Lasst Hildegard Knef singen
Als es ganz still ist, drückt Rüdiger Wagner auf den Bildschirm seines Laptops. Melancholische Musik erklingt. Balalaikas zirpen. Dann die markante Stimme von Ivan Rebroff. Das Wolgalied. Rüdiger Wagner schaut in die Runde: in sechs zerfurchte Gesichter. Manch faltiger Mund formt die Wörter nach, die Rebroff schmettert.
Für die Frauen, die im Pflegeheim St. Hedwig im württembergischen Kirchheim/Teck am Tisch sitzen, ist heute „Wünsch-dir-was“-Tag. In der Einrichtung der Paul Wilhelm von Keppler-Stiftung veranstaltet der Betreuer Rüdiger Wagner sein Wunschkonzert. Edith Piaf, Heintje und Hildegard Knef stehen in der Hörergunst ganz oben. Selbst der junge Altenpfleger hält auf seiner Routinetour über den Gang kurz inne und hört lächelnd zu. Für den Fall, dass das Vergessen zu groß ist, hat Wagner vorgesorgt: Vor ihm liegt eine Liste mit den „Best of“-Hits aller Wunschkonzerte.
Über Youtube ist es leicht, Lieder herbeizuwünschen
Die Spezialdisziplin des 49-Jährigen: Menschen aktivieren. Das bewies er schon, als er im Heim die Gruppe „Männergedöns“ gründete. Rüstige Senioren stiftet der gelernte Holzmechaniker hier zu handwerklichen Tätigkeiten an, bastelt Katzen aus Holz und werkelt an Insektenhotels. Irgendwann kam ihm dabei die Idee, auch Tablet-PCs einzusetzen. Einrichtungsleiter Simon Unrath ließ sich nicht lange bitten und installierte in den Gemeinschaftsräumen WLAN. Seitdem beschallt Rüdiger Wagner begeisterte Senior(inn)en über Youtube. Er selbst stapelt lieber tief: „Ich will den Menschen einfach nur eine Freude machen.“ Aber der Erfolg gibt ihm recht: „Traurige werden fröhlich, wenn sie die Musik hören.“ Und wenn’s sein muss, stöbert er mit den Bewohner(n) online auch nach alten Backrezepten. Die ersten Reaktionen auf das neue Angebot waren allerdings „eher zurückhaltend“. Die Bewohner schauten gern hin, trauten sich aber selbst nicht. Einrichtungsleiter Unrath: „Sie sagen oft: ‚Zeig uns mal, was du da hast‘, nehmen das Gerät aber selbst nicht in die Hand.“
Wenn es passt, kommen die Menschen in Fahrt
Was aber immer geht, ist ein Pläuschchen. Während die Musik läuft, verwickelt Rüdiger Wagner die Bewohner geschickt in kleine Gespräche. Diskussionen entstehen, Menschen gehen aus sich heraus. Am besten klappt’s, wenn der Funke überspringt: Ein ehemaliger Fahrschullehrer kam beim Anblick von Verkehrszeichen so richtig in Fahrt. Acht hochbetagte Damen nahmen begeistert am virtuellen Rundgang durch die Wilhelma teil, Stuttgarts weltberühmten Zoo. Wagner war’s zufrieden: „Passiv werden die jedenfalls nicht dabei.“ Ihre Lebensqualität hat gewonnen.
Einrichtungsleiter Simon Unrath blickt heute zufrieden auf den digitalen Fortschritt in St. Hedwig zurück. In einem ersten Projekt hatten Ehrenamtliche ältere Menschen am Tablet-PC geschult, um Einsamkeit im Alter vorzubeugen. Ein eigens entwickelter Messenger-Dienst sollte ihnen im Umgang mit Internet und Tablet helfen und Schwellenängste abbauen. Es dauerte nicht lange, bis die Neuerungen auch in St. Lukas in Wernau ankamen, einem anderen Pflegeheim der Keppler-Stiftung, keine acht Kilometer Luftlinie entfernt. Einrichtungsleiter Manfred Kurz (52) übernahm den digitalen Ansatz der Kirchheimer Kollegen, die Auerbach-Stiftung förderte das Projekt großzügig. Alle älteren Wernauer(innen) wurden angeschrieben. 44 von ihnen im Alter zwischen 55 und 88 Jahren machten sich am Tablet fit. Zur Enttäuschung von Manfred Kurz meldete sich allerdings niemand aus den Seniorenwohnanlagen, dem Pflegeheim oder der Tagespflege. Das brauchte einen längeren Atem. Doch dann überwogen die Vorteile die anfängliche Skepsis.
Je tiefer der Bezug zur Biografie, desto eher entsteht ein Zugang
Cornelia Sigmund-Göb, die die Betreuungskräfte in St. Lukas koordiniert, setzt ein Tablet mit einem Spezialprogramm für Demenzkranke ein. Ausgesuchte Filme, Rätsel, Märchen, Spiele, Lieder oder Artikel zur aktuellen Jahreszeit wirken beruhigend auf die Bewohner. Es entsteht ein – wenn auch begrenzter – Zugang zu ihnen. Je tiefer der biografische Bezug, desto größer der Erfolg: Bilder, die den Menschen nahe sind, setzen stärkere Reize, und es gelingt manchmal, sie in ihrer eigenen Welt zu erreichen. Cornelia Sigmund-Göb: „Eine Dame, die selbst Katzen hatte, lebte beim Anblick von Tierfotos richtig auf.“ Allerdings: „Ohne menschliche Zuwendung würde das nicht funktionieren.“ Dass die Bedeutung digitaler Medien in Zukunft zunimmt, ist den Betreuer(inne)n in St. Lukas und St. Hedwig klar. Nicht nur „Jüngere“ nutzen sie bereits selbstverständlich. Ein 92-Jähriger, Neuzugang fragte gleich beim Einchecken nach WLAN für sein I-Phone. Er wollte darüber Bibel-TV schauen.