Eine Liebesgeschichte_caritative Orden und ihre Perspektiven
Der Titel ist ernst gemeint. Doch handelt es sich nicht um eine Lovestory nach Hollywood-Muster mit Happy End. Vielmehr geht es um die Liebe im Sinne von "caritas", "agape" und um ihre Geschichte: Gott begegnet Menschen als Liebender in Menschen, die anderen zugewandt sind. Gott ist Liebe - dies bleibt jedoch ein leeres Postulat, wenn diese Liebe nicht erfahrbar wird.1 So steckt in dieser deskriptiven Aussage bereits von Anfang an ein Appell an diejenigen, die diese Liebe verkünden. Der 1. Johannesbrief wird hier sehr deutlich: Nur wenn wir einander lieben, können wir in Gott bleiben, der die Liebe ist (vgl. 1 Joh 4,7-21).
Ein Prüfstein dieser Liebe war seit den frühesten Tagen des Christentums die Sorge für die Armen, Fremden und Kranken. Nun hat die frühe Kirche, was die Fürsorge für die Armen betrifft, nicht im luftleeren Raum agiert. Im Gegensatz zum Fürsorgewesen der antiken Gesellschaft verband sich bereits in den neutestamentlichen Idealbildern der Gemeinde organisch das caritative Moment mit dem gemeinschaftlichen.
Es ist eine für heute immer noch wichtige Einsicht, dass die Gestalt der kirchlichen "diakonia" ("Dienst am Nächsten") oder "caritas" immer ein Spiegel der Geschichte beziehungsweise der geschichtlichen Entwicklungen ist. Die jeweilige politische oder wirtschaftliche Großwetterlage und ihre Wandlungen geben auch die Gestalt vor, in der sich caritatives Tun von Christen entfalten kann. Die historischen Wendungen in der Entwicklung der frühen Kirche sorgen Stück für Stück für eine immer klarere Institutionalisierung der caritativen Aufgaben. Die Orden kommen noch nicht sofort ins Spiel: Sie haben allerdings seit dem Frühmittelalter eine zunehmende Bedeutung.
Ist es zunächst die in allen Klöstern der benediktinischen Tradition verankerte Beherbergung von Pilgern und Armen, so taucht ab dem 13. Jahrhundert etwas Neues auf: Während die Beseitigung von Armut und Krankheit in der Antike und im frühen Mittelalter als gesellschaftliche Aufgabe gesehen wurde, mit der man vor allem einem Übel zu wehren suchte, wendet sich seit Franziskus von Assisi († 1226) die Perspektive, die auch für die Ordenswelt eine wichtige Bereicherung bedeutet: Die Armut gewinnt eine spirituell positive Dimension, und die Sorge für die Armen, Kranken und Ausgestoßenen wird zu einem Raum der Christusbegegnung.
Die Orden prosperierten
Ein großer Sprung ins 19. Jahrhundert: Hier sind wir in der Zeit der zahlreich entstandenen caritativen Orden und Kongregationen. Sie konnten nach vielen Weichenstellungen im näheren und weiteren Kontext der Säkularisierung aufblühen und verzeichneten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ein überwältigendes Wachstum. Orden und Caritas waren eng miteinander verbunden.
Laieninitiativen, die durch die Kirchenleitungen weitgehend unterstützt wurden, die wegfallenden staatlichen Einschränkungen für Klostergründungen, die aufkommende soziale Frage, deren Lösung man weitgehend in caritativem Tun sah, und schließlich auch die Möglichkeit zahlreicher Frauen, in Ordensgemeinschaften Ausbildung und gesellschaftliche Anerkennung zu finden: All das sorgte für einen äußerst fruchtbaren Nährboden der Ordensentwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Nach dem Kulturkampf, dem Konflikt zwischen Preußen und der katholischen Kirche um 1870, setzte sich das Wachstum der caritativen Ordensgemeinschaften beinahe ungehindert bis in die Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts hinein fort. Um 1940 verzeichneten die Statistiken rund 100.000 caritativ tätige Ordensfrauen in Deutschland, die in knapp achttausend Niederlassungen lebten und arbeiteten.
Dieser Status konnte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gehalten werden und sank zunächst langsam, dann aber rapide auf die heutige Zahl von rund 17.000 Frauen in aktiven Orden, von denen im Jahr 2013 noch rund 1600 in verschiedenen caritativen Berufen tätig waren. Während 1960 noch rund 60 Prozent der in der Bundesrepublik hauptamtlich in der Caritas tätigen Mitglieder Ordensleute waren, sank dieser Anteil auf circa vier Prozent im Jahr 1994 und liegt heute bei unter 0,3 Prozent. Solche ernüchternden Statistiken werfen vielfach Fragen auf. Es ist realistisch, wenn man von einer Abwicklung in großem Stil spricht: Die Schließung von Niederlassungen, der Rückzug aus Gestellungsverträgen, die Aufgabe eigener Einrichtungen gehört für alle caritativen Ordensgemeinschaften zum nahezu überfordernden Tagesgeschäft.
Liebe braucht Geschichte - und der caritative Dienst im kirchlichen Leben ist gleichzeitig unlösbar mit der Geschichte der Gesellschaft verzahnt, die sie umgibt. Dieser Blick führt zur Einsicht, dass die Gegebenheiten des 19. Jahrhunderts mit dem Zusammentreffen ganz unterschiedlicher begünstigender Faktoren eine große Ausnahmesituation in der Kirchengeschichte zu sein scheint. Der nüchterne Blick auf den heutigen gesellschaftlichen Kontext lässt es als absolut naheliegend erscheinen, dass diese Blütezeit der caritativen Orden eine besondere Zeit war, eine Ausnahmezeit, die sich auch durch große Anstrengungen nicht verlängern oder wiederbeleben lässt. Das macht den Abschied von vielen vertrauten Gegebenheiten noch nicht leichter. Es verhindert aber, dass der Blick allein rückwärtsgewandt ist und Vergangenes bewahren möchte, weil es das Gültige und Bessere gewesen sein soll.
Freiheit gewinnen oder "Der Letzte macht das Licht aus?"
Die heute bestehenden caritativen Ordensgemeinschaften und Kongregationen erleben diese Umbruchsituation als großen Verlust. Dabei geht es ja weniger darum, dass Institutionen um ihrer selbst willen erhalten bleiben. Vielmehr geht es um die konkreten Ordensmänner und Ordensfrauen, die sich für eine christlich naheliegende und persönlich erfüllende Lebensform entschieden haben, in der sie den sinnvollen Dienst, ihr spirituelles Leben und ein Leben in Gemeinschaft miteinander verbinden wollen. Nun stehen sie wie verlassene Geliebte da, weil ihren Gemeinschaften, in denen die Liebesgeschichte mit Gott konkret werden konnte, die Kraft ausgeht. Sie erleben vielfach schmerzhaft die zu groß gewordenen Schuhe der Vergangenheit, in denen sie buchstäblich nicht mehr vorankommen. Wie geht es weiter? Geht es überhaupt weiter? Für viele Frauen (und auch Männer) im mittleren Alter stehen nahezu ausschließlich Aufgaben in ihren Gemeinschaften bereit, die eher auf die Verwaltung der eigenen Gemeinschaft, auf die Sorge für ältere Schwestern und Brüder und auf die organisatorische Ausgestaltung des Rückzugs aus Einrichtungen und Diensten ausgerichtet sind. Diese Aufgaben sind notwendig. Es sind aber nicht die Aufgaben, die in die Kirche und Gesellschaft hineinwirken - und für die die Männer und Frauen ihr Leben in den Ordensgemeinschaften begonnen haben.
Die heute noch jüngeren Schwestern und Brüder stehen in einem schwer erträglichen Dilemma: Leben und Berufung hatten oft einen anderen Klang, als der Weg im Orden begonnen wurde. Diesen Spuren treu zu bleiben wird schwer, wenn die Aufgaben auf einmal ganz andere werden. Woher kann die Kraft zu einem Aufbruch kommen?
Es mag nicht einfach sein, doch ist das Eingeständnis wichtig, dass ein verengter Blick auf die Vergangenheit lähmt. Für neue Formen des Ordenslebens wird man in einer konkreten Gemeinschaft auch nicht alle Brüder und Schwestern gewinnen können. Viele ältere Schwestern und Brüder möchten nach einem arbeitsreichen Leben auch in den gewohnten Strukturen alt werden und ihr Leben beschließen. Allerdings wäre es eine zu hohe Erwartung, dass die wenigen jüngeren Frauen und Männer in einer Gemeinschaft diese Strukturen aus ihrer Kraft auch gewährleisten können. So wird von den älteren Schwestern und Brüdern vor allem eines verlangt: dass sie Neuaufbrüche ihrer Schwestern und Brüder unterstützen; dass sie die Jüngeren entlasten und freigeben, dass sie ihnen mit Verständnis und Gelassenheit ermöglichen, den Dreiklang zu leben, weswegen sie ein Ordensleben begonnen haben: den Dienst, das spirituelle Leben und die Gemeinschaft.
Für jüngere Schwestern und Brüder steht dann im Vordergrund, dass sie Freiheit gewinnen und Freiheit nutzen: Für neue Formen des gemeinschaftlichen Lebens, das in der Gestalt und dem Ort neu sein kann, das möglicherweise an ungewöhnlichen Orten neu beginnt. Die Gestaltungsmöglichkeiten sind vielfältig (zum Beispiel neue Konvente in sozialen Brennpunkten, gelebte Gastfreundschaft, kleine Konvente in der Gemeinde anstelle von großen Gemeinschaften in Einrichtungen und Mutterhäusern und anderes). Jede gewählte Form muss ermöglichen, dass die Berufung neu erlebt und gelebt werden kann, soll dem geistlichen Leben dienen, der Vertiefung der Beziehung dieser Ordenschristen zu Gott. Die gemeinschaftliche Lebensform als Rahmen und die Gottesbeziehung als Quelle können dann zu einem Dienst ermutigen, der heute notwendig und heilend ist. Es wird dann weniger der Dienst in den klassischen caritativen Einrichtungen sein. Dieser Dienst ist bei den mittlerweile 590.000 Beschäftigten der Caritas gut aufgehoben. Ordensleute müssen sich heute nicht mehr über den Dienst in den von ihnen aufgebauten Einrichtungen identifizieren.
Es kann jedoch ein Dienst sein, der exemplarische Bedeutung hat; der aus der Freiheit geschieht, sich dem zuzuwenden, was möglicherweise von anderen Diensten nicht geleistet werden kann, ein Dienst, der an die "blinden Flecken" der Gesellschaft rührt (zum Beispiel die Sorge um Randgruppen wie Flüchtlinge oder Obdachlose, Angebote zum Mitleben auf Zeit oder niederschwellige spirituelle Angebote). Auch heute muss eine Ordensgemeinschaft Sorge dafür tragen, dass die Charismen der einzelnen Schwestern und Brüder für die Kirche und die Gesellschaft leben können.
Kommt die Liebe ins Museum?
Wenn aber die Gemeinschaften immer kleiner werden, wenn sie die großen Werke, die sie aufgebaut haben, in andere Hände geben müssen - die Krankenhäuser, die Einrichtungen der Altenhilfe, der Jugendhilfe, der Behindertenhilfe - was wird dann aus der Idee, mit der sie gegründet wurden? Zieht mit den Ordensgemeinschaften auch die christliche Nächstenliebe aus den Einrichtungen aus? Ist das Kreuz im Logo eines Unternehmens nur noch ein museales Erinnerungszeichen?
Ordensgemeinschaften haben hier in der jüngeren Vergangenheit unterschiedliche Modelle gewählt, um den Übergang zu gestalten. Stiftungen sind eine Möglichkeit, die Ordensidee, den Auftrag lebendig zu erhalten. Stiftungen, so die Vision einer Krankenhausdirektorin eines ordenseigenen Krankenhauses, verpflichten durch ihren Stiftungszweck auch zukünftige Führungskräfte und Aufsichtsgremien, sie ermöglichen auch die Einbindung von gesellschaftlichem Engagement durch Zustiftungen und könnten so auch Mittel bereitstellen, um das Profil einer christlichen Einrichtung durch die Übernahme von Aufgaben zu erhalten, die keinen Erlös versprechen. In Zeiten des wirtschaftlichen Drucks auf die Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens gehe es darum, die Identität nicht an die Logik der Ökonomie zu verraten.
Die Geschichte geht weiter
Auch andere Organisationsformen sind denkbar, doch kommt es immer darauf an, dass heute Personen gefunden werden, die bereit sind, Auftrag und Idee der vormals ordenseigenen Einrichtungen weiterzutragen und zu ihrem Auftrag zu machen. Strukturen sind dabei hilfreich, doch das Entscheidende sind die Menschen. Essenziell ist, dass vor allem Führungskräfte beständig mit der Frage infiziert werden: Warum gibt es uns als kirchliche Einrichtung? Was ist das Besondere? Was unterscheidet uns? Die Ordensfrauen und Ordensmänner, die heute in den Aufsichtsgremien von Stiftungen und Gesellschaften wirken, haben vielleicht genau diese Aufgabe: Ihre Mitarbeitenden, die das Erbe der "Ausnahmezeit" der caritativen Orden antreten, mit dieser Frage auf den Weg zu schicken und diese in ihnen wachzuhalten. Sollte es keine Antwort darauf geben, dann ist auch eine Trennung von Einrichtungen denkbar.
Haben caritative Orden eine Zukunft? Man kann es so sagen: Die Liebesgeschichte geht weiter - in neuen Formen, mit Menschen, die die reiche Saat der caritativen Orden weiterpflegen und mit den Neuaufbrüchen, die aus den Charismen der heute lebenden Ordensleute entstehen können.
Anmerkung
1. Die folgenden Ausführungen orientieren sich weitgehend an: Gatz, E. (Hrsg.): Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Band V, Caritas und soziale Dienste. Freiburg im Breisgau, 1997, sowie: Band VII, Klöster und Ordensgemeinschaften, Freiburg im Breisgau, 2006.
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