„Nur mit Bildung kannst du was in Deutschland werden“
„Ich muss in die mündliche Prüfung. Mathe war nicht so gut.” Zainab (29) schaut unerschrocken. Ihre braunen schulterlangen Haare umspielen ihr Gesicht. Für einen kurzen Moment ist sie still. Vor eineinhalb Jahren hat die Marokkanerin im Grundkurs der Internationalen Klasse begonnen zu lernen. Im College der Volkshochschule Aachen drückt sie seither montags bis freitags im Nachmittagskurs von 11.30 bis 16.30 Uhr die Schulbank, in einem alten Schulgebäude mitten in der Aachener Innenstadt. Pro Semester unterrichten und betreuen 19 Lehrer(innen) und sechs Sozialarbeiter(innen) 400 Schüler, die ihren Haupt- oder Realschulabschluss nachholen. Zainab wird Ende Juli ihren Hauptschulabschluss in Händen halten.
Ein Traum zerplatzt
Vor fast zehn Jahren kam Zainab nach Deutschland. Mit einem A1-Deutsch-Zertifikat im Gepäck. „Ich hatte mit 18 Jahren in Marokko geheiratet. Mein Mann ist sechs Jahre älter als ich. Er ist in Aachen geboren, heiratete mich und nahm mich mit in die Kaiserstadt. Um ein Visum zu bekommen, musste ich Kenntnisse der Deutschen Sprache nachweisen”, erinnert sich Zainab, die heiraten wollten. „Ich war 18 Jahre alt. Da träumt jedes Mädchen von einer Hochzeit mit einem tollen Mann und von Kindern.” In Deutschland angekommen, war alles anders als gedacht. „Ich musste in unserer 1-Zimmer-Wohnung bleiben. Ich durfte nicht raus. Ich durfte keine Freunde und zu meiner Familie keinen Kontakt haben. Wenn wir gemeinsam einkauften, trug ich als Muslima ein Kopftuch.” Zainab vereinsamte. Ihr Mann arbeitete täglich, traf Menschen und schlug seine Ehefrau zu Hause, wenn sie ihm Widerworte gab.
In Deutschland gelten Gesetze
Fadia und Zainab vor der Aachener VHS.Deutscher Caritasverband e. V./Conny Stenzel-Zenner
„Ich hatte mir Sprachkurse erkämpft. Drei Stunden täglich lernte ich Deutsch beim Kolping-Bildungswerk”, erzählt die junge Frau. „Damals sagte meine Deutschlehrerin: Ein Mann darf dich nicht schlagen. Wir leben in Deutschland, unsere Gesetze verbieten das.” Zainab dachte nach, stellte in Frage, was viele Frauen nicht in die Frage stellen: Die Ehe. „Als mich mein Mann wieder einmal geschlagen hat, kam die Polizei”, erinnert sich Zainab. „Die haben meinen Mann der Wohnung verwiesen und mir von dem Verein Frauen helfen Frauenerzählt." Mit 24 Jahren traut sich Zainab und trennt sich. Sie erfährt von Anwälten, die ihre Position gegenüber ihrem Mann stärken. Sie erfährt von Dolmetschern, die das schwere Deutsch in ihre Muttersprache Arabisch übersetzen. Sie erfährt von einem Projekt für alleinerziehende Mütter. Das wussten Mitarbeiter im Jobcenter. „Ich dachte immer wieder: Die Trennung wird hart, aber ich schaffe das.”
Genau das passierte. Zainab lernte mit Computer umzugehen, sie verbesserte täglich ihr Deutsch, sie lernte Bewerbungen zu schreiben. „In dem Kurs für alleinerziehende Mütter hatten wir alle die gleichen Probleme: Kein Geld; Papiere, die wir nicht verstehen; Betreuungsschwierigkeiten für die Kinder. Wenn eine einen Ansprechpartner gefunden hat, gab sie den im Kurs weiter. Das war wunderbar. Wichtige Informationen flossen.” Bis sie erfuhr: Im College der Volkshochschule (VHS), im Sandkaulbach 13, gibt es einen Internationalen Kurs, in dem man den Hauptschulabschluss nachholen kann. Sie war geschieden und hatte ihr Kopftuch abgelegt. Und seit Februar 2018 ging sie mit 18 anderen Teilnehmer(inne)n vor allem Frauen aus der ganzen Welt, in eine Klasse.
Nach Deutschland ohne die deutsche Sprache
Die beiden College-Lehrkräfte der VHS Aachen unterstützen Fadia und Zainab.Deutscher Caritasverband e. V./Conny Stenzel-Zenner
Fadia ist eine weitere Teilnehmerin der Kurse. Die 31-jährige Syrerin ist seit 2007 in Deutschland. Als sie nach Deutschland kam, war in ihrer Heimatstadt Aleppo kein Krieg. „Ich wollte weg. In ein anderes Land”, erinnert sich Fadia, die seit zwölf Jahren glücklich verheiratet ist und drei Kinder hat. Nach Deutschland kam sie, weil ihr Mann schon da war. Ein Onkel hatte ihn zu einer Hochzeit eingeladen. Er blieb. Fadia kam in das Land, „das eine tolle Demokratie hat”, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. „Bei Familienzusammenführungen wird das nicht gefordert”, weiß Gülbin Akcetin, Sozialpädagogische Fachkraft am College der VHS Aachen. Ebenso wie ihre Kolleg(inn)en pflegt sie eine freundschaftliche, innige Beziehung zu den Absolventen der Internationalen Schulabschlusskurses. „Wir helfen immer dann, wenn die Bürokratie für unsere Teilnehmende nicht zu begreifen ist”, erklärt die Diplom Sozialpädagogin, woran es oft im Alltag scheitert: „An langen deutschen Sätzen und vielen Briefen von der Ausländerbehörde.”
Der Entschluss zu arbeiten
In Deutschland angekommen, harrte Fadia sieben Monate in ihrer Wohnung aus. „Wie mein Tag aussah? Kochen, essen, aufräumen und dem schlechten Wetter in Aachen zugucken.” Sie wollte Deutsch lernen. Das tat sie. Jeden Tag drei Stunden beim Kolping Bildungswerkes. „Ich wollte arbeiten”, sagt die 31-Jährige, die Absagen bei Bewerbungen bekam, „weil ich keine Zeugnisse hatte. Die lagen in Aleppo. Als ich meine Mutter bat, mir die zu schicken, erklärte sie, dass sie im Krieg andere Sachen zu tun hätten, als meine alten Zeugnisse zu suchen.” Fadia erfuhr vom TÜV Nord, wo sie als einjährige Maßnahme das Berufsfeld „Verkäuferin” kennenlernen sollte. Wie spricht man Kunden an? Wie werden Regale eingeräumt? Wie sauber muss der Boden in einem Laden sein? wurde in der Maßnahme besprochen und ein Praktikum in einem großen Supermarkt folgte. „Am Ende gab es keine Stelle”, ließ sich Fadia nicht von ihrem Ziel abbringen. „Ich wollte eine Ausbildung. Ich will meinen Traum, zu arbeiten und selbstständig zu sein, leben”, sagt die Syrerin, die in Kürze ihren Hauptschulabschluss in der Tasche hat und auch einen Ausbildungsplatz. „Ich werde Kinderpflegerin”, sagt sie und ist sich bewusst, „dass ich mit drei Kindern im Alter von elf, sechs und fünf Jahren Fachfrau bin.”
Die Muttersprache verbindet
Beiden Teilnehmerinnen ist der Wille eigen, nicht zu Hause zu bleiben. „Wenn du was in Deutschland werden willst, musst Du einen Job haben”, sagen Zainab und Fadia unisono. Längst sind die beiden Freundinnen geworden. Vor und nach dem Unterricht am College gehen sie spazieren, manchmal bummeln sie durch die Aachener Innenstadt. Wenn eine im Unterricht nicht versteht, was die Lehrer(innen) in den Fächern Mathe, Deutsch, Englisch, Biologie, Arbeits- und Gesellschaftslehre sagen, übersetzt die andere. Dann sprechen sie Arabisch. Ganz leise.
Freunde finden ist einfach
Zainab macht weiter im College. Sie will ihren Realschulabschluss machen und dann Altenpflegerin werden. Unabhängig möchte sie sein, nicht mehr von Sozialamt unterstützt werden. Freunde hat sie gefunden. „Mein Sohn spielt in der F-Jugend Fußball. Am Wochenende sind Spiele. Die anderen Eltern nehmen mich immer mit, weil ich kein Auto habe.” Das sei in Deutschland ganz selbstverständlich. Wie es auch selbstverständlich sei, dass sie Hilfe bekomme, wenn sie frage. „Die im Jobcenter wissen viel. Und die Lehrer(innen) in der Schule auch. Irgendeiner weiß immer, an wen man sich wenden kann.” Keiner der beiden Schülerinnen will weg aus Deutschland. Unerschrocken sagen sie, dass sie auf jeden Fall eine Stelle wollen, um dann auf eigenen Füßen zu stehen. Voraussetzung zu einer guten Integration sei zu aller erst die deutsche Sprache. „Nur mit Bildung kannst du was in Deutschland werden”, sagt Fadia.
Autorin: Conny Stenzel-Zenner