Anwaltschaft schützt - letztlich auch die Einrichtung
Die Liebe ist wohl eine der wichtigsten Triebfedern im Leben der Menschen: Sie setzt Kräfte in Bewegung, die Menschen und Situationen verändern. Papst Benedikt XVI. hat in seiner Enzyklika "Deus caritas est" sehr deutlich gemacht, dass die Liebe - in ihren verschiedenen Ausprägungen und Schattierungen - in sich eins ist und nicht nach Belieben zertrennt werden kann, ohne dass ein Ausdruck von Liebe zur Karikatur eines anderen würde.
Um diese außerordentliche Kraft der Liebe geht es auch, wenn wir das Geschichtsbuch der Nächstenliebe öffnen. Der Papst selber führt bis in die ersten Jahrhunderte des Christentums zurück, um aufzuweisen, wie unlösbar Glaube und Liebe miteinander im Lebensvollzug der Christ(inn)en und der Kirche verbunden sind. Die Caritas - auch im Sinne eines Qualitätssiegels beziehungsweise einer Marke - schreibt sich in diese Geschichte ein und schreibt sie heute weiter.
Anwaltschaft als Signal zum Handeln
Versteht man unter "anwaltschaftlich" nicht eine theoretische, gesetzgeberische oder juristische Antwort auf eine ungerechte Situation, sondern eine direkt praktische, dann bekommt der Begriff eine bestimmte Konnotation. Es geht um das wirkliche Sehen von Not - und um den Umgang mit dem Gesehenen. In diesem Sinn ist der sogenannte barmherzige Samariter (Lk 10, 29-37) zuerst ein Anwalt und nicht ein spontaner Helfer. Dass andererseits das Sehen allein nicht ausreicht, um zum Einsatzzeichen fürs Helfen zu werden, macht Jesus in seiner Parabel überdeutlich. Die beiden ersten, die vorbeikommen, schauen nur kurz hin und dann weg, sie übersehen den Notleidenden.
Dass gerade irgendein beliebiger Mensch in Not mich als Mensch und in meiner Liebe fordert, will das Gleichnis erzählen. Es lässt keinen Zweifel daran, dass die Liebe - die Caritas, um die es hier geht - nicht zuerst etwas mit Glaubenszugehörigkeit zu tun hat. Es geht um die Schöpfungslogik selber: Alle Menschen wurden von dem einen Gott geschaffen und gehören zu der einen Menschheitsfamilie. Es wäre also theologisch völlig falsch, den Samariter - mit seinem nach damaliger Mehrheitsmeinung abweichenden Glauben - bekehren zu wollen. Das Gleichnis macht gerade den "Abtrünnigen" zum Helden der Nächstenliebe. Diese Lehre Jesu dürfen wir heute nicht verschleiern (lassen), wenn versucht wird, caritativ-anwaltschaftlich Engagierte zu "guten Katholiken" zu machen.
Jedes Wirtschaften muss dem Menschen dienen
Die Unternehmen sozialer und gesundheitlicher Arbeit funktionieren hauptsächlich innerhalb eines Dreiermandats. Sie führen ihre Arbeit zuerst einmal auf ihre ureigene Motivation und Mission zurück, soziale und gesundheitliche Arbeit zu leisten. Sie beziehen ihr Mandat aber auch von dem Menschen in Not, der sich an sie wendet. Und nicht zuletzt sind sie Mandatsträger der Gesellschaft und des Staates. Dieses dreifache Mandat hat Auswirkungen auf die anwaltschaftliche Funktion: Der Einsatz für bessere rechtliche Rahmenbedingungen setzt politisches Engagement und ausgeprägte Kenntnis der sozialen Systeme voraus, um glaubwürdig zu sein. Die Arbeit für eine bessere Welt insgesamt verlangt hohe Kommunikationskompetenz innerhalb der offenen Gesellschaft.
Ein Unternehmen sozialer und gesundheitlicher Arbeit, das diese anwaltschaftlichen Anforderungen nicht bewusst implementiert, riskiert, zu einem reinen Wirtschaftsbetrieb zu verkommen, der lediglich soziale Dienstleistungen kostengünstig anbietet. Solche Betriebe haben mittelfristig keine Zukunftschance, weil ihnen ein Kernelement ihrer Tätigkeit - zugleich eine Quelle kritischer Selbstreflexion - abhanden gekommen ist.
Anwaltschaftlichkeit braucht immer wieder Impulse
Die Anwaltschaftlichkeit ist sozusagen der Garant für ein soziales Unternehmen. Wie dieser Lebensnerv erhalten und gefördert werden kann, veranschaulichen die im Folgenden thesenhaft beschriebenen fünf Wege.
- Grundlegung:
Die Grundlagenarbeit - in gemeinsamer oder individueller Trägerschaft - gehört als praktische "Forschungs- und Entwicklungstätigkeit" hoch angesiedelt und integral zum Unternehmen dazu. Hier stellen sich unter Umständen neue Aufgaben auch für die Verbände. Die Entwicklung der Gesellschaft, der Notlagen und der sozialen Arbeit selber müssen genau untersucht, ausgewertet und verglichen werden, damit die sozialen Institutionen heute nicht auf eine Problemlage von gestern antworten, oder schlimmer noch, Notlagen verfestigen und zum System machen. - Spirituelle Angebote:
Ebenso wichtig ist eine "Sinnbegleitung" sozialer Unternehmer(innen) und Mitarbeitender. Jean Ladrière hat in seinen Forschungsarbeiten immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die Entfremdung in Berufen und Institutionen zum Alltag der Moderne gehört. Diesem alltäglichen Risiko ist professionell und organisational mit Angeboten entgegenzusteuern, die die Bedeutung des Tuns und Denkens sozialer Arbeit konkret und einrichtungsbezogen thematisieren. Denn erst die Bedeutung, die einer Arbeit zugemessen wird, macht sie zu einer spezifischen Handlung. Die Vorhaltepflicht liegt hier bei den Trägern sozialer Unternehmen.
Spiritualität und soziale Arbeit gehören zusammen. Dabei wird Spiritualität hier nicht als weltfremde und theoretische Wissenschaft oder Praxis verstanden, sondern als konkret-praktische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, wie sie uns im Alltag begegnet. Welche Bedeutung wird der Not und dem Umgang mit der Not zugeschrieben? Was macht die erlebte Not mit den Leidenden und den Helfenden?
Für diese Sinnfragen gilt es, Raum und Zeit im Ablauf der Organisation einzurichten. Hier geht es um berufliche Angelegenheiten, die nicht außerhalb, sondern innerhalb der Arbeitszeit anzugehen sind. - Eigens gestaltete Gottesdienste:
Einrichtungen, die ihr Dasein christlich motivieren, werden - zusätzlich zu den Fragen der Deutung ihres Tuns - ihren christlichen Klient(inn)en und Mitarbeitenden die Gelegenheit zum arbeitsbezogenen Gottesdienst anbieten: Dieser verbindet Leben und Gebet, Arbeit und Sinn, indem er alles in den Horizont des Glaubens und der Hoffnung stellt. Der Gottesdienst öffnet Perspektiven, die das Antlitz Jesu über alle Not hinweg sichtbar werden lassen. Diese Hoffnung ist nicht darauf angelegt zu vertrösten, sondern zu stärken, und zwar die Gebenden und die Nehmenden.
Dort, wo miteinander das Vaterunser gebetet wird, erkennen sich die Betenden als Brüder und Schwestern des einen Gottes (wieder). In der Feier der Eucharistie teilen sie dasselbe Brot. Diese Hochform der Feier des Glaubens ist ein Angebot, auf das eine christliche Einrichtung nicht einfach verzichten kann. Als Hochform setzt sie Verständnis und Glauben voraus. Sie ist aber auch ein Ort, an dem Glauben sich entzünden und wachsen kann. Die Vorbereitung und Einbettung solcher Feiern in die gelebte Wirklichkeit der Teilnehmenden ist entscheidend für ihre Qualität. - Foren mit Klienten:
Die organisierte Begegnung zwischen den Klient(inn)en und den professionell Helfenden ist ebenfalls ein Mittel, die betriebliche Kultur lebendig zu gestalten: Dort, wo die Grenzen zwischen Menschen aufgehoben werden, entstehen Risiken der Rollenidentität und -vermischung. Deshalb ist es angebracht, solche Foren der Begegnung und des Austauschs hochprofessionell zu gestalten und von Dritten moderieren zu lassen.
Im Rahmen der Anwaltschaftlichkeit ist dies - verglichen etwa mit den Fragen des einrichtungsinternen Umgangs miteinander - ein relativ einfaches Unterfangen. In solchen Foren werden sich Vertreter(innen) des sozialen Unternehmens und der Klientel gemeinsam gegenüber gesellschaftlichen Gruppen und Initiativen sowie gegenüber dem Staat und den Kommunen äußern und positionieren. Die Einrichtung tritt "geschlossen" und in "innerer Solidarität" nach außen auf. Solche Foren können im Laufe der Zeit auch für Menschen von außen geöffnet werden, um so den Kreis der sich Solidarisierenden zu vergrößern. - Fester Raum für ethischen Diskurs:
Der fünfte Weg gilt den Fragestellungen, die man moralische oder ethische Fragen nennt. Auch sie kreisen häufig - und gerade in wirtschaftlich angespannten Zeiten - um Aspekte der Anwaltschaftlichkeit: Ein Klient, der den Mut verloren hat und nicht mehr leben möchte. Jemand, der um seiner selbst willen geschützt werden soll. Menschen, die hohe Kosten in Unterbringung und Pflege verursachen. Daneben gibt es die unendlich vielen "kleinen" Fragestellungen mitten im Alltag der Institution: Wie lange soll jemand schlafen, wie steht es um die häusliche Ordnung, wer hilft beim Abwaschen, gibt es gemeinsame Essens- und Gesprächszeiten?
Sowohl die Grenzfragen wie auch die Alltagsfragen stellen die Mitarbeiter(innen) und Klient(inn)en vor moralische Dilemmata, die nicht einfach durch Autorität und Herrschaftsmoral gelöst werden sollen. Hinter beiden Arten von Fragen verbergen sich Weltbilder und Optionen, die es im ethischen Diskurs sichtbar zu machen gilt. Der moralische Diskurs lässt sich sehr unterschiedlich gestalten; immer aber setzt er Fachkompetenz in Ethik voraus. Ob man dem Ethik-Komitee, der Fall-Nachbesprechung oder der Fort- und Weiterbildung, dem offenen Forum oder dem Gespräch unter Professionellen den Vorrang gibt, ist nicht entscheidend: Vor allem sollten eine Einrichtung und ihr Träger dafür sorgen, dass das ethische Gespräch seinen Platz findet und organisational richtig eingeordnet ist.
Anwaltschaftlichkeit als kritisches Korrektiv
Die hier nur angerissenen fünf Wege sollen lediglich zeigen, wie Anwaltschaftlichkeit im Betrieb und über den Betrieb hinaus eine Dynamik auslösen kann, in der das Wofür und Woraufhin einer Einrichtung sozialer Arbeit thematisiert werden. Der Zweck einer sozialen Einrichtung darf nicht im Gemenge der Wirtschaftlichkeit verloren gehen. Genau deshalb ist die Anwaltschaftlichkeit eine Funktion, die ein Unternehmen sich als kritisches Korrektiv nach innen und nach außen leisten sollte. Die Anwaltschaftlichkeit ist nicht der Feind oder Gegenspieler der Wirtschaftlichkeit, die für einen möglichst gerechten und angemessenen Umgang mit den zur Verfügung gestellten Mitteln sorgt.
Die Kriterien gelingender Anwaltschaftlichkeit liegen auf der Hand. Es wird darum gehen, die Anliegen und die Bedürfnisse von Menschen in Not so in die Gesellschaft hineinzutragen, dass sich die Solidarität und Menschlichkeit der Gesellschaft als ganzer an ihrem Umgang mit spezifischen Gruppen von ausgeschlossenen Menschen messen lässt.
Gerechtigkeit und Fairness setzen Zusammengehörigkeit voraus. Dass wir alle zu ein und derselben Menschheitsfamilie gehören, ist wahr und dennoch nicht selbstverständlich. Eine Arbeit der "Familienzusammenführung" ist immer wieder zu leisten - als Beitrag zu einer offenen Gesellschaft im Werden.
Anmerkung
Dieser und der folgende Beitrag beruhen auf Vorträgen, gehalten auf der Fünften Arbeitstagung der Rechtsträger der Unternehmen in der Caritas zum Thema "Unternehmerisches Handeln in der Caritas". Köln, 23. April 2008.
Literaturhinweis
Gillen, Erny: Wie Ethik Moral voranbringt! : Beiträge zu Moral und Ethik in Medizin und Pflege. Berlin : LIT-Verlag, 2006 (ab Oktober 2008 wieder lieferbar).