Das Integrationsparadox - Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt
Die zentrale Herausforderung besteht darin, das Potenzial in den Konflikten zu sehen und mit ihnen konstruktiv umzugehen. Als Redaktion der Info-Beilage Migration & Integration dürfen wir im Folgenden eine vom Autor gekürzte Passage zum Thema "Wer ist Wir" als Vorabdruck veröffentlichen.
"Viele Menschen mit internationaler Geschichte sind nach wie vor unzufrieden mit einer als zu langsam empfundenen sozialen Öffnung der Institutionen, etwa der Schulen, Hochschulen, öffentlichen Verwaltung, Unternehmen und Politik. Und tatsächlich ist gleiche Teilhabe in all diesen Feldern nicht realisiert. Gleichzeitig gilt es festzuhalten, dass in all diesen Bereichen in kurzer Zeit relativ viel passiert ist.
Die Diskriminierung nimmt ab
Diskriminierung ist in allen gesellschaftlichen Bereichen für nahezu alle in der Vergangenheit benachteiligten Personengruppen nachweisbar. Aber: Durch aktive Gleichstellungs-, Integrations- und Anti-Diskriminierungspolitik sowie durch das Eigenengagement und die Selbstorganisation betroffener Gruppen gibt es in Deutschland genauso wie in den meisten europäischen Staaten sowie in Nordamerika heute weniger Diskriminierung als vor dreißig oder vierzig Jahren. Der bessere Zugang zu verschiedenen Dienstleistungen, die erhöhten Teilhabechancen sowie die Möglichkeiten der politischen Partizipation weisen bereits auf einen eindeutigen Trend hin. Und auch die Diskriminierungsforschung zeigt, dass es immer weniger direkte Diskriminierung gibt und auch der aktive Abbau von indirekten Formen immer stärker forciert wird. Zeitgleich mit dem Rückgang der Diskriminierung findet in der Gesellschaft ein gegenläufiger Prozess statt: Wir diskutieren und streiten über Diskriminierung, als wäre es schlimmer geworden, wodurch sich der Diskurs aus einer anderen Richtung verschärft. Mehr Menschen als je zuvor berichten über Diskriminierung, weil es immer weniger Diskriminierung gibt. Dieser Zusammenhang wirkt paradox. Um ihn zu verstehen, muss man sich klarmachen, was wahrgenommene Diskriminierung aus der Perspektive einer betroffenen Person bedeutet. Wenn sich ein Mensch diskriminiert fühlt, dann heißt das: Diese Person empfindet eine Handlung oder eine Aussage als illegitime Ungleichbehandlung. Entscheidend ist nicht das Wort Ungleichbehandlung, sondern das Wort illegitim.
Wer entscheidet, wer »wir« und »ihr« ist?
Zwei Menschen können dieselbe Situation erleben, aber ganz unterschiedlich deuten. Dieselbe Ungleichbehandlung kann als legitim oder als illegitim interpretiert werden. Für die eine Person kann eine Ungleichbehandlung richtig sein, für die andere Person ist sie okay und für die dritte Person kann dieselbe Situation eine Demütigung darstellen. Ein persönliches Beispiel: Ich war mit meiner Tochter bei einem Fest. Nur Freunde und Verwandte waren anwesend. Es war eine schöne Atmosphäre, und alle meinten es zweifelsfrei gut miteinander. Jemand fragte mich: »Wie feiert ihr eigentlich bei euch?« Gemeint war bei Arabern und Muslimen. Meine Tochter hat das Wort »ihr« noch tagelang beschäftigt. Sie erzählte mir, etwa eine Woche später, dass sie eine ganze Weile gebraucht habe, um zu verstehen, wer oder was mit »ihr« gemeint war. Sie fragte mich, warum ich auf diesen Fehler, der es aus ihrer Sicht eindeutig war, nicht eingegangen sei. Denn ich habe auf die gemeinte Frage geantwortet, wie islamische Traditionen in Syrien gelebt und wie Feste gefeiert werden usw. Ich reagierte, wie immer, nachsichtig auf solche unglücklich gestellten Fragen. Meine Tochter empfand es als ausschließend und übergriffig. Sie hat sich nicht nur über die Frage geärgert, sondern insbesondere über meine »falsche« Antwort. In der Situation selbst sagte sie nichts. Erst Tage später äußerte sie sich beim Abendessen. Ich musste etwas nachdenken, um mich daran zu erinnern, so unspektakulär habe ich es empfunden. An diesem Beispiel wird deutlich: Entscheidend ist, ob eine Handlung oder Situation als illegitim empfunden wird. Wer ist »ihr« und wer ist »wir«? Und noch entscheidender: Wer entscheidet, wer »wir« und »ihr« ist? Während ich die Frage »Wie feiert ihr eigentlich bei euch?« nachsichtig inhaltlich umdeute in »Wie ist es bei Muslimen in Syrien?«, fragte meine Tochter manchmal innerlich, zunehmend aber auch laut zurück: Wer ist mit »ihr« gemeint? Oder in ihren Worten: »Welche Schublade meinst du jetzt?« Ihre Großeltern, also meine Eltern, hätten sich über die Frage »Wie feiert ihr eigentlich bei euch?« regelrecht gefreut und stundenlang erzählt. Tragischerweise werden sie selten, ihre Kinder und Enkel aber umso häufiger genau das gefragt.
Wer schlechter integriert ist, hat weniger Teilhabechancen. Somit besteht auch eine größere Gefahr ausgeschlossen zu werden.Birgit Betzelt
Dieselbe Frage trifft hier also auf drei verschiedene Erwartungen, die sich in drei verschiedenen Biografien innerhalb einer Familie mit internationaler Geschichte entwickelt haben. Die Großeltern sind Migranten, Deutsch ist nicht ihre Muttersprache und Deutschland nicht ihr Vaterland. Ich bin Migrantenkind, aber kein Migrant. Deutsch ist zwar meine Muttersprache, aber ich bin bei meinen Eltern aufgewachsen und habe damit eine Zwischenposition. Zumindest habe ich biografische Bezüge zu diesem anderen »Wir«, d. h. somit auch zu dem »Ihr«. Meine Tochter akzeptiert die vordefinierte Wir-Ihr-Differenz nicht mehr. Gleichwohl hat sie es in Deutschland leichter als ich, ich habe es leichter als meine Eltern.
Voll integrierte Menschen sind Teil des Ganzen
Was ist da über die Generationen hinweg geschehen? Voll integrierte Menschen wollen als gleichwertig betrachtet werden. Sie sind gleichberechtigter Teil des Ganzen und haben die Erwartung, als solcher anerkannt zu werden. Sie haben hohe Ansprüche an Teilhabe und Zugehörigkeit. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind besser geworden, sogar deutlich besser. Aber die Erwartungen steigen immer schneller als die deutlich trägere Realität, und Erwartungen können viel schneller geweckt werden, als sie erfüllt oder befriedigt werden können.
Wer schlechter integriert ist, hat wenige Teilhabechancen und wird vielleicht viel stärker ausgeschlossen. Aber: Diese Menschen empfinden dies seltener als diskriminierend, weil sie aus verschiedenen Gründen gar keinen hohen Teilhabe- oder Zugehörigkeitsanspruch entwickelt haben. Und diejenigen, die gut integriert sind, die also deutlich weniger ausgegrenzt werden, sind viel sensibler und akzeptieren immer weniger, dass andere darüber entscheiden, wer sie sind und zu welchem Wir sie gehören. Auch hier handelt es sich um einen Erwartungseffekt: Die Erwartungen ehemals benachteiligter Gruppen steigen schneller, als sich die Realität verbessert. Erwartungen und objektive Verhältnisse steigen also unterschiedlich schnell, wodurch die Differenz größer wird. Diese Differenz führt dazu, dass etwas als illegitim wahrgenommen wird, und bildet damit die Grundlage für das Gefühl der Diskriminierung.
Dieser Zusammenhang lässt sich auf unterschiedliche Gruppen und in verschiedene Bereiche übertragen. Innerhalb eines Landes und innerhalb einer Minderheit können wir das messen: Schwarze Amerikaner fühlen sich aufgrund ihrer Hautfarbe umso häufiger diskriminiert, je erfolgreicher sie sind. Je höher das Bildungsniveau und das Einkommen, desto häufiger berichten sie über Diskriminierung. Schwarze Menschen, die enorm benachteiligt sind, fühlen sich seltener diskriminiert. Eine andere Perspektive, diesmal international vergleichend: Je besser die Teilhabechancen in Europa - in den skandinavischen Ländern sind sie für Minderheiten am besten -, desto häufiger wird über Diskriminierung geklagt; je schlechter die Teilhabechancen - in vielen osteuropäischen Staaten sind sie sehr schlecht -, umso seltener wird von Minderheitenangehörigen über Diskriminierung berichtet. Wir können auch verschiedene benachteiligte Gruppen vergleichen: Frauen haben viel bessere Teilhabechancen als beispielsweise Menschen mit Behinderung, Frauen fühlen sich aber auch viel häufiger diskriminiert als Menschen mit Behinderung. Und Frauen fühlten sich vor vierzig oder fünfzig Jahren seltener diskriminiert als heute, dabei sind heute ihre Teilhabechancen aber um ein Vielfaches höher. In allen vier Vergleichen wird ein contra-intuitiver Zusammenhang deutlich, weil es nicht um eine objektive Größe geht, sondern um das Verhältnis zwischen Erwartungen und Ansprüchen auf der einen und der erlebten gesellschaftlichen Wirklichkeit auf der anderen Seite.
Diskriminierung ensteht durch eine ungleiche Entwicklung von Realität und Erwartung
Wahrgenommene Diskriminierung entsteht erst durch die Bewertung: Nur dann, wenn eine Ungleichbehandlung als illegitim bewertet wird, fühlen sich Menschen diskriminiert. Als illegitim bewerten sie Handlungen und Situationen dann, wenn die Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität zu groß wird, wenn also die Realität zu weit von den Erwartungen abweicht. Die Paradoxie hat also nicht mit einem statischen Befund, sondern mit einer dynamischen Relation zu tun, nämlich mit einer ungleichen Entwicklung von Realität und Erwartung."
Aus: El-Mafaalani, Aladin: Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2018, 256 S., ca. 15 Euro, ISBN 978-3-462-05164-3 (auch als E-Book verfügbar).
Zum Autor: Der Aladin El-Mafaalani wurde 1978 im Ruhrgebiet geboren. Er studierte in Bochum Politikwissenschaft, Soziologie, Wirtschaftswissenschaft und Arbeitswissenschaft. Zunächst war er Lehrer am Berufskolleg Ahlen, später Professor für Politikwissenschaft und politische Soziologie an der Fachhochschule Münster. Seit 2018 arbeitet er im nordrhein-westfälischen Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration in Düsseldorf.
Der Artikel erschien im Original in der Beilage der neuen caritas "Migration und Integration Info", Ausgabe 3/2018: Wer ist ‚Wir‘ in der Einwanderungsgesellschaft.