Nie wieder so ein Chaos
Jonas war ein Außenseiter. Der Drittklässler kam öfter zu spät zur Schule, seine Kleidung war schmutzig und in seiner Schultasche herrschte ein Durcheinander. Die Mitschüler machten einen Bogen um ihn. Manche sagten es auch direkt: "Du stinkst!" Doch was sollte er machen? Er verpasste schon mal den Schulbus, weil er zu Hause keine zwei gleichen Socken oder keinen sauberen Pulli fand. Er hätte gerne im Verein Fußball gespielt, aber dafür, sagten seine Eltern, hätten sie kein Geld. Wenn es gut lief, kickte er mit seinem Vater am Wochenende mal auf dem Bolzplatz. Meistens lief es nicht gut und Jonas verbrachte die Zeit vor dem Fernseher. In der Wohnung, in der er mit seinen Eltern und seinem kleinen Bruder lebte, gab es für ihn keinen Platz zum Spielen oder zum Hausaufgabenmachen. In allen Zimmern war Chaos: Saubere wie schmutzige Wäsche bedeckte den Boden, Abfall, Flaschen, Kartons und Spielsachen stapelten sich übereinander. Das Bad war seit Monaten nicht mehr geputzt worden.
"Wir kommen mit unserem Leben nicht zurecht"
In dieser Situation traf Maria Dick die Familie vor zwei Jahren an. Das Jugendamt hatte Jonas’ Eltern zur ihr geschickt. Ihnen drohte eine Räumungsklage, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen konnten. Maria Dick, die auch Trainerin für das Haushaltsorganisationstraining (HOT) ist, leitet die Familienpflege im Caritas-Zentrum Dachau bei München. "Wir kommen mit unserem Leben nicht zurecht", hatten Felicitas und Rainer Braun, die in Wirklichkeit anders heißen, erklärt. Sie waren sehr beschämt über ihre Situation. Rainer Braun arbeitet als Industriearbeiter in einem großen Unternehmen, seine Frau sollte
sich zu Hause um die Kinder kümmern. Wie es zu diesem Chaos und ihrer Überforderung gekommen ist, konnte die 40-Jährige letztlich nicht sagen. Sie fühlte sich unfähig, Ordnung zu schaffen, für die Familie zu kochen und ihren Kindern Grenzen zu setzen. Ihr Ehemann ertrug die Situation, weil er sie liebte und keinen Streit wollte. Schließlich zog sie sich immer mehr zurück, ging kaum mehr auf die Straße. Zu essen gab es Fertigpizzas und Pommes.
"Ich habe schon in meinem Elternhaus nur in Unordnung gelebt und nie gelernt, wie man ein geordnetes Leben führt", erzählt Felicitas Braun. Als die finanziellen Probleme sie zu ersticken drohten und sie sah, wie Jonas immer unglücklicher wurde, ließen sie und ihr Mann Hilfe zu.
Zu Beginn des Familientrainings hatte der zweijährige Sven große Defizite in der Bewegung, weil er nie auf einem Spielplatz war. Auch die üblichen Vorsorgeuntersuchungen waren längst überfällig. Jonas war übergewichtig, konnte nicht Fahrrad fahren und war häufig krank.
In München haben’s Familien mit kleinem Einkommen schwer
"Wir haben den Haushalt, die Alltagsstruktur und das Zusammenleben auf ganz neue Füße gestellt", sagt die Familienpflegerin. Nachdem alle gemeinsam die ganze Wohnung von Grund auf gereinigt und in Ordnung gebracht hatten, wurden einzelne Bereiche wie Wäsche, Kochen, Einkaufen bearbeitet. "Wenn man im Ballungsraum München mit einem kleineren Einkommen, wie dem von Familie Braun, über die Runden kommen will, muss man kompetent mit Geld umgehen können", sagt Maria Dick. Sparen kann die Familie vor allem dadurch, dass die Mutter nun für alle kocht, gezielt nur das Nötige einkauft und über ein Haushaltsbuch die Ausgaben kontrollierbar werden. In die Schule bekommt Jonas jetzt kein Geld mehr für die Pause mit, sondern ein Brot und Obst. Felicitas hat mit Unterstützung von Maria Dick gelernt, ihren Alltag zu strukturieren und die Aufgaben diszipliniert zu erledigen. Bei Auswertungsgesprächen mit den Eltern wurden die kleinen Erfolge mit Kaffee und Kuchen gefeiert: Die Wäsche wird regelmäßig gewaschen und wieder in Schränke sortiert, die Küche wird jeden Tag aufgeräumt und das Bad einmal in der Woche gründlich geputzt. Vor allem aber haben die Eltern mit dieser Anleitung gelernt, Jonas und Sven altersgerecht zu erziehen. Auch für die Gesundheit ihrer Kinder kann die Mutter jetzt sorgen. Sie geht inzwischen sofort zum Arzt, wenn ein Kind krank ist, und wartet nicht, bis sich die Erkältung zu einer Lungenentzündung entwickelt hat. "Ganz wichtig war, dass wir Rituale eingeführt und feste Regeln und Aufgaben für die Kinder aufgestellt haben", erklärt Dick. So wird zum Beispiel einmal am Tag gemeinsam gegessen und nach dem Abendessen ist "Papa-Time". Dann geht der Vater mit den Kindern auf den Spielplatz oder übt mit Jonas Fahrrad fahren. Vor dem Schlafengehen räumen die Kinder ihre Spielsachen auf und putzen die Zähne. In vielen Familien ist das selbstverständlich. Familie Braun musste es erst lernen.
Jonas hat jetzt Freunde
Nach zwei Jahren Begleitung hat Familie Braun Maria Dick "entlassen". Die Eheleute sind stolz darauf, dass sie ein ganzes Stück zusammengewachsen sind und jetzt ein "normales Leben" führen, sogar Lebensfreude verspüren. Eines haben sich die beiden fest vorgenommen: "Nie wieder so ein Chaos." Die Familienpflegerin freut sich mit der Familie und misst den Erfolg letztlich am Wohlergehen der Kinder: Jonas hat abgenommen, ist in der Klasse integriert und seit seiner Erstkommunion geht er in die Ministrantengruppe. Die Wohnungstür wird wieder geöffnet, wenn es klingelt, und Jonas bringt Freunde mit heim. Die Eltern haben nach vielen Jahren wieder die Großeltern eingeladen: "Wir haben erstmals das Gefühl, eine ganz normale Familie zu sein." Für alle Fälle aber bleibt die Telefonnummer von Maria Dick an der Pinnwand in der Küche hängen.
Training im Haushalt
Das Haushaltsorganisationstraining HOT der Familienpflege wurde vom Deutschen Caritasverband für Familien in prekären Lebenslagen entwickelt. Es wird aus Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe finanziert. Inzwischen wird das Training an 80 Standorten innerhalb der katholischen Familienpflegedienste angeboten.
Mehr Infos unter: www.caritas.de/HOT