Ein automatisches Nachtlicht beugt Stürzen vor
Es ist 1.43 Uhr, die Nachtwache befindet sich in der Wohngemeinschaft 1 in der ersten Etage. Da geht eine Nachricht auf dem tragbaren Telefon ein: WG 3 Zimmer 2 Bett - für Außenstehende kaum verständlich, für die Mitarbeiterin völlig klar. In der dritten Wohngemeinschaft hat Frau H., die in Zimmer 2 lebt, das Bett verlassen. Ein Anlass für die Mitarbeiterin nachzuschauen, da Frau H. bereits am Tag etwas unsicher auf den Beinen war, wie sie von der Spätschicht erfahren hatte.
Im Jahr 2007 eröffneten die ersten beiden ambulanten Wohngemeinschaften (WGs) für Menschen mit Demenz in Duisburg. Zwei Jahre später folgte die dritte. Jede WG bietet Platz für sieben Bewohner(innen) mit demenzieller Beeinträchtigung. Die ersten beiden WGs liegen nebeneinander in der ersten Etage. Die dritte WG befindet sich im Erdgeschoss - räumlich etwas entfernt von den anderen. Anbieter des Wohnkonzeptes ist die Alpha gGmbH, ein ambulanter (geronto-)psychiatrischer Pflegedienst in Duisburg und hundertprozentige Tochtergesellschaft des Sozialwerks St. Georg e.V. Der Leitgedanke ist "Selbstbestimmtes Leben und Betreuung in assistierender Umgebung". Zur Konzeption gehört neben dem Einsatz von technischen Assistenzsystemen auch ein besonderes inhaltliches, personelles und gestalterisches Konzept. So befinden sich die WGs außerhalb des Wohn- und Teilhabegesetzes, ehemals Heimgesetz. Dies erlaubt daher beispielsweise den Einsatz von sogenannten Alltagsbegleiter(inne)n. Unterstützt und geschult werden diese durch Fachkräfte des ambulanten Pflegedienstes, der im gleichen Gebäude angesiedelt ist und zusätzlich die Leistungen nach SGB V und XI bei den WG-Bewohner(inne)n erbringt. Die Aufgaben der Alltagsbegleiter(innen) umfassen unter anderem Assistenz der Bewohner(innen) im Alltag sowie hauswirtschaftliche, betreuende und grundpflegerische Tätigkeiten. Im Vordergrund des Konzeptes stehen das selbstbestimmte Leben und die Unterstützung der Bewohner(innen) in allen lebenspraktischen Angelegenheiten.
Zum Bereich Ambient Assisted Living (AAL) gehören in den WGs technische Systeme, die Menschen mit Assistenzbedarf im Alltag unterstützen. Übersetzt bedeutet AAL "Selbstständigkeit durch ein Leben in einer assistierenden Umgebung"1 und umfasst sowohl Produkte, Dienstleistungen, Technologien als auch die Gestaltung neuer Lebensstrukturen und Konzepte. Ziel ist, die Lebensqualität der Nutzer(innen) zu steigern und zu sichern. Damit einher geht, die persönliche Freiheit aufrechtzuerhalten und die Unabhängigkeit zu fördern.2 Dies wird erreicht durch den "Erhalt und die Förderung der Selbstständigkeit von Personen bis ins hohe Alter und die Qualitätsverbesserung von Hilfs- und Unterstützungsdienstleistungen sowie Angeboten im häuslichen Bereich"3.
Der Herd funktioniert erst, wenn die Eieruhr läuft
Die technischen Assistenzsysteme basieren auf einem Datenaustausch-System oder auf Funkbasis. Alle AAL-Komponenten können je nach den Bedürfnissen der Bewohner(innen) individuell durch die Mitarbeitenden vor Ort ab- und zugeschaltet werden. Wichtig ist, dass die Mitarbeitenden selbst diese Einstellungen vornehmen können, da nur sie den aktuellen Zustand und die Bedarfe der Bewohner(innen) kennen. Hauptnutzen ist, zusätzliche Informationen für den Betreuungsprozess zu gewinnen, mit dem Ziel, ihn qualitativ zu verbessern und gleichzeitig Sicherheit für Bewohner(innen), Angehörige und Mitarbeitende zu schaffen.
In den WGs werden verschiedene technische Assistenzsysteme eingesetzt: Beispielsweise können Herd und Backofen nur genutzt werden, wenn vorher eine mit der Stromversorgung des Herdes verbundene Eieruhr aufgezogen wird. So werden einerseits Brände vermieden, andererseits müssen die an Demenz erkrankten Bewohner(innen) nicht ständig durch die Mitarbeitenden reglementiert werden, wenn diese den Herd bedienen möchten. Die Bewegungsmelder am Bett und im Bad senden, sobald sie ausgelöst werden, ein Signal an das tragbare Telefon des Mitarbeiters. Dieser weiß dann, ob ein(e) Bewohner(in) nachts aufgestanden ist. Das System ist zusätzlich mit einem Boden-Nachtlicht gekoppelt. Steht ein(e) Bewohner(in) nachts auf, schaltet es sich automatisch ein, um möglichen Stürzen vorzubeugen. Die Außentüren der WGs sind immer offen und jede(r) Bewohner(in) kann die WG verlassen. Die Tür kann aktiviert werden, das heißt, verlässt ein(e) Bewohner(in) die WG, so erhält der Mitarbeitende eine Nachricht auf sein tragbares Telefon. Ein farbliches Signal an der Decke/Wand zeigt den Besuchern und Mitarbeitenden an, ob die Signalisierung aktiv ist. Weder Bewohner(innen) noch Mitarbeitende tragen einen Chip am Körper, eine personenbezogene Zuordnung ist daher nicht möglich und durch die Einrichtung auch nicht gewollt. Der Außenbereich ist mit Sensoren ausgestattet, die nicht nur automatisch das Licht anschalten, sondern auch per Telefonnachricht die Mitarbeitenden informieren, falls sich jemand im Hof befindet. Dies dient primär der Sicherheit von Mitarbeitenden und Bewohner(inne)n.
Die Erfahrungen mit technischen Assistenzsystemen zeigen, dass sich dies auch auf die internen Betreuungsprozesse auswirkt. Daher muss man sich mit der eigenen Aufbau- und Ablauforganisation auseinandersetzen sowie die Mitarbeitenden entsprechend schulen. Für den langfristigen Erfolg von solchen Systemen sollten Mitarbeitende von Anfang an am Entwicklungs- und Implementierungsprozess beteiligt werden. Erwartet werden keine IT-Expert(inn)en, sondern aufgeschlossene Mitarbeitende, die die Auswirkungen der Technik auf die internen Prozesse erkennen müssen, um sie für sich und die Einrichtungen positiv zu nutzen. Die Mitarbeitenden dürfen auch nicht mit Informationen überflutet werden. Daher ist die Auswahl der geeigneten Systeme wichtig. Wenn ein Mitarbeitender zu viele Informationen zum Beispiel auf sein Telefon erhält, so die Erfahrung, fühlt er sich durch die Technik belastet und lehnt sie ab.
Die Technik wird kaum wahrgenommen
Die Technik selbst wird durch die Bewohner(innen) kaum wahrgenommen, obwohl darüber, soweit möglich, offen kommuniziert wird. Hintergrund ist, dass die technischen Systeme in die Umgebung integriert sind, und die Mitarbeitenden nicht mit einem Laptop oder Tablet-PC durch die WG laufen. "[Der] Einsatz muss unter der ethischen Prämisse, dass der Technikansatz die Selbstbestimmung des Nutzers im Fokus haben muss und nicht Selbstzweck ist, erfolgen. Ziel von Ambient Assisted Living ist eine ‚Ermöglichung‘, nicht eine schleichende Entmündigung durch Technikeinsatz".4 Alle Systeme sind über handelsübliche Schalter bedienbar. Kein(e) Bewohner(in) muss ein technisches System am Körper tragen. Um die Akzeptanz zu steigern, gilt es auch die Angehörigen über Funktion und Hintergründe der technischen Assistenzsysteme zu informieren.
Technisch ist grundsätzlich viel möglich, aber nicht jede Technik ist bei der Betreuung von Menschen beispielsweise mit einer demenziellen Erkrankung auch sinnvoll. Als kontraindiziertes Anwendungbeispiel für Menschen mit Demenz kann der aktive Notrufknopf genannt werden, da dieser von den Betroffenen im Notfall selbstständig ausgelöst werden muss.
In einer an die WGs angrenzenden Musterwohnung ist es möglich, neue Techniken zu erproben und zu diskutieren, bevor diese in den Echtbetrieb gehen.
Auch für den eigenen Haushalt geeignet
Ähnliche Systeme wie das vorgestellte können auch im eigenen Haushalt eingesetzt werden. Alle Informationen laufen dann beim Pflegedienst oder den Angehörigen zusammen. In eine inhaltliche und personelle Konzeption eingegliederte Assistenzsysteme können dazu beitragen, zeitgemäße und nachhaltige Unterbringungs- und Betreuungskonzepte sowie mehr Selbstständigkeit von Menschen mit Assistenzbedarf und ein Altern in der eigenen Häuslichkeit zu ermöglichen. Bei der Diskussion muss primär der Nutzen für die Menschen im Fokus stehen. Des Weiteren sollte die Betrachtung aus betriebs- sowie volkswirtschaftlicher Sicht erfolgen und zwar mit der Fragestellung: Welchen Nutzen haben technische Assistenzsysteme für Menschen, Einrichtungen aber auch für die Gesellschaft?
Anmerkungen
1. Sozialwerk St. Georg: Ambient Assisted Living (www.sozialwerk-st-georg.de/ueber-uns/unternehmensbereiche/ ambient-assisted-living/).
2. Driller, Elke; Karbach, Ute; Pfaff, Holger: Technische Assistenz in der Behinderten- und Altenhilfe. In: Driller, Elke; Karbach, Ute; Stemmer, Petra; Gaden, Udo; Pfaff, Holger; Schulz-Nieswandt, Frank: Ambient Assisted Living. Technische Assistenz für Menschen mit Behinderung. Freiburg : Lambertus, 2009, S. 29-42.
3. Georgieff, Peter: Ambient Assisted Living - Marktpotenziale IT-unterstützter Pflege für ein selbstbestimmtes Altern. MFG Stiftung Baden-Württemberg, 2008 (www.fazit-forschung.de/ fileadmin/_fazit-forschung/downloads/FAZIT-Schriftenreihe_Band_17.pdf).
4. Meyer, Wolfgang: Betreuung und Technik - Ambient Assisted Living für assistenzbedürftige Menschen. In: Horneber, Markus; Schoenauer, Hermann (Hrsg.): Lebensräume - Lebensträume. Kohlhammer Verlag : Stuttgart, 2011, S. 90-105.