Laufen lenkt ab und motiviert
Leben auf engem Raum
Milad kam, wie einige andere unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die 2015 in Berlin ankommen, zunächst in einem Hostel unter. Die Ankunft vieler geflüchteter Kinder und Jugendlicher stellte nicht nur die Jugendämter in Berlin vor Herausforderungen. Hinzu kam der angespannte Wohnungsmarkt der Hauptstadt. Milad wohnte mit drei anderen geflüchteten Jugendlichen in einem Zimmer. "Zuerst war ich in einem Hostel in Pankow. Da waren viele Leute und die Betreuer konnten nicht für alle gut arbeiten", erinnert sich Milad. Der 17-Jährige beschreibt die Zeit als sehr schwierig für ihn: das Leben auf engem Raum, noch keine Kontakte und vor allem die viele freie Zeit. „Ich kannte niemanden, um gemeinsam in einen Jugendklub oder so zu gehen”, erzählt er. „Aber als Hedda ins Hostel kam, wurde vieles besser.”
Laufen lenkt ab und motiviert
Hedda engagiert sich ehrenamtlich für Geflüchtete. Eines Tages, Ende 2015, kam sie in die Unterkunft, wo Milad wohnte. Dort gründete sie mit den Jugendlichen eine Laufgruppe. Milad war sofort begeistert dabei. Für ihn bot das Laufen nicht nur eine Ablenkung vom tristen Leben in der Unterkunft. Über die Laufgruppe konnte er seine neue Umgebung erkunden und fand darüber den Weg in den Leichtathletik-Verein Fortuna Marzahn. Den Kontakt zur dortigen Trainerin Doris stellte Hedda her. Milads Disziplin: Mittel- und Langstrecke. Dass er darin erfolgreich ist, sieht man in seinem WG-Zimmer, in dem er mittlerweile wohnt. Ein Regal steht voll mit Pokalen, Urkunden und Medaillen. Doch für das regelmäßige Training hat Milad gerade keine Zeit mehr. "Ich lerne für meine Abschlusspräsentation", berichtet der junge Mann. „Wenn ich die bestehe, bekomme ich meinen MSA (Anm. d. Red.: Mittlerer Schulabschluss beziehungsweise Mittlere Reife). Mein Thema ist Leistungssport. Also: Trainingsplan, Wettkampfplan und richtige Ernährung zum Beispiel.”
Gemeinsames Lachen verbindet
Hedda ist es auch, die Milad mit Angelika und Matthias zusammenbringt - ihre Kinder gehen alle auf dieselbe Schule. „Über die Medien haben wir erfahren, dass dringend Vormünder für geflüchtete Jugendliche gesucht werden”, sagt Matthias. Zu dieser Zeit kam es oft vor, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge durch Amtsvormünder betreut wurden, die für 60 bis 80 Jugendliche gleichzeitig verantwortlich waren. Ein Betreuungsschlüssel, der eine individuelle Betreuung unmöglich macht. Matthias erzählt weiter: „Über die Caritas gab es dann Einführungsveranstaltungen für angehende Vormünder. Da wird man für seine Aufgabe als Vormund vorbereitet. Man bekommt zum Beispiel Informationen über das Asylrecht.” Danach fühlten sich Angelika und Matthias bereit dafür, die Verantwortung für einen weiteren Jugendlichen zu übernehmen - beide leben gemeinsam in einer Patchworkfamilie mit insgesamt sechs Kindern.
Dann kam der Tag des ersten Kennenlernens. Hedda hatte ein Treffen für geflüchtete Jugendliche und interessierte Vormünder organisiert. „Wir waren im Schulgarten und haben gemeinsam gegärtnert”, erzählt Angelika und wendet sich an Milad. „Dort habe ich dich zum ersten Mal gesehen und Hedda hat uns alle danach zum Essen bei sich zu Hause eingeladen. Das war lustig. Denn Milad und ich waren beide pünktlich. Die anderen hatten sich verlaufen. Dann sind wir mit den Fahrrädern los und sind in Pankow herumgeradelt, um die anderen zu finden.” Alle lachen, und man spürt die Vertrautheit, die zwischen den dreien entstanden ist. „Das war so ein erstes Erlebnis, wo ich dachte: Das klappt ja gut. Da ist ein Draht zwischen uns.” Ein paar Wochen später werden Angelika und Matthias vom Familiengericht als Vormünder von Milad bestätigt. Das war im Sommer 2017.
Der Asylantrag als erstes gemeinsames Projekt
Mittlerweile ist das Essen fertig und Milad bittet uns zu Tisch. Qorme-Bamia ist ein Gericht aus Okraschoten und Kartoffeln. Dazu gibt es Reis mit Fleisch. „Noshe jan - guten Appetit”, sagt Milad. Beim Essen erfahre ich mehr über die Unterstützung, die Milad von Angelika und Matthias bekommt. „Wir sind dafür da, um Milads Position gegenüber dem Jugendamt und den Jugendhilfeträgern zu vertreten”, erzählt Matthias. „Eben bei allen offiziellen Dingen wie beispielsweise der Schulwahl, Hilfeplangesprächen, wenn er in einen Verein eintritt oder auch beim Asylverfahren.„Stimmt”, bestätigt Angelika. „Der Asylantrag war eigentlich das erste Projekt, das wir gemeinsam angegangen sind. Wir sind zusammen seine Vorgeschichte durchgegangen, haben über sein Leben in Afghanistan und natürlich auch über seine Flucht gesprochen. Es war wichtig, dass er im Vorfeld wusste, worauf es bei der Anhörung ankommt. So einfach war das jedoch nicht, besonders für Milad.” Danach fühlten sich alle gut auf die Anhörung vorbereitet. Doch der Asylantrag wurde abgelehnt. „Wir haben daraufhin mit Unterstützung durch einen Rechtsanwalt Widerspruch eingereicht“, sagt Matthias. „Der liegt zurzeit noch beim Gericht.” Milad ist dennoch zuversichtlich: „Ich hoffe, dass ich beim Gericht eine positive Antwort bekomme. Denn vielen Jugendlichen geht es so wie mir. Zuerst werden sie abgelehnt. Aber beim zweiten Mal beim Gericht bekommen viele den Aufenthalt.”
Das große Ganze im Kleinen
Die gemeinsame Arbeit an dem Asylantrag, die Gespräche über Milads schwierige Zeit vor und während der Flucht hätten eine große Vertrauensbasis geschaffen, berichtet Angelika. „Das hat uns gezeigt, dass Milad uns vertraut. Das war für mich ein sehr schönes Erlebnis. Und jetzt ist alles sehr selbstverständlich für uns: Milad gehört einfach zu unserem Leben.” Angelika und Matthias sehen in ihrem Engagement auch die Möglichkeit, einen kleinen, aber konkreten Beitrag dazu beizutragen, dass die Welt ein Stückchen besser wird. Zu zweit können sie nichts an den bestehenden Fluchtursachen oder aktuellen asylpolitischen Entscheidungen ändern. Aber sie unterstützen einen jungen Menschen dabei, seinen Weg in einem für ihn fremden Land zu gehen. „Ich finde es einfach eine Bereicherung”, ergänzt Angelika. „Es wäre schön, wenn das mehr Menschen auch so sehen könnten.” Und wie ist es für Milad selbst? „Am schönsten ist, dass es hier keinen Krieg gibt”, sagt er. „Man kann in Ruhe leben. In unserem Land zum Beispiel kann man nach 22 Uhr nicht mehr rausgehen. Das ist zu gefährlich. Aber hier ist es gut. Auch, weil ich Angelika und Matthias habe.”
Empfehlungen für die Zukunft
Die leeren Teller stehen schon eine Weile vor uns auf dem Tisch. Ab und an nimmt jemand eine Weintraube, die Milad zum Nachtisch angeboten hat. Von der Vergangenheit über die Gegenwart kommen wir zur Zukunft. „Man kann nicht so gut in die Zukunft sehen”, sagt Milad und lacht. „Aber ich möchte eine gute Ausbildung machen und Geld verdienen, damit ich meiner Familie helfen kann. Dann bekomme ich vielleicht meinen Aufenthalt und kann endlich wieder meine Familie in Afghanistan besuchen. Das ist mein Ziel für die Zukunft.” Angelika nickt ermutigend und wendet sich an Milad: „Ich bin mir sicher, dass wir das hinbekommen und du hier Fuß fassen wirst. Du bist so ein lebenstüchtiger Mensch und gehst offen auf andere zu. Du schaffst das.” Zum Abschied frage ich Milad, wie er seine Ziele erreichen will und was dafür wichtig ist. „Wenn man nichts macht, dann bekommt man am Ende auch nichts„, antwortet er. „Man muss lernen und Sport machen. Denn Sport ist gesund für den Körper. Beim Lernen ist es auch so: Das ist gut für den Kopf. Also: Lernt mehr und macht Sport!”