Sozial, fortschrittlich und konservativ: Mathilde Otto als politisches Vorbild
Redaktion: Frau Otto, Sie haben von 1910 bis 1913 als eine der ersten Frauen an der Freiburger Universität Volkswirtschaftslehre gehört. Wie kamen sie dazu?
Otto: Eigentlich wollte ich ins Kloster eintreten, aber meine Eltern wurden nacheinander schwer krank, weshalb ich sie pflegen musste. Später zog ich vom kleinen Ort Oberweier ins etwa 100 Kilometer entfernte Freiburg. Wahrscheinlich liegt mir deswegen das Thema der häuslichen Pflege so am Herzen. Da wir die finanziellen Möglichkeiten hatten, konnte ich an der Freiburger Universität Vorlesungen besuchen. Als Enkelin eines Holz-Unternehmers wusste ich, dass es wichtig ist, wirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen.
Redaktion: Wie wichtig war Ihr Studium für Ihre Arbeit beim Deutschen Caritasverband?
Otto: Als Leiterin des Referats der Armen- und Familienpflege und Generalsekretärin der Elisabeth- und Frauenvinzenzvereine muss ich wissen, wo die Nöte der Menschen liegen. Aber unsere Arbeit muss finanziert werden.
Redaktion: Warum kümmern Sie sich um die Armen?
"Enge fördert häusliche Gewalt"
Otto: Mein großes Vorbild ist die Heilige Elisabeth. Sie hat den verachteten Bettler in ihrem Haus wie einen gleichgestellten Bruder aufgenommen und ihn gepflegt. Auch wir sollten den Menschen, denen wir helfen, auf Augenhöhe begegnen.
Redaktion: Der Erste Weltkrieg und die Nachkriegszeit sorgten bei den Menschen für große Not. Für welche Menschen kämpfen Sie besonders?
Otto: Größer als je ist die Zahl der Armen, ja es gibt wohl nur noch ganz wenige, die in der Kriegs- und Nachkriegszeit nicht von Leid und Not betroffen sind. Härter als je sind die drückenden Gefühle der Armut, des Verlassenseins, der Entrechtung. Wir erleben diesen Entwicklungsgang seit über 20 Jahren bei alleinstehenden, allein sorgenden Kriegerwitwen, bei nach einem Leben ehrlicher Arbeit im Alter darbenden Sozialrentnern. Ich verstehe aber auch die Sorgen der Eltern, die mit ihren Kindern in der engen Dachgeschoss- oder Kellerwohnung hausen. Hier steckt die lungenkranke Mutter ihre Kinder an. Die Enge befördert häusliche Gewalt. Die Väter sind meist dauerhaft arbeitslos.
Redaktion: Wie sieht Ihre Hilfe aus?
Otto: Wir Elisabethfrauen laden die griesgrämig gewordene Kleinrentnerin zu uns ein: gemeinsam trinken wir einen guten Kaffee und haben ungezwungene Gespräche. Wir bringen den Kranken ein gutes Essen ins Haus, nicht Reste oder Dinge, die wir selbst nicht einmal anrühren würden. Unsere Armen sollen nicht nur das Allernötigste haben dürfen. Sie haben ein Recht auf mehr, auf echte Teilhabe.
Familien brauchen professionelle Unterstützung
Redaktion: Warum engagieren Sie sich in der Politik und bei der Caritas?
Otto: Wir brauchen einen organisatorischen Zusammenschluss aller Vinzenz- und Elisabethenvereine in Deutschland. Um richtig helfen zu können, müssen wir die Helferinnen zu professionellen Hebammen oder Familienpflegerinnen gut ausbilden.
Hilfe für alle Mütter: Keine Zweiklassengesellschaft
Otto: Wir müssen dafür sorgen, dass unser Pflegepersonal selbst gut leben kann, das heißt, es muss sich eine Wohnung und ausreichend Essen leisten können. Unsere Hauspflegerinnen brauchen Versorgung jetzt und im Alter.
Redaktion: Sie haben 1925 eine religiöse Gemeinschaft, die Schwesternschaft St. Elisabeth in Freiburg gegründet und 1929 eine Geburtsklinik eröffnet, mit besonderer Pflege für die Frauen im Wochenbett. Dafür haben Sie Ihr Vermögen eingesetzt. Warum?
"Ich kann nicht in einer Villa leben und die Menschen im Elend zurücklassen."
Otto: Zum einen, um diese Versorgung für die Hauspflegerinnen sicherzustellen. Zum anderen: Wir müssen den Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit Genüge tun. Die Armen stehen nicht nur einer ungerechten Verteilung des Reichtums gegenüber, sondern sie leiden noch schwerer unter den ungleichen Verhältnissen. Hier einen Ausgleich zu schaffen, ist unsere Pflicht. Da kann ich nicht in einer Villa leben und die Menschen im Elend zurücklassen. Finden Sie nicht auch, dass wer am meisten hat, am meisten abgeben kann? Ich will keine Klinik mit Klasseneinteilung wie die Uniklinik. Ich will den Müttern des Arbeiter- und Mittelstandes die Ruhe und einfache, aber gute Pflege zuteilwerden lassen, die jeder Mutter gebührt, und die diese Mütter wegen Armut, Wohnungsenge oder großer Kinderzahl im eigenen Heim nicht finden können.
Über Mathilde Otto:
Mathilde Otto, geboren 1875 im badischen Oberweier, Ortsteil bei Lahr, wuchs in einem Industriellenhaushalt auf. Ihr Großvater war der größte Holzhändler im Deutschen Reich. Sie engagierte sich in Freiburg in der pfarrlichen Elisabethenarbeit. 1918 betraute sie Lorenz Werthmann, der Gründer des Deutschen Caritasverbandes (DCV), mit der Leitung des Referates "Armen- und Familienpflege" im DCV. 1925 erhielt sie für ihre Arbeit den päpstlichen Orden "Pro Ecclesia et Pontifice". Daneben war Mathilde Otto Zentrumsabgeordnete in der Badischen Nationalversammlung, Stadträtin in Freiburg und Mitglied im Freiburger Armenrat und im Jugendamt. Gemeinsam mit Benedict Kreuz, dem Nachfolger Werthmanns, gründete sie 1931 die Reichsgemeinschaft der Elisabethen- und Frauenvinzenzvereine. Ab 1931/32 gab sie wegen ihrer schweren Krebserkrankung sämtliche Verpflichtungen in Beruf und Ehrenamt ab. Sie starb am 20. August 1933.