Gemeinsam durch unwegsames Gelände
Können wir Organisationen schaffen, die von den Pathologien frei sind, die sich allzu oft am Arbeitsplatz zeigen? Frei von politischen Grabenkämpfen, Bürokratie und Konkurrenz; frei von Stress und Burnout; frei von Resignation, nachtragenden Gedanken und Teilnahmslosigkeit; frei von großspurigem Verhalten an der Spitze und der erschöpfenden Arbeit auf den unteren Ebenen? Können wir Organisationen neu erfinden und ein neues Modell entwickeln, das die Arbeit produktiv, erfüllend und sinnvoll macht? Können wir beseelte Arbeitsplätze schaffen - Schulen, Krankenhäuser, Unternehmen und gemeinnützige Organisationen -, wo unsere Talente sich entfalten können und unsere Berufungen wertgeschätzt werden?"1
Dieses Zitat von Frederic Laloux begleitet mich seit zehn Jahren in meiner Arbeit mit Führungskräften. Wer heute die Aufgabe hat, eine Einrichtung, einen Bereich, einen Verband oder eine andere Organisation zu leiten, der weiß, dass dies eine herausfordernde und anspruchsvolle Aufgabe ist. Erfolgreiche Unternehmen arbeiten heute intensiv an ihrer Kultur, insbesondere an der Führungskultur. Es geht darum, Mitarbeiter:innen in der Caritas Lust und Luft zum Experimentieren zu verschaffen und ihnen Gelegenheiten zu eröffnen, weiter zu wachsen.
Im Spätsommer 2022 habe ich "Exercitia Alpina" für Führungskräfte angeboten. In der Ausschreibung hieß es: "Der Berg ist in vielfacher Weise eine hilfreiche Metapher für Führungskräfte, die in unwegsamem Gelände unterwegs sind. Er bietet Gelegenheiten, das eigene Führungsverhalten zu reflektieren. Gleichzeitig ist er in allen Religionen ein zentraler Ort der Gottesbegegnung. Es geht darum, Kraft zu tanken. Kraft, die wir brauchen, um Mitarbeiter:innen und Kolleg:innen trösten zu können, sie zu ermutigen und herauszufordern. Eben das, was gute Führungskräfte tun sollen."
Von der Hierarchie der Stärke zum Netzwerk der Kompromisse
Lange galt die klassische hierarchische Pyramide: Oben wird gedacht und unten gemacht. Es muss eindeutige Befehlsketten geben. In einer vielgestaltigen Welt und in komplexen Organisationen kann das nicht mehr funktionieren. Der Chef, der von jeder Aufgabe mehr Ahnung hat als seine Fachleute, ist eine Fiktion. Alles selbst machen, überall beteiligt sein, immer das letzte Wort haben, gehört nicht zu einer neuen Führungskultur. Gebraucht werden Führungskräfte, die zuhören können, die bereit sind, die eigene Meinung zu relativieren und sich auf Kompromisse einlassen können. Gute Führungskräfte sind nicht Konkurrent:innen der Mitarbeiter:innen, sondern Gastgeber für gute Fachleute. Organisationen sollten Führungskräfte fördern, die es schätzen, wenn Mitarbeiter:innen kompetenter sind als sie selbst, und die in der Lage sind, ihre Mitarbeiter:innen zu befähigen, über sich hinauszuwachsen.
Leadership ist eine Führungshaltung, die gesteigerte Komplexität ernst nimmt und eine Führungsantwort darauf findet. Die Führungskraft im Leadership arbeitet eher am System als im System. Sie kümmert sich um die Kultur der Organisation, versucht immer wieder den Überblick zu gewinnen, sie ist Coach der Mitarbeiter:innen und der Teams, führt mit Sinn und Sog und nicht mit Druck. Bei diesem Verständnis von Leadership ist die Führungskraft immer auf drei Ebenen unterwegs. Erstens: Sie weiß, wovon sie geführt wird und was sie wachsen lässt. Zweitens: Sie ist in der Lage, sich selbst zu führen. Und drittens: Sie führt andere und übernimmt Verantwortung für die Entwicklung der Organisation.
Erstens: Geführt werden von Sinn und eigenen Motiven
Woher bekommen Führungskräfte ihre Kraft und Energie, ihre Orientierung und Ausrichtung, die sie brauchen, um sich selbst, ihre Mitarbeiter:innen und ihre Organisation weiterzubringen? Die Antwort darauf findet sich nicht in den Vergütungshöhen für Führungskräfte. Es geht um die Frage, wie Führungskräfte im Kontakt mit ihren eigenen Motiven und Sinnpotenzialen sind. Wer einen Sinn in etwas sieht, der ist zu besonderen Leistungen fähig. Sinn ist sowohl der innere Kompass als auch der Motor. Wer nicht mit dem im Kontakt ist, von dem er selbst geführt wird, der wird nicht genug Kraft und Energie finden, um andere zu führen.
Führungskräfte sollten sich fragen, wovon sie geführt werden, was sie trägt, was sie orientiert, was sie ermutigt, voranzugehen, was sie jeden Morgen neu anfangen lässt, was ihnen Kraft gibt und woran sie glauben. Das braucht Zeit! Eine gute Führungskraft nimmt sie sich. Pausen, Stille, Momente der Brache. "Wenn unserem Leben die Stille fehlt, wird unsere Seele dem Druck der Welt nicht standhalten, und unsere Alltage werden fragen: Gott, wo bist du?"2, so schreibt es der Geigenbauer Martin Schleske. Spätestens wenn Führungskräfte immer wieder auf ihre Belastung, ihre Rastlosigkeit und ihr Getriebensein hinweisen, ist Skepsis angebracht. Solche Führungskräfte sind nicht bei sich und nicht bei dem, was sie führt. Sie sorgen für Hektik und Bewegung und für immens viel Druck, aber nicht für Orientierung, für gezielte Entwicklungen oder für eine Kultur der Lebendigkeit. Für Führungskräfte ist es nicht unerheblich, welches Bild sie vom Leben haben, vom Menschen und auch von Gott. Es ist ein Unterschied, ob man dem Menschen unterstellt, immer nur auf den eigenen Vorteil zu schielen und für sich das Beste herauszuholen, oder ob man ihn als kreatives, soziales, sinnsuchendes sowie lern- und entwicklungsfähiges Wesen mit vielfältigen Charismen und Talenten sieht.3 Genauso wie es einen Unterschied macht, ob man Gott als "strengen Richter aller Sünder" sieht, wie es in einem alten Kirchenlied heißt, oder als den, "der ins Weite führt" (Ps 18,20).
Führungskräfte haben Verantwortung für sich selbst, für die Mitarbeiter:innen und für ihre Organisation. Wer nicht selbst in einem guten psychischen und physischen Zustand ist, der wird kaum die Verantwortung für andere übernehmen können. Darum ist die Selbstsorge eine wichtige Aufgabe für Führungskräfte.
Zweitens: Sich selbst führen heißt wollen und nicht müssen
Wer ständig durchgetaktet, verplant und organisiert ist, hat wenig Chancen, zu sich selbst zu kommen oder bei sich selbst zu sein. Es ist eindrucksvoll, wie viele Menschen müssen. Das geht früh los: Menschen müssen morgens um 6.30 Uhr aufstehen, weil sie dann frühstücken müssen. Dann müssen sie zur Arbeit und um 8.15 Uhr schon in die erste Sitzung. Sie müssen mit vielen Menschen telefonieren und mittags etwas essen. Nach Feierabend müssen sie noch ein Geschenk kaufen, weil sie abends zur Geburtstagsfeier einer guten Freundin müssen. Spätestens um 24 Uhr müssen sie dann ins Bett, weil sie morgens um 6.30 Uhr wieder raus müssen.
Wer so viel muss, was will der eigentlich? Eine wirkliche Führungskraft muss nicht, sie will! Sie hat eine Wahl und sie wählt. Sie kann sich zwischen Alternativen entscheiden. Na klar, jede Alternative hat ihren Preis. Aber wenn Selbstführung die Voraussetzung ist, um andere zu führen, dann sollten Führungskräfte daran arbeiten. Oft tut es gut, einen konkreten Ort oder feste Zeiten außerhalb des Arbeitsplatzes zu haben, um die eigene Arbeit zu reflektieren. Natürlich sind auch Supervision und Coaching solche Gelegenheiten. Orte und Zeiten, die es ermöglichen, in Distanz zu sich selbst und zu seiner Arbeit zu kommen und neue Ideen und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln.
In meiner Zeit als Caritasdirektor habe ich in jedem Jahr ein Angebot gemacht, mit Führungskräften eine Woche im Kloster zu sein. Stille, Gespräch und Kraft tanken unterstützen die Selbstführung.
Drittens: Andere führen und mit Stärken arbeiten
Menschen entwickeln in ihrer Biografie sehr individuelle Arbeitsweisen. Es gibt wohl keine zwei Menschen, die in der gleichen Weise arbeiten. Die persönlichen Eigenheiten und Erfahrungen, die physische und psychische Disposition prägen die Arbeitsweise des Einzelnen genauso wie die Kultur der Organisation und die Rahmenbedingungen. Es ist gut, als Führungskraft von dieser Individualität und Unterschiedlichkeit auszugehen. Dabei fällt es Menschen leichter, mit den eigenen Stärken zu arbeiten, als die eigenen Schwächen zu überwinden. Wer etwas richtig gut kann, den fordert es heraus, an die eigenen Grenzen geführt zu werden und diese ein Stück weiter hinauszuschieben. Wer mühsam versucht, die eigenen Schwächen zu beheben oder zu kompensieren, der mag es nicht, an die eigenen Grenzen geführt zu werden.
Schwächen muss man kennen, aber mit den Stärken muss man arbeiten. Oder wie es der Führungsexperte Fredmund Malik formuliert: "Man muss die Stärken der Menschen herausfinden und diese mit den Aufgaben zur Deckung bringen."4 Führungskräfte werden zum Coach ihrer Mitarbeiter:innen, indem sie Stärken und Ressourcen wahrnehmen und gute Unterstützung anbieten, diese weiterzuentwickeln. Führung in der Haltung des Leadership lebt vom Vertrauen. Kontrolle ist kostspielig, prolongiert hierarchische Beziehungen und stärkt die Selbstverantwortung nicht. Misstrauen ist ein Kostentreiber. Nicht nur, weil Kontrolle immer einen immensen Aufwand bedeutet, sondern erst recht, weil sie nicht funktioniert. Sie funktioniert nur so lange, wie Sie neben Ihren Mitarbeiter:innen stehen. Sobald Sie das Büro verlassen, entzieht sich das System Ihrer Kontrolle. Darum lohnt es sich, in Vertrauen zu investieren.
Führungskräfte sollten dem Grundsatz folgen: Führungskompetenz vor Fachkompetenz! Lieber in die Weiterentwicklung der eigenen Führungskompetenz investieren und in die Erweiterung der Fachkompetenz der Mitarbeitenden. Das schafft notwendige Distanz statt unnötiger Konkurrenz.
Die Leidenschaft für die Berge und das Zurechtkommen in unwegsamem Gelände zeigen auch: Eine ausgetrocknete Führungskraft kann den Durst der Mitarbeiter:innen nicht stillen!
1. Laloux, F.: Reinventing Organizations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München, 2014, S. 11.
2. Schleske, M.: Herztöne. Lauschen auf den Klang des Lebens. München, 2016, S. 248.
3. Empfehlenswert dazu: Bregmann, R.: Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit. Hamburg, 2020.
4. Malik, F.: Wenn Grenzen keine sind. Management und Bergsteigen. Frankfurt, 2014, S. 82.