alle 22 Projekte ermittelte schließlich allgemeingültige Schlussfolgerungen der qualitativen Befragung: Welche Rahmenbedingen benötigt ein Projekt in der Initial-, der Aufbau- und der Konsolidierungsphase, und welche Interventionen und Maßnahmen fördern oder hemmen das Gelingen des Projektes? (Aussagen dazu stehen im Beitrag von Udo Schmälzle in neue caritas Heft 15/2008. Seite 9ff.)
Lebensräumliche Projektarbeit ist empfehlenswert
Die Erstellung der Studie5 ist in einen Zeitraum gefallen, in dem in den meisten deutschen (Erz-)Diözesen pastorale Strukturreformen durchgeführt wurden und werden. Die Deutsche Bischofskonferenz hat der Thematik bei ihrer Frühjahrs-Vollversammlung 2007 in Kloster Reute einen eigenen Studientag gewidmet: "Mehr als Strukturen … Entwicklungen und Perspektiven der pastoralen Neuordnung in den Diözesen."6 Im Zentrum der Überlegungen standen dabei die Fragen,
- wie die Kirche trotz der Vergrößerung der pastoralen Räume den Menschen in Freude und Leid nahe bleiben kann,
- wie die Bandbreite seelsorglichen Wirkens ausgeweitet werden kann durch die Vernetzung unterschiedlicher Orte und Vollzüge von Seelsorge und der dort tätigen Personen,
- wie die Veränderungen in den pastoralen Strukturen auch Berufsprofil und Rollenzuschreibungen der pastoralen Berufe insgesamt verändern.7
Aus der von Udo Schmälzle vorgelegten Studie lassen sich deutliche Hinweise darauf entnehmen, dass die Methode der lebensräumlichen Projektarbeit ein ausgezeichnetes Mittel zur Gestaltung der neuen pastoralen Räume sein kann. Die Entdeckung der Lebensräume kann auch für Pastoralplanung und Pfarreienreform ein wichtiges Kriterium werden. Die Studie legt nahe, dass diözesane Administrationen bei der Erstellung von Sozialraumanalysen auf die entsprechenden Kompetenzen ihrer Caritas zurückgreifen.
Für die gemeindliche und verbandliche Caritas ist die lebensräumliche Projektarbeit ein gelungener Weg, soziale Hilfeleistungen bedarfsgerecht bereitzustellen und die betroffenen Bewohner(innen) mit Ansätzen im Sinne des Empowerment zu fördern. Der Deutsche Caritasverband kommt damit seinem doppelten Ziel, die sozialräumliche Arbeit der Caritas auszubauen und die Zusammenarbeit mit den Pfarrgemeinden zu verbessern, ein gutes Stück näher.
Damit das Forschungsprojekt "Diakonie im Lebensraum der Menschen" nachhaltige Wirkungen für Bewohner(innen) und kirchliche Gemeinden hinterlässt, braucht es konkrete Umsetzungsschritte durch verschiedene Beteiligte. Den Caritasverbänden auf Orts-, Bistums- und Bundesebene obliegt hierbei unter anderem die Sorge für angemessene Personalentwicklung, Fortbildung und Aufstellung der Verbandsorganisation in ihrem jeweiligen Bereich. Dadurch werden beziehungsweise bleiben die Koordination und die Begleitung lebensräumlicher Projektarbeit durch den Verband - nicht zuletzt durch den Fachdienst Gemeindecaritas - gewährleistet.
Den pastoralen Stellen wiederum eröffnen sich die Chancen der lebensräumlichen Arbeit für die diakonische Ausgestaltung pastoraler Räume: Sie liegen gerade darin, überschaubare soziale Räume - wirkliche Lebensräume - mitzugestalten.
"Steh auf und stell dich in die Mitte" (Mk 3,3) - dieser biblische Satz als Synonym zum modernen Begriff Empowerment findet eine mögliche Handlungsanleitung in der vorgelegten Studie. Diese Perspektive gilt sowohl für das unmittelbare Wirksamwerden gegenüber dem/der einzelnen Hilfebedürftigen als auch für die im Gang befindliche und weiter anstehende Umstrukturierung und Neuentdeckung pastoraler Räume.
Anmerkung
1. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Caritas als Lebensvollzug der Kirche und als verbandliches Engagement in Kirche und Gesellschaft. Die deutschen Bischöfe, Nr. 64, Bonn, 1999, S. 29.
2. Ebd.
3. Eckpunkte für den Fachdienst Gemeindecaritas. In: neue caritas Heft 20/2002, Beschluss des Zentralrates des DCV vom 15.5.2002.
4. Inzwischen hat sich der Status dieser Zusammenkunft verändert. Nicht zuletzt wegen der vielen Umstrukturierungen und Neufassungen von Zuständigkeiten in den Generalvikariaten wird es künftig keine regelmäßige Konferenz der Fachreferent(inn)en mehr geben, stattdessen punktuelle fachliche Zusammenarbeit und Austausch unter Einbeziehung der Leitungsebenen in den Seelsorgeämtern und Diözesan-Caritasverbänden.
5. Für den Herbst 2008 ist die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse vorgesehen: Schmälzle, Udo F. mit Schürmeyer, Stefan; Gunnemann, Torsten: Menschen brechen auf - Gemeinden und Caritas bilden Netze : Qualitative Analysen zu 22 Projekten in lokalen Lebensräumen. Münster : Lit-Verlag, 2008.
6. Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Mehr als Strukturen … Entwicklungen und Perspektiven der pastoralen Neuordnung in den Diözesen. Dokumentation des Studientages der Frühjahrsvollversammlung 2007 der Deutschen Bischofskonferenz. Arbeitshilfen, Nr. 213, Bonn, 2007 und: Mehr als Strukturen - Neuorientierung der Pastoral in den Diözesen. Ein Überblick. Arbeitshilfen, Nr. 216, Bonn, 2007.'
7. Vgl. "Mehr als Strukturen … Entwicklungen und Perspektiven der pastoralen Neuordnung in den Diözesen". Arbeitshilfen, Nr. 213, a.a.O., S. 6.