Gefährlicher Schein
Menschen sind keine Objekte, die man auf der Weltkarte herumschieben kann.Adobe Stock/pressmaster
Werte wie Menschlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und Solidarität sind in politischen Entscheidungsprozessen fundamental – gerade auch in einer politisch aufgeladenen und durch eine Vielzahl von Krisen und Konflikten geprägten Zeit. Sowohl im zwischenstaatlichen Umgang als auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt innerhalb von Staaten und Staatenverbünden spielt die wertegeleitete Politik eine entscheidende Rolle. Für die aktuell besonders im Fokus stehenden Herausforderungen der Asyl- und Migrationspolitik muss dies gleichermaßen gelten. Auf nationaler und europäischer Ebene wird derzeit allerdings vermehrt die Auslagerung von Asyl- und Rückkehrverfahren in Drittstaaten ("Externalisierung") als vermeintliche Lösung diskutiert – Bestrebungen, die die genannten Werte ins Wanken bringen.
Die Externalisierung soll zum einen Schutzsuchenden den Zugang zu Asylverfahren in Deutschland beziehungsweise der EU verwehren, indem die Verfahren außerhalb des deutschen beziehungsweise europäischen Hoheitsgebiets durchgeführt werden. Zum anderen sollen Rückkehrverfahren nach der Überstellung abgelehnter Schutzsuchender in Drittstaaten von dort aus vollzogen werden. Die Durchführung von Abschiebungen in die Herkunftsländer soll dabei den Drittstaaten überlassen bleiben.
Faktisch geht es bei der vermeintlichen "Drittstaatenlösung" um die generelle Begrenzung der Migration nach Deutschland beziehungsweise in die EU sowie der Schutzgewährung dort. Befürwortende hoffen auf Abschreckung, sie möchten den Abschottungskurs der EU in der Flüchtlingspolitik fortsetzen – auf Kosten der Schutzsuchenden und des globalen Flüchtlingsschutzes.
Die Auslagerungsmodelle
Unter dem Begriff "Externalisierung" werden unterschiedliche Modelle diskutiert, die die Verantwortung für die Durchführung von Asylverfahren entweder gänzlich (rechtlich und räumlich) oder die Verfahren "nur" räumlich auslagern.
Prominentes Beispiel für die komplette Verlagerung auf einen Drittstaat war der mittlerweile gescheiterte UK-Ruanda-Deal: Schutzsuchende, die im Vereinigten Königreich ankommen, sollten nach Ruanda gebracht werden und dort das Asylverfahren nach ruandischem Recht durchlaufen – laut Medien bis zu 1000 Personen innerhalb von fünf Jahren. Bei positivem Ausgang ihres Verfahrens sollten sie einen Schutzstatus in Ruanda erhalten. Einen Vorgänger des ursprünglichen Deals hatte der UK Supreme Court, das höchste britische Gericht, für rechtswidrig erklärt. Großbritanniens Auslagerungspläne standen von Beginn an wegen erheblicher rechtlicher Bedenken, fehlender Umsetzbarkeit und hoher Kosten national und international in erheblicher Kritik.
Für die räumliche, nicht aber rechtliche Auslagerung von Asylverfahren steht beispielhaft ein Abkommen zwischen Italien und Albanien: Außerhalb der Hoheitsgewässer Italiens aus Seenot Gerettete sollen nicht in Italien, sondern in Albanien an Land gebracht werden. Dort sollen sie in zwei geschlossenen Zentren mit einer Kapazität für bis zu 3000 Personen das Asylverfahren nach italienischem Recht durchlaufen. Ein Schutzstatus soll in Italien gewährt werden, bei Ablehnung sollen die Menschen direkt aus Albanien in ihr Herkunftsland abgeschoben werden. Die ersten Überstellungsversuche nach Albanien scheiterten an italienischen Gerichtsentscheidungen, nach denen die Schutzsuchenden unverzüglich nach Italien überführt werden mussten.
Auf europäischer Ebene wird aktuell zudem die Schaffung sogenannter Rückführungszentren ("return hubs") diskutiert - gemeint sind Abschiebeeinrichtungen außerhalb der EU, in denen abgelehnte Schutzsuchende bis zu ihrer endgültigen Abschiebung in ihre Herkunftsländer ausharren müssten. Der Verbleib in den Einrichtungen wäre faktisch nur durch Inhaftierungen zu realisieren. Wenn die Herkunftsländer ihre Staatsangehörigen nicht zurücknehmen - was häufig der Fall ist -, würde dies Inhaftierungen auf unabsehbare Zeit nach sich ziehen. Dies wäre mit europäischen Werten nicht vereinbar.
Das entscheidende "Verbindungselement" gerät unter Druck
Eine gänzliche Verantwortungsverlagerung auf Drittstaaten nach dem UK-Ruanda-Modell ist in Deutschland ebenso wie in der EU aktuell rechtlich nicht möglich. Denn hier gelten - anders als für das Vereinigte Königreich - die Regelungen der EU-Asylverfahrensrichtlinie beziehungsweise ab 2026 der EU-Asylverfahrensverordnung. Zwar könnten danach unter Anwendung des sogenannten "Konzepts der sicheren Drittstaaten" Asylanträge in EU-Mitgliedstaaten für unzulässig erklärt werden, wenn ein Drittstaat, der als sicher gilt, entsprechenden Schutz bietet. Damit dieses Konzept überhaupt zur Anwendung kommen kann, muss als zentrales Kriterium allerdings eine Verbindung zwischen dem:der individuellen Schutzsuchenden und dem Drittstaat bestehen, ein sogenanntes "Verbindungselement". Ein reiner Transit durch den Drittstaat reicht hierfür nicht; vielmehr braucht es familiäre Verbindungen oder ehemalige langanhaltende Aufenthalte in diesem Staat.
Dieses Kriterium steht national und auf europäischer Ebene zunehmend unter Druck.
Der Erhalt des Verbindungselements ist jedoch zentral. Ansonsten würden Menschen ohne jegliche Verbindung zu einem Drittstaat generell in diesen verbracht werden können. Das Kriterium kann als Ausdruck der Menschenwürde-Garantie gesehen werden. Diese verbietet es, den Menschen zum reinen Objekt staatlichen Handelns herabzustufen. Doch wenn Staaten Schutzsuchende in ein anderes Land zwangsverteilen, zu dem sie keine Verbindung haben, besteht die Gefahr, dass genau dies passiert. Dies wäre mit der Achtung der Menschenwürde unvereinbar.
Ohne Verbindungselement würden zudem Rechtsschutzmöglichkeiten der Schutzsuchenden verkürzt. Bei Anwendung des Konzepts der sicheren Drittstaaten müssen nämlich sie beweisen, dass der "sichere" Drittstaat für ihren Einzelfall tatsächlich nicht sicher ist.
Diese Darlegung würde bei Wegfall des Verbindungskriteriums zusätzlich erschwert. Denn wie sollen Schutzsuchende einen solchen Nachweis erbringen, wenn sie sich zu einem Land äußern sollen, zu dem sie keinerlei Beziehung haben und das sie folglich nicht kennen?
Gefährliche Scheinlösungen zum hohen Preis
Das Befeuern der Externalisierungsdebatte stärkt polarisierende und populistische Kräfte. Die tatsächlichen Herausforderungen im Flüchtlingsschutz werden aber nicht bewältigt – stattdessen rechtlich und faktisch kaum umsetzbare Scheinlösungen angeboten, die menschenfeindlichen und anti-rechtsstaatlichen Positionen Vorschub leisten.
Alle debattierten Auslagerungsmodelle sind mit der großen Gefahr verbunden, dass Aufnahme- und Verfahrensstandards in Drittstaaten nicht sichergestellt und Menschenrechte erheblich verletzt werden: zum Beispiel mit Blick auf das Risiko völkerrechtswidriger Zurückweisungen, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, fehlenden effektiven Rechtsschutzes und willkürlicher Inhaftierung in geschlossenen Zentren oder Abschiebehaftanstalten.
Für vulnerable Personengruppen wie Minderjährige, Schwangere, Personen mit schweren körperlichen oder psychischen Erkrankungen oder LSBTIQ+ ist nicht sichergestellt, dass ihr erhöhter Schutzbedarf identifiziert und angemessen berücksichtigt wird.
Durch Externalisierungsprozesse wird zudem die politische Abhängigkeit von aufnahmebereiten Drittstaaten verstärkt, die sich derartige Abkommen teuer bezahlen lassen. Geflüchtete würden als Spielball verschiedener politischer Interessen instrumentalisiert.
Es ist nicht zu erwarten, dass die Externalisierung – wie von den sie Befürwortenden teilweise behauptet – Fluchtbewegungen reduziert oder das Sterben im Mittelmeer beendet. Wahrscheinlicher ist, dass Menschen auf noch gefährlicheren Fluchtrouten nach Europa zu gelangen versuchen oder aus Angst vor Abschiebung in Drittstaaten in den irregulären Aufenthalt untertauchen.
Nicht zuletzt sind Auslagerungsmodelle praktisch sehr aufwendig und extrem teuer: Transport und Unterbringung der Geflüchteten in den Drittstaaten müssen ebenso geregelt werden wie die dortige Durchführung der Verfahren, von der Asylprüfung bis zur Rückführung oder zur Integration in die Aufnahmegesellschaft.
Verantwortung für die wahren Herausforderungen übernehmen
Das internationale System des Flüchtlingsschutzes beruht auf dem Prinzip der Verantwortungsteilung, nicht auf der Auslagerung von Verpflichtungen auf Dritte. Durch Externalisierung wird dieser solidarische Gedanke unterminiert und der weltweite Flüchtlingsschutz weiter ausgehebelt.
Anstatt sich inhumaner Scheinlösungen zu bedienen und Geflüchtete mit purer Gleichgültigkeit einer ungewissen Lage in Drittstaaten zu überlassen, gilt es, den tatsächlichen Herausforderungen von Fluchtmigration in Europa zu begegnen: etwa mit Blick auf Unterbringung und Versorgung, gesellschaftliche Teilhabe und Integration sowie – nicht zuletzt – die Bekämpfung von Fluchtursachen. Ein solches Vorgehen erfordert einen langen Atem auf allen Seiten. Für die Aufrechterhaltung von Menschlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und Solidarität ist es unerlässlich.