Klimaschutz ist gerecht, wenn alle profitieren
"Wenn Sie richtig viel Energie sparen wollen, dann duschen Sie nicht länger als fünf Minuten", sagt Gerold Wilken, "alles andere ist Luxus, das muss man wissen." Wilken ist Rentner, 72 Jahre alt und Münsterländer durch und durch. Er steht im engen Badezimmer in der Wohnung von Familie Ayhan in Gescher, einer Kleinstadt im Münsterland unweit der holländischen Grenze. In seinen Händen hält er einen alten Duschkopf, den er soeben mit wenigen geübten Handgriffen gegen ein neues Modell ersetzt hat: "Durch dieses Ding hier liefen 14 Liter Wasser pro Minute, der neue lässt nur sieben Liter durch - also muss nur noch die Hälfte erhitzt werden. Das spart massiv Energie und Geld", erklärt Wilken Serdar Ayhan, der mit seinen Kindern Naray (9) und Burak (6) am Türrahmen steht und dabei zuschaut, was der ältere Herr von der Caritas so alles in ihrer Wohnung anstellt. "Als Nächstes sind die Perlatoren dran", sagt Wilken und klärt gleich auf: "Das sind die kleinen Siebe an den Wasserhähnen - echte Energiesparer."
Klima schonen und arme Menschen entlasten - ein sinnvolles Ehrenamt
Gerold Wilken ist weder Klempner noch Hausmeister. Der Rentner arbeitet als ehrenamtlicher Stromsparhelfer für die Caritas im Kreis Coesfeld - aus Überzeugung. "Menschen, die wenig haben, finanziell entlasten und dabei das Klima schonen - das ist sinnvolles Ehrenamt", sagt er und fügt hinzu: "Es ist eine Schande, dass gerade Menschen mit wenig Einkommen beim Klimaschutz im Stich gelassen werden."
Als Wilken vor vier Jahren eine Anzeige der Caritas in der Lokalzeitung liest, die auf das Projekt Stromspar-Check aufmerksam macht, muss der Rentner nicht lange überlegen. Nach einer Weiterbildung beim örtlichen Energieversorger wird aus dem ehemaligen Landwirt und Busfahrer einer von vier ehrenamtlichen Stromsparhelfern der Caritas im Kreis Coesfeld. Seither tauscht er Glühbirnen, wechselt Duschköpfe, gibt Tipps zum Heizen und Lüften - und er versucht seinen Klientinnen und Klienten deutlich zu machen, dass es nicht nur ums Geldsparen geht, sondern ums Klima - und um Generationengerechtigkeit.
"Menschen mit geringem Einkommen, die den Stromspar-Check in Anspruch nehmen, haben meist andere, vermeintlich existenziellere Probleme als die Klimakrise", sagt Wilken. Kaum einer der von ihm Beratenen mache sich Gedanken um CO2-Einsparungen, alternative Energiequellen und Nachhaltigkeit.
Die Klimapolitik der vergangenen 20 Jahre war sozial ungerecht
Dabei sind es gerade Menschen mit geringem Einkommen, die unter den Folgen des Klimawandels am meisten leiden - obwohl sie am wenigsten dazu beitragen. Das weiß auch Astrid Schaffert. Sie ist Referentin für Klimaschutz beim Deutschen Caritasverband und von der bisherigen Klimapolitik in Deutschland enttäuscht: "Seit mehr als 20 Jahren profitieren fast ausschließlich einkommensstarke, wohlhabende Haushalte von klimapolitischen Maßnahmen", so Schaffert. "Das fängt bei der E-Auto-Prämie an und hört bei klimaschädigenden Subventionen wie dem Festhalten am Dienstwagenprivileg auf." Doppelt unfair und damit auch unsozial sei das, weil gerade Menschen mit wenig Einkommen einen deutlich kleineren CO2-Fußabdruck haben.
Wer arm ist, hat automatisch einen kleineren CO-Fußabdruck
Doch woran liegt das? "Ärmere Menschen haben seltener ein Auto, sie wohnen in kleinen Wohnungen, fliegen kaum in den Urlaub, nutzen den ÖPNV und kaufen beispielsweise weniger Kleidung und andere Konsumgüter", erklärt Astrid Schaffert. Würden alle Menschen in Deutschland so leben wie die ärmsten 20 Prozent, hätte die Regierung keinerlei Probleme, die Klimaziele zu erreichen. Dazu komme, dass ärmere Menschen von den Folgen des Klimawandels stärker betroffen sind - "nicht nur im globalen Süden, sondern auch hier in Deutschland", so Schaffert. Wer arm ist, wohnt oft schlecht isoliert, dicht an Verkehrswegen ohne Frischluftschneisen. "Das hat massive gesundheitliche Folgen", warnt Schaffert. Statt jedoch einkommensschwache Haushalte, die am wenigsten zum Klimaproblem beitragen, zu entlasten, werden sie steigenden Energiepreisen ausgesetzt. Gemessen am Einkommen müssen arme Menschen viel tiefer in die Tasche greifen. "Eine Gas-Nachzahlung beispielsweise von mehreren Hundert Euro tut sicherlich jedem weh, für ärmere Haushalte ist das jedoch existenzbedrohend", warnt Schaffert.
Die Sorge vor der Nebenkostenabrechnung wächst
Familie Ayhan, bei der Gerold Wilken heute zu Besuch ist, hat Angst vor den hohen Energiepreisen. Die vierköpfige Familie wohnt zur Miete in einer geräumigen Wohnung im Obergeschoss eines in die Jahre gekommenen Ladengeschäfts in der Ortsmitte von Gescher. Geheizt wird mit teurem Gas aus Russland. Die Heizkörper sind alt, die Fenster und Türen auch. "Ich fürchte mich vor der nächsten Rechnung", sagt Serdar Ayhan. Schon jetzt seien die Abschlagskosten für Strom und Gas stark gestiegen - etwa 15 Prozent des Haushaltseinkommens muss die Familie für Energie ausgeben, Tendenz stark steigend. "Geht das so weiter, werden wir es kaum bezahlen können", sagt der 34-Jährige, der vor vier Jahren als politischer Flüchtling mit seiner Frau Nazli (32) und den Kindern Naray und Burak aus Izmir in der Türkei nach Deutschland gekommen war. "Es ist notwendig, auch für meine Kinder, dass wir Energie sparen", sagt Nazli Ayhan. In der Türkei sei Klimaschutz kein großes Thema. "Umso wichtiger, dass Deutschland hier vorangeht", so Nazli Ayhan.
Bis zu 425 Euro gespart - dank Stromsparcheck
Gerold Wilkens "Energiesparer" sollen helfen, den Verbrauch der Ayhans zu senken und die Energiekosten zumindest abzufedern. Laut seinen Berechnungen kann die Familie mit den neuen Glühbirnen, Perlatoren, dem Duschkopf und neuen Netzsteckern zirka 425 Euro im Jahr sparen. "Mehr kann ich nicht tun", sagt Wilken. "Da müsste schon der Eigentümer aktiv werden, isolieren und eine neue Heizung einbauen."
Vermietern jedoch fehlen hierfür oft die Anreize - oder ordnungsrechtliche Vorgaben: "Derzeit profitieren Vermieter nicht von einem Heizungswechsel, da die Energiekosten vollumfänglich auf die Mieter umgelegt werden können", moniert Astrid Schaffert. Und noch schlimmer: Allein 2021 wurden in Deutschland 900.000 Gasheizungen verkauft, womit der Marktanteil von Gas-Brennwerttechnik auf 70 Prozent gestiegen ist.
Caritas setzt sich für Pro-Kopf-Klimageld ein
Es bleibe zu hoffen, dass Putins Krieg für ein Umdenken sorgt, so Astrid Schaffert. "Immerhin ist den Menschen jetzt klar, was die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern geopolitisch bedeutet", sagt sie und fordert von der Politik, am ambitionierten Kurs der Energiewende festzuhalten - jedoch nur mit sozialem Ausgleich: "Es braucht jetzt schnell wirksame Maßnahmen, die ganz gezielt den ärmeren Teil der Bevölkerung unterstützen", fordert die Klima-Referentin. Die Caritas setze sich daher auch für ein Klimageld ein, das die Einnahmen aus der steigenden CO2-Abgabe vollständig als Pro-Kopf-Dividende an alle Menschen in Deutschland auszahlt, egal wie alt und egal wie reich. Dass dies auch zeitnah möglich ist, zeigt eine im Februar 2022 erschienene Studie der Klima-Allianz Deutschland, einem Bündnis verschiedener Verbände und Institutionen, dem auch die Caritas angehört. Die Studie macht deutlich, dass weder datenschutzrechtliche noch bürokratische Gründe der Einführung eines allgemeinen Klimageldes im Wege stehen.
Gerold Wilken ist inzwischen auf einen Stuhl gestiegen, der groß gewachsene Helfer kontrolliert die Deckenlampe im Kinderzimmer. Statt konventioneller Glühbirnen werden bei den Ayhans künftig LED-Birnen für ausreichend Licht sorgen. Zuletzt bringt Wilken noch Adapter an Netzsteckdosen an, die Stand-by-Geräte mit Strom versorgen. Eine große Ersparnis wäre auch möglich mit einem neuen, energieeffizienten Kühlschrank. Vom Stromspar-Check geprüfte Haushalte erhalten vom Land einen Zuschuss von 200 Euro beim Kauf eines neuen Geräts. "Richtig energieeffiziente Geräte kosten allerdings inzwischen so viel, dass die 200 Euro nicht ausreichen", so Wilken.
Dann packt er die alten Glühbirnen in einen Karton, verabschiedet sich von den Ayhans und steigt in sein Auto. "Bei den aktuellen Spritpreisen wäre ich lieber mit dem Zug gekommen", sagt Wilken und fügt mit einem Schmunzeln auf den Lippen hinzu: "Ist seit 1974 aber nicht mehr möglich, da wurde die Strecke nach Gescher dichtgemacht und dafür die Autobahn A31 gebaut." Dann startet der Motor und der zwölf Jahre alte, weiße Opel verschwindet hinter einer Kurve.
Was ist der Stromsparcheck?
Der Stromspar-Check ist eine bundesweite Initiative des Deutschen Caritasverbandes und des Bundesverbandes der Energie- und Klimaschutzagenturen, die sich an einkommensschwache Haushalte richtet. Das kostenlose Angebot hilft, den Energieverbrauch und die Kostenbelastung von Sozialleistungsbeziehenden zu reduzieren und somit auch das Klima zu schonen. In über 150 Gemeinden wurden bereits mehr als 970.000 Menschen erreicht. Im Durchschnitt sparen Haushalte zwischen 170 und 276 Euro im Jahr.
Caritas-Klimapodcast
Sie wollen mehr über den Zusammenhang zwischen sozialer Gerechtigkeit und Klimaschutz wissen oder erfahren, was die Caritas unternimmt, um selbst klimaneutral zu werden? Dann Ohren auf für sozial gerechten Klimaschutz: In Kooperation mit der Nichtregierungsorganisation "Germanwatch" präsentiert die Caritas seit Mai 2021 einen eigenen Klimapodcast. Jeden Monat mit einem neuen Themenschwerpunkt und Talkgästen aus Kirche, Wissenschaft und Gesellschaft: Jetzt reinhören