Die Caritas – Kirche mitten im Leben
"Eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur so selten dazu" - an dieses Wort von Ödön von Horváth muss ich manches Mal denken, wenn ich an Diskussionen über Kirche und Caritas teilnehme. Im Kern sind solche Diskussionen fast immer Identitätsdiskurse.
Wenn nun der Deutsche Caritasverband (DCV) danach fragt, was Caritasorganisationen zur "Kirche vor Ort" mache, dann steht hinter dieser Frage auch die Hoffnung, hier eine gültige Antwort auf das "Bezeugen der unbedingten Liebe Gottes und der Hoffnung auf Leben, Befreiung und Erlösung"1 als Bestandteil dieser Identität zu finden. Zumindest findet diese Hoffnung im Tagungsflyer ihren Ausdruck. Die abnehmende Zahl der Katholik(inn)en sowohl in der Gesamtbevölkerung wie in den caritativen Diensten und Einrichtungen, die Pluralisierung von Lebensentwürfen, die Stärkung von individuellen Freiheits- und Selbstbestimmungsrechten, die fortschreitende Professionalisierung im Sozial- wie Gesundheitsbereich sowie die beobachtbare Ökonomisierung werden als Entwicklungen aufgezählt, die die "bisherige(n) Ausdrucksformen kirchlicher Identität hinterfragen".2
Aus der Perspektive der caritativen Praxis lässt sich mit Blick auf die Dienste und Einrichtungen zudem fragen, ob die genannten Entwicklungen und Herausforderungen hinreichend beschrieben sind. Zwar hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich die Trends der kirchlichen Vergangenheit nicht einfach in die Zukunft fortschreiben lassen.3 Die tiefgreifende Entkirchlichung in Westeuropa und in Deutschland ist gegenwärtig wohl so schnell nicht zu stoppen. Von der religiösen Vitalität und der Aufbruchstimmung in anderen Kontinenten ist hierzulande wenig zu spüren. Die spezifische Sozialform der organisierten Kirchlichkeit scheint in der Breite nicht mehr überzeugungsfähig zu sein. Die Kirche als Organisation, beruhend auf einer zugeschriebenen Mitgliedschaft und mit relativ ausgeprägten Rollenzuweisungen, verliert sichtbar an Zuspruch, weil sie wichtige Aspekte der beobachtbaren Individualisierung nicht hinreichend berücksichtigt. Nach Anthony Giddens4 muss sich das moderne Individuum selbsttätig und reflexiv erschaffen. Und hierfür scheint Kirche zu wenig Raum zu bieten. Selbstbestimmung, Selbstbetätigung und Selbstverwirklichung markieren keineswegs negative Entwicklungen, sondern stellen wichtige Elemente des heutigen Selbstverständnisses von Individuen dar. Menschen finden sich dabei in Suchprozessen, und man sollte prüfen, ob die Pastoral genügend Such- und Erfahrungsräume in dieser Hinsicht eröffnet. In der Konzentration auf das Für und Wider der großen Pastoralräume wird bisweilen die Bedeutung solcher Erfahrungsräume unterschätzt.
Hier, so meine Vermutung, bietet sich eine große Chance für Kirche und ihre Caritas. Caritas kann für Kirche zum wertvollen Erfahrungsraum werden - wenn man sich denn allseits die dazu notwendigen Anforderungen bewusst macht und für ihre Realisierung sorgt. Erinnert sei besonders an das Impulspapier zur Rolle und zum Beitrag der verbandlichen Caritas in den pastoralen Räumen (2009) sowie an die Ideen- und Bausteinsammlung zur diakonischen Ausgestaltung pastoraler Räume aus dem Jahr 2011.5
Der Unterschied von Raum und Ort
Die Rede von pastoralen Räumen und die Bestimmung eines Ortes als kirchlich wirft grundsätzlich die Frage nach dem Unterschied von Raum und Ort auf. Orte sind "konkret benennbar und einzigartig"6, sie sind erkennbare Punkte im Raum, wobei dies auch für den sozialen Raum gilt. Gelebte Räume dagegen konstituieren sich geradezu durch das Wechselspiel von Hier und Dort, es ist ein "produktives Wechselverhältnis"7.
Detlev Ipsen hat diese Unterschiede sehr anschaulich beschrieben: "Räume kann man vermessen, Orte kann man erleben. Räume kann man und muss man überwinden, an Orte kann man sich hineinbegeben, man kann auch außen vorgehalten werden, man kann sie auch vermeiden oder finden. Mit Orten verbindet sich unmittelbare Wahrnehmung, Emotion, Lust und Unlust. Räume kann man verstehen und nutzen. Beiden ist gemeinsam, dass sie das Ergebnis handelnder Menschen sind. Sie sind nicht vorgegeben, sondern werden geschaffen und ausgestattet. Räume werden über den Verkehr erschlossen … Orte werden gestaltet, wahrgenommen und genutzt."8 Orte stehen also für den konkreten und lebensweltlich angeeigneten Raum.
Vor allem Orte, aber auch Räume, können den fortwährenden Prozess von Bindung und Aufbruch im menschlichen Leben wesentlich mitprägen. Sie ergeben die Umgebung des Menschen, stellen ihm Orientierungen bereit, verursachen aber auch Irritationen. Mitunter werden sie ihm zum Problem. Mit alldem tragen sie in bedeutsamer Weise zur menschlichen Identitätsbildung bei: "Das Wer des Menschen ist mitgeprägt durch das Wo. Mensch und Dinge sind nicht nur in Geschichten verstrickt, sondern auch in räumliche Szenarien verwickelt und entwickeln so ihre Identität. Damit verbunden ist die Herausbildung einer räumlichen Identität."9
Was braucht es für einen Ort, damit er Ort der Kirche wird?
Im Anschluss an diese Überlegungen lässt sich folgern, dass ein kirchlicher Ort in besonderer Weise christliche Identitätsbildung ermöglicht. An diesem Ort wird der christliche Glaube erkennbar und die Gegenwart Gottes erfahrbar, das heißt konkret, christliche Nächstenliebe erweist sich nicht als Lippenbekenntnis, sondern eröffnet Lebensperspektiven auch unter schwierigsten Bedingungen. Kirchliche Orte sind mental wie physisch Orte der Barrierefreiheit. Sie trennen nicht mehr zwischen Mitte und Rand, und wo sie sich soziologisch gesehen am Rande von Gesellschaft und Leben finden, da erweisen sie sich paradoxerweise als mittendrin im Leben.
Caritas als Ort
Mit dem katholischen Theologen Johann Baptist Metz ließe sich die Caritas als "Ort der gefährlichen Erinnerung" beschreiben. In ihr soll der Glaube an den liebenden und gerechten Gott besonders sichtbar und konkret werden. Caritas-Präsident Peter Neher hat das Gemeinte im neue caritas-Jahrbuch 2014 auf die Formel gebracht, das soziale Engagement in der Kirche als Tatsprache des Glaubens unter den Bedingungen einer säkularen Gesellschaft anzusehen.10 In den genannten Publikationen des Deutschen Caritasverbandes findet sich als roter Faden immer wieder der Bezug auf die ausgeprägte große Orts- und Menschennähe der caritativen Dienste und Einrichtungen. Diese Vielfalt von Nähe gilt weithin als Stärke und zugleich als Glaubwürdigkeitserweis des verbandlichen Engagements. Ohne Zweifel hat diese Nähe das relativ gute Abschneiden der Caritas in den großen demoskopischen Umfragen zur Folge.
Fragt man nun nach den Anforderungen solcher Nähe, die dann auch Nah-Erfahrungen nach sich ziehen soll, wird die Antwort schon etwas schwieriger. Wie kommen sinnstiftende Brückenschläge zwischen Glaube und professionellem Handeln zustande?
"An die Ränder gehen"
Dienste und Einrichtungen der Caritas müssen sich tatsächlich öffnen für das Christsein an den Grenzen menschlicher Existenz. Sie sollen Begegnungsorte auf Augenhöhe sein und/oder werden, sie bieten Platz zur Entfaltung gemeindlicher Aktivitäten und tragen Sorge dafür, Menschen am Rande einzubeziehen. Aber: Sie müssen selbst auch Platz finden in den Gemeinden. Dann können sie helfen, Netzwerke zu spannen. Dann stehen sie nicht am Rande, sondern in der Mitte des Evangeliums. Patenschaftsmodelle im Bistum Trier und anderenorts zeigen zum Beispiel die Möglichkeiten und Chancen einer solchen Öffnung auf. Sie werden zu Plattformen eines besser gelingenden Miteinanders. Hier wird Anwaltschaftlichkeit konkret erfahr-, aber auch gestaltbar, unabhängig, ob es sich um Ausbildungs- und Bildungspat(inn)en oder um Willkommenspat(inn)en im Bereich der Flüchtlings-/Migrationshilfe handelt.
Ermutigendes von Papst Franziskus
Die Caritas weiß sich dabei in guter Gesellschaft. Papst Franziskus selbst ruft Christen und Kirche heraus aus einer "abgeschotteten Geisteshaltung, … aus Selbstbezogenheit" (Evangelii gaudium, 8) und Bequemlichkeit (vgl. ebd. 20). "Wir können nicht passiv abwartend in unseren Kirchenräumen sitzen bleiben." (15) Eine Kirche des Aufbruchs gehe an alle Orte, bei allen Gelegenheiten, ohne Zögern, ohne Widerstreben, ohne Angst, um das Evangelium zu verkünden (21, 23 f.). Das braucht "apostolische Ausdauer" (24), bewirkt aber eine "Kirche mit offenen Türen" (46). Caritas tut gleichfalls gut daran, "Prozesse in Gang zu setzen anstatt Räume zu besitzen" (223).
In diesem Sinne ist auch die Caritas Kirche an den Grenzen und Kreuzungen des Lebens, sie hilft mit, "Sehschule" zu sein, wie es bei der Synode im Bistum Trier heißt.
Wo es gelingt, die Falle der funktionalen und bequemen Aufgabendelegation aufzubrechen - Caritas ist mehr als der professionelle verbandliche Funktionsstrang der Kirche -, dort kann wirklich Neues entstehen. Seelsorge und Caritas stehen dann in einem veränderten Bezugsrahmen. Der Gottesdienst sollte zum realistischsten Ort aller Orte werden, wo die Wirklichkeiten des Lebens in ihrer ganzen Breite zur Sprache und zum Gebet vor Gott kommen, und wo betroffene Menschen ihren selbstverständlichen Platz haben. Anschauliche Beispiele lassen sich in allen Bistümern finden. Seien es gemeinsame Lernerfahrungen - zum Beispiel die Miteinbeziehung der Caritas in das Propädeutikum (Vorbereitung) der priesterlichen Ausbildung oder die Etablierung von Tandem-Ausbildungen in Bezug auf Sozialraumorientierung in Mainz und Trier - oder gemeinsame pastorale Aktivitäten (wie das Kirchenprojekt Momentum in Neunkirchen/Saar, das Stadteilzentrum St. Michael Trier-Mariahof, die Pfarrgemeinde Berlin-Gropiusstadt oder die Caritaskirche St. Nikolaus Duisburg-Buchholz). Dass innerverbandliche Begleitung solcher Prozesse im Sinne einer christlich-spirituellen Verbands- und Unternehmenskultur dabei notwendig ist, versteht sich eigentlich von selbst. Auch in dieser Hinsicht stimmen manche Entwicklungen bei caritativen Diensten und Einrichtungen zuversichtlich. Das Projekt Caritas 2020 enthält ja auch eine sehr präzise zeitliche Ansage.
Anmerkungen
1. Aus dem Ausschreibungstext des DCV zur Veranstaltung "Was Caritasorganisationen zur ,Kirche vor Ort‘ macht". 7. Forum "Theologie und Caritas" im Februar 2014 in Frankfurt/ Main (worauf auch dieser Artikel zurückgeht).
2. Ebd.
3. Vgl. Großbölting, Thomas: Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013, S. 257 ff.
4. Vgl. ebd., S. 261 (bezieht sich auf: Giddens, A.: Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age. Stanford, 1991).
5. Deutscher Caritasverband e.V.: Rolle und Beitrag der verbandlichen Caritas in den pastoralen Räumen. Impulspapier. In: neue caritas Heft 3/2009, S. 32-39; ders.: Ideen und Bausteine. Pastorale Räume diakonisch ausgestalten. In neue caritas spezial Heft 3/2011.
6. Schneider, Martin: Raum - Mensch - Gerechtigkeit. Sozialethische Reflexionen zur Kategorie des Raumes. Paderborn: Ferdinand Schöningh-Verlag, 2012, S. 99.
7. Ebd., S. 100.
8. Zitat Ipsen nach Schneider, a.a.O., S. 351 (vgl. Ipsen, Detlev: Ort und Landschaft. Wiesbaden: VS-Verlag, 2006, S. 64).
9. Schneider, a.a.O., S. 100.
10. Neher, Peter: Caritas 2020 - ein Zukunftsdialog. In: Caritas 2014 - Jahrbuch des Deutschen Caritasverbandes. Freiburg i. Br., 2013, S. 59 ff.
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