Pflegemigration mit anderen Augen sehen und verstehen
"Schwarzanstellung von osteuropäischen Haushaltshilfen in Deutschland ist ein Verbrechen und sollte als solches geahndet werden." "Osteuropäerinnen in deutschen Haushalten verdienen ein Dreifaches dessen, was sie in ihrem Heimatland verdienen würden. Sie können sich glücklich schätzen, hier zu arbeiten." - So lauten in etwa Aussagen zum Thema Pflegemigration, und sie zeigen die offensichtlichen Interessengegensätze in der ganzen Diskussion. Immer mehr Frauen migrieren von Ost nach West, um dort in privaten Pflegehaushalten alte Menschen zu betreuen. Anders als oftmals in den Medien suggeriert, handelt es sich keinesfalls um ein deutsch-polnisches Phänomen. Vielmehr zeigt es sich in ganz Europa. Frauen aus Ländern Ost-, Mittel- und Südosteuropas wie Polen, Tschechien, Slowakei, Rumänien, Bulgarien, Ukraine kommen in die Empfängerländer Deutschland, Österreich, Italien, Schweiz und Spanien. Aber auch in anderen Ländern, wie zum Beispiel der Türkei und Russland, wird Pflegemigration beobachtet.
Ein europäisches Symposium, Ende Juni 2011 von Caritas international in Zusammenarbeit mit der Katholischen Hochschule in Freiburg ausgerichtet, sollte Interdependenzen des globalen "Pflegemarktes" offenlegen. Die Vernetzung zwischen Inlands- und Auslandsarbeit der Caritas ist dabei zentral. Hängt doch die Anwerbung von Migrantinnen für die häusliche Betreuung in Westeuropa kausal zusammen mit Phänomenen wie Pflege- und Versorgungsmangel und Sozialwaisen in Osteuropa. Mehr als 70 Teilnehmende aus 18 europäischen Staaten mit unterschiedlichen fachlichen Hintergründen fanden sich ein zu Wissenstransfer und Perspektivwechsel: Experten für Kinder- und Jugendarbeit und der Hauskrankenpflege aus osteuropäischen Ländern, Experten der Altenpflege aus Westeuropa (Schweiz, Österreich, Deutschland) kamen zusammen. Viele, aber nicht alle Teilnehmenden besaßen einen "Caritashintergrund". Es war etwa auch eine Reihe von Wissenschaftlern anwesend.
Pflegemigration hat einige besondere Kennzeichen. In der Regel sind es Frauen, die für einen gewissen Zeitraum Richtung Westen gehen, um dort im informellen und ungeschützten Kontext eines privaten Haushaltes Pflege- und Versorgungstätigkeiten zu übernehmen. Es findet also keine dauerhafte Verlagerung des Wohnortes statt, weshalb man von Pendelmigration spricht. Einen Teil der Mitsorgearbeit im Heimatland (vor allem bei kürzeren, regelmäßigen Intervallen) übernehmen die Migrantinnen weiterhin. Der andere Teil wird von fast ausschließlich weiblichen Familienangehörigen übernommen oder aber er wird wiederum ausgelagert an Migrantinnen oder Frauen unterer sozialer Schichten.
Welche Auswirkungen hat Pflegemigration?
Welche Auswirkungen hat diese Form der Migration auf gesellschaftliche und soziale Systeme? Eines wurde während des Symposiums ganz deutlich: Pflegemigration verändert nicht nur das Herkunftsland, sondern auch das Aufnahmeland. Noch eine wichtige Erkenntnis: Auf beiden Seiten sind die Konsequenzen sowohl negativ als auch positiv.
Droht in den Ländern Westeuropas unter Umständen die Erosion der Arbeitsverhältnisse, so sind auch negative Wirkungen auf die osteuropäischen Länder sichtbar. Dort geraten kleine wie auch jugendliche Kinder von Arbeitsmigrant(inn)en als finanziell sichergestellte, aber nicht ausreichend betreute Zielgruppe in die Aufmerksamkeit von Sozialarbeitern der Caritas. Zoryana Lukavetska, Projektkoordinatorin der Caritas Ukraine, spricht von etwa 7,9 bis neun Millionen Kindern in der Ukraine, deren Elternteile regelmäßig oder ständig im Ausland arbeiten. Depressive Gemütszustände, schlechte schulische Leistungen bis hin zu erhöhter Selbstmordgefahr, Alkohol- und Drogenmissbrauch sind häufig Kennzeichen dieser Gruppe von Kindern und Jugendlichen.
Auch alte Menschen vor allem in den ländlichen Regionen (Süd-)Osteuropas leiden darunter, dass ihre Kinder und Enkel im Ausland arbeiten. Dies wurde vor allem deutlich in den von Caritas international unterstützten Projekten der Caritas-Hauskrankenpflege. Eine Reihe von Mitarbeitern osteuropäischer Caritasverbände berichteten von diesen Erfahrungen, so zum Beispiel die Kollegen des Diözesan-Caritasverbandes Alba Iulia in Rumänien. Die Pflege- und Versorgungssysteme können diese Probleme nicht auffangen. Standen laut WHO-Studie 2009 in Deutschland über 780 Pflegekräfte für je 100.000 Einwohner zur Verfügung, so waren es in Rumänien lediglich etwa 390, berichtete Ingeburg Barden, die Beraterin von Caritas international im Bereich Hauskrankenpflege.
Offensichtlich besteht ein Zusammenhang zwischen migrierenden Frauen und Versorgungsproblemen in Osteuropa. Doch betonte Nausikaa Schirilla, Professorin für Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule in Freiburg, die Wichtigkeit, Migration aus einer menschenrechtlichen Perspektive zu sehen. Menschenwürde bedeutet in diesem Zusammenhang auch, migrierende Frauen als vernünftige und verantwortungsvolle Subjekte zu sehen, die durchaus bemüht und in der Lage sind, die Versorgung der Angehörigen auch in ihrer Abwesenheit zu organisieren. Ständige Skandalisierung der Sozialwaisen und der "verlassenen Alten" impliziere, dass die im Ausland weilenden Frauen unfähig seien, einen Ersatz ihrer ausfallenden Betreuung zu besorgen.
Eine Reihe von Forschungsprojekten zeigt dagegen durchaus erfolgreiche Anpassungen der Familien an die Migration der Mütter. Viorela Ducu von der Babes-Bolyai-Universität in Cluj-Napoca referierte über ihre Forschungserkenntnisse zum Thema transnationale Mutterschaft: "Es gibt natürlich weiterhin eine ständige moralische, praktische, emotionale und persönliche Unterstützung der Kinder durch die Mütter." Wichtige Mittel zur transnationalen Kommunikation sind Kontaktpflege per Skype und regelmäßige gegenseitige Besuche.
Welche Zukunftsmodelle könnten tragen?
Pflegemigrantinnen entwickeln neue "transnationale Loyalitäten", so Nausikaa Schirilla. Sie fühlen sich nicht mehr an Nationalstaaten gebunden, sondern empfinden Loyalität sowohl gegenüber der Region des Herkunftslandes als auch der Region, in der sie temporär arbeiten. Einen ersten Schritt für eine solche transnationale Loyalität, aber mehr noch einer transnationalen Solidarität wollte auch das Symposium schaffen. Welche Zukunftsmodelle wären denkbar, um diese auch lebendig werden zu lassen? In jedem Fall gestalten sie sich länderübergreifend. Konkrete Projektideen zwischen Caritasverbänden aus Ost- und Westeuropa wurden auf dem Symposium vorgestellt und zum Teil weiter konkretisiert.
Beispielsweise plant der Caritasverband Alba Iulia mit dem Caritasverband Freiburg - unterstützt von Caritas international - ein Modellprojekt zur sozial begleiteten Pflegemigration. Pflegemigrantinnen sollen für eine begrenzte Zeit in den deutschen Arbeitsmarkt integriert, langfristig aber an die Caritasstruktur von Alba Iulia gebunden werden. Teile des Projektes sollen eine binationale Qualifizierung sowie Beratung/Vorbereitung der Migrantinnen sein. Die Caritas Schweiz berichtete von ähnlichen Überlegungen zu einer Kooperation mit dem Caritasverband der Diözese Iash in Rumänien.
Auch politische Lösungen sind denkbar. Die Kollegen der Caritas Wien teilten ihr Hintergrundwissen über den Prozess und die Ausgestaltung der gesetzlichen Regelung in Österreich. Dort wurden nach einer öffentlichen Debatte im Sommer 2006 Beschäftigungsverhältnisse der sogenannten "Personenbetreuer" legalisiert. Laut Bundespflegegeldgesetz sei bei Erfüllung gewisser Bedingungen auch eine öffentliche Förderung der Betreuungskräfte in Höhe von 550 Euro pro Monat möglich. Seit 2007 bietet der Verein "Caritas Rundum Zuhause betreut" (RZB) in Österreich eine legale 24-Stunden-Betreuung an.
Das Symposium gestaltete sich als große Wissensplattform. Kontakte wurden geknüpft, informelle Arbeitsgruppen zu Themen wie Qualifizierung gegründet. Auch die Vernetzung von anwesenden Forscher(inne)n und Caritas-Praktikern kann man als gelungen bezeichnen (s. auch den Kommentar in neue caritas Heft 14/2008 auf S. 3).
Neben dem konkreten "Outcome" des Symposiums sind es die vielen kleinen Schritte, die für die zukünftige Auseinandersetzung mit dem Thema wichtig sind. Die Einseitigkeit in Argumentation und Darstellung konnte überwunden werden mit der schlichten und doch effizienten Methode des Perspektivwechsels. Denn wie eine Teilnehmerin treffend bemerkte: "Man spricht einfach anders über dieses Thema, wenn Caritas-Mitarbeiter aus den Entsendeländern mit am Tisch sitzen." Ganz offensichtlich macht es einen Unterschied, auch einmal mit anderen Augen auf das Thema zu schauen.
Auch wer nicht am Symposium teilnehmen konnte, hat die Möglichkeit zu einem umfassenden Einblick in das Thema. Voraussichtlich noch diesen Monat wird eine Publikation im Lambertus-Verlag (Reihe: Caritas international Brennpunkte) dazu erscheinen. Dort werden Analysen und Erfahrungen aus dem Umfeld der Caritas zusammengebracht mit wissenschaftlichen Beiträgen - als Hintergrund zur Meinungsbildung und Engagement der Caritas in diesem Themenfeld.