Ich wünsche mir einen Anfang ohne Ende
Eine Reise ohne bestimmtes Ziel, aber mit großen Hoffnungen. Eine Reise, von der ich nicht wusste, wie lange sie dauern wird. Aber ich hatte die Hoffnung, dass ich diese Reise überleben werde und am Ende frei sein kann. Dass sich meine Wünsche erfüllen werden, dass ich am Ende ein Mensch sein kann, der endlich eine eigene Identität hat, der irgendwo hingehört. Jeden Tag habe ich versucht dafür zu kämpfen. Jeden Tag habe ich mit Schwierigkeiten gerungen - mit Erlebnissen, die ich nie vergessen werde.
Manchmal wünschte ich mir den Tod
Es gab auch Tage und Nächte, die ich ohne Hoffnung verbrachte. Tage und Nächte, durch die ich mich als lebender Toter immer weiter geschleppt habe, um am Ende doch vielleicht wieder ins Leben zurückzukommen. Ich bestreite nicht, dass es Nächte gab, in denen ich wünschte, lieber tot zu sein, in denen ich wünschte, dass alles zu Ende sei. Aber es gab irgendetwas in mir, das mir immer wieder Energie gab, und obwohl mein Körper eigentlich schon tot war, hat dieses Etwas meiner Seele nicht erlaubt, den Körper zu verlassen. Ich erinnere mich an Tage, an denen die Seele von meinem Körper Besitz ergriff und ihn immer weiterschleppte. Die Seele ließ nicht nach, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Obwohl sie selbst sogar Tag für Tag schwächer geworden war, hat sie es dennoch erreicht, dass der Körper überlebte.
Eine neue Welt
Diese Reise, die eine Ewigkeit dauerte, endete in einer kleinen, aber schönen Stadt. Eine Stadt, in die täglich viele Menschen kommen um sie zu besichtigen. Sie kommen nicht um zu überleben, sie kommen um die Schönheit der Stadt zu genießen. Es war anfangs sehr angenehm, doch dieses gute Gefühl hielt nicht lange an, denn ich war in einer völlig neuen Welt angekommen, in der immer wieder Probleme auftauchten, und wenn eines gelöst war, kam ein neues noch größeres. Probleme wurden meine ständigen Begleiter.
Heinrich lernt Mahdi 2015 kennen
Ich bin Heinrich und lebe in Bamberg. Im Sommer 2015, in dem überall über das "Wir-schaffen-das" diskutiert wird, entscheide ich mich nicht nur zu reden und melde mich beim Don Bosco Jugendwerk. Dort bekomme ich die Möglichkeit im Rahmen des Projektes Schüler.Bilden.Zukunft Integrationspate zu werden - für Mahdi, den jungen Afghanen, der im Iran aufgewachsen und von dort geflohen ist. Meine nervöse Unsicherheit vor dem ersten Treffen legt sich schnell, auch weil die Englischkenntnisse meines Gegenübers die Kommunikation erleichtern. Mehr als das sprachliche Geschick beeindruckt mich jedoch das Allgemeinwissen des Jungen, dem ich in den folgenden Jahren helfen will, unser Land und unsere Sprache besser zu verstehen.
Auch ich lerne dazu
Gleich beim ersten Treffen zu zweit fange auch ich an, dazu zu lernen. Wer aus Afghanistan kommt, ist nicht in erster Linie Afghane, sondern Paschtune, Tadschike oder eben wie Mahdi, Mitglied der Hazara, einer Volksgruppe mongolischer Abstammung, die leider immer noch häufig Opfer gezielter Terroranschläge ist. Zudem lerne ich noch einiges über meine eigene Sprache bei dem Versuch, Mahdis Fragen zu beantworten. Wie erkläre ich den Unterschied zwischen dunkel und finster, klug und schlau? Wann sage ich gewohnt und wann gewöhnt? Was wird aus der Pizza, wenn es zwei sind?
Die wahre Herausforderung jedoch entsteht beim Versuch, amtliche Formulare auszufüllen. Was war doch gleich wieder der Unterschied zwischen einer Bedarfsgemeinschaft, einer Haushaltsgemeinschaft und einer WG? Die Erklärungen zum Ausfüllen der Formulare sind umfangreicher als das Formular selbst und schwer zu verstehen, denn der Sinn versteckt sich oft kaum auffindbar in zeilenlangen hochkomplizierten Satzkonstruktionen, gespickt mit juristischen Formulierungen. Und eine "Fiktionsbescheinigung" ist nicht etwa ein lustiger Begriff aus der Heute-Show, sondern ein hochoffizielles Dokument der Ausländerbehörde unseres Landes. Ich lerne also viel dazu, über meine Sprache und über mein Land.
Mahdis Herausforderungen seit seiner Ankunft
Mahdi hat geschrieben, dass Probleme zu seinen ständigen Begleiter wurden. Als ich ihn frage, an welche Probleme er dabei denkt, erzählt er mir ausführlich seine Geschichte, die ich im Folgenden versuche zusammenzufassen. Als Mahdi in einem Zug nach etwa drei Monaten in München ankam, hatte er zwar sein Ziel erreicht, doch sehr vieles war unsicher. Am meisten bedrückte es ihn, nicht mehr selbst entscheiden zu können, wie es nun weitergeht. Vier Wochen später kam er nach Bamberg, wo er in einer Wohngruppe des Don Bosco Jugendwerk Bamberg mit weiteren elf unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten untergebracht wurde. Obwohl er nicht alleine war, fühlte er sich sehr einsam. Es gab zwischen den Jugendlichen keine gemeinsame Sprache und kaum gemeinsame Interessen. Mit den Betreuern hatte man allerdings etwas gemeinsam: Sie kannten sich untereinander auch nicht, da die Wohngruppe neu eröffnet worden war.
Das Leben wieder selbst in der Hand
Der Alltag war sehr langweilig. Die meisten Jungs spielten viel Fußball. Mahdi wollte lieber möglichst schnell Deutsch lernen, doch im Sprachkurs an der VHS ging es nicht recht voran. In der Wohngruppe gab es viel Stress und so war Mahdi froh, als er ausziehen durfte und im Betreuten Wohnen des Don Bosco Jugendwerks sein eigenes Zimmer bekam. Was wie die Lösung eines Problems aussah, brachte allerdings ein neues und größeres Problem mit sich. Einsam und allein zu sein war für Mahdi schlimmer als der Stress mit anderen. Es dauerte eine ganze Zeit, bis Mahdi sich an die neue Situation gewöhnt hatte. Langsam wurde sein Deutsch besser, und als er die Erlaubnis bekam, eine Realschule zu besuchen, begann für ihn ein neuer Abschnitt. Es kamen zwar wieder viele neue Schwierigkeiten auf ihn zu, doch er hatte endlich wieder das Gefühl, sein Leben selbst in der Hand zu haben. Er wusste, wenn er sich anstrengte, würde er vorankommen. Nach zwei Jahren hatte er ein großes Ziel erreicht - er erhielt das Zeugnis der Mittleren Reife.
Endlich: Die Anerkennung als Asylsuchender
Auch ein anderes großes Ziel hatte er inzwischen erreicht: die Anerkennung als Asylsuchender und damit einen Schengen-Pass. Die Anhörung im Asylverfahren begann allerdings mit einem großen Schreck, denn der Übersetzer war Paschtune, also Mitglied einer Volksgruppe, die den Hazara sehr feindselig gegenübersteht. Zudem gab es auch sprachliche Schwierigkeiten, sodass es immer wieder zu Missverständnissen kam. Wenn Mahdi Deutsch redete, hörte ihm die deutsche Beamtin gleich gar nicht zu, sondern wartete auf die "Übersetzung" des Dolmetschers, was Mahdi heute noch sehr komisch findet. Und nicht nur er. Für Mahdi war und ist es ein sehr gutes Gefühl, einen Pass zu haben und reisen zu können. Im Iran dürfen Afghanen die Stadt, in der sie wohnen, nicht verlassen. Doch nun konnte er mit der Schulklasse sogar nach Rom reisen, konnte seine Tante in Wien besuchen und mit mir Paris besichtigen, womit sich einer seiner Kindheitsträume verwirklichte.
Was ich mag, schade finde und mir für die Zukunft wünsche
Besonders mag ich, Mahdi, dass es im Krankheitsfall kein Problem ist zum Arzt zu gehen. Im Iran kann es leicht passieren, dass man nicht behandelt wird, nur weil man Afghane ist. Ich finde es aber schade, dass sich die Menschen in Deutschland Flüchtlingen gegenüber anders verhalten als gegenüber Ausländern. Sie verhalten sich nicht mehr natürlich, sind vorsichtiger, manche wollen besonders nett sein. Diese Erfahrung haben auch viele meiner Freunde gemacht. Nun bliebt nur noch die Frage: Wie soll diese Geschichte enden? Diese Frage erinnert mich sofort an den Anfang, den Anfang meiner Reise ins Ungewisse. An einen Anfang, der gleichzeitig auch ein schmerzhaftes Ende bedeutete. Eine Reise, auf der immer wieder etwas zu Ende ging, und die immer wieder einen neuen Anfang brachte. "Was erhoffst du dir von der Zukunft?", fragt mich Heinrich. Ich denke kurz nach. Dann sage ich: Einen Anfang ohne Ende.
Autoren: Mahdi M und Heinrich J.