Vor dem Lernen steht das Ankommen
Das Phänomen der Schulverweigerung ist so alt wie Schule selbst. Trotzdem befand sich das Thema bis zum Ende der 1990er Jahre in einer pädagogischen Grauzone, empirische Untersuchungen waren Mangelware und ein Problembewusstsein kaum vorhanden. In den sozialpädagogischen Seminaren, die IN VIA Aachen zu der Zeit an diversen Schulen anbot, wurde damals immer deutlicher, dass das System „Schule“ bei weitem nicht mehr alle Schüler erreicht. Seit 1998 widmet sich daher das IN-VIA-Projekt Motivia genau diesen Schüler(inne)n, die über lange Phasen nicht mehr im Lern- und Lebensraum Schule angekommen sind. In der Regel sind dies schulpflichtige Mädchen und Jungen im Alter von 13 bis 16 Jahren aus unterschiedlichen Schulformen, die teilweise bis zu drei Jahren sehr unregelmäßig oder gar nicht mehr am Schulalltag teilgenommen haben. Im Jahr 2005 wurde das Konzept auf ein Schwesterprojekt im Kommunalverband „StädteRegion Aachen“ übertragen.
„Verweigerung“ trifft nicht den Kern des Problems
Die Arbeitsweise im Projekt hängt eng mit unserem Bild der Jugendlichen zusammen, die wir begleiten. Zwar ist der Begriff „Schulverweigerer“ mittlerweile in der Diskussion um schulabsente Jugendliche der gebräuchlichste, zutreffend ist er in den meisten Fällen jedoch nicht. Vielmehr ist es die Regel, dass es sich um junge Menschen handelt, die Normalität und Schule gerne gegen das eintauschen würden, was ihr Leben bestimmt: nämlich Sorgen, Probleme und Defizite, die sich im Laufe der Jahre zu einem unüberwindbar scheinenden Berg aufgetürmt haben. Wir haben es also überwiegend mit Jugendlichen zu tun, die Schule nicht verweigern, sondern aufgrund verschiedenster Problembelastungen nicht in der Lage sind, an Schule in der Form teilzunehmen, wie es Gleichaltrige tun.
Wer einmal für eine längere Zeit aus dem Sozial- und Lernumfeld der Regelschule draußen ist, schafft es nach unseren Erfahrungen nur selten, dort wieder Fuß zu fassen. Vorhandene Lernlücken machen einen Wiedereinstieg zu einer Serie von Versagenserfahrungen, persönliche Probleme lassen die Motivation immer wieder sinken und die Stigmatisierung als Schulschwänzer verhindert das „normale Schülersein“.
Es gilt also, die zugrundeliegenden Probleme zu erkennen, sie gemeinsam mit den Jugendlichen anzugehen und zugleich für eine gewisse schulische Normalität, Lernerfolge und ein Vorankommen zu sorgen. Dies erreicht das Projekt Motivia durch das Zusammenspiel von Jugendhilfe und Schule: IN VIA Aachen als freier Träger der Jugendhilfe kooperiert dabei mit der Bischöflichen Marienschule Aachen (Förderschule mit dem Förderschwerpunkt soziales und emotionales Lernen), der Ganztagshauptschule Goetheschule Baesweiler und den Jugendämtern der Stadt Aachen und der Städteregion.
Das Kernteam für die tägliche Arbeit von Motivia besteht aus zwei sozialpädagogischen Kräften und zwei Lehrkräften mit anderthalb Lehrerstellen im Projekt.
Erst mal wieder andocken
Fragt man die derzeit zwölf Jugendlichen im Projekt, was Motivia denn nun ist, wird jeder von ihnen mit „Schule“ antworten. Und das ist auch gut so, da es ein wichtiger Teil der Normalität für jede(n) Einzelne(n) ist, nach langer Zeit wieder ein echter Schüler zu sein und kein Schulverweigerer. Den zentralen Part im Gefüge des Projektes nimmt aber die sozialpädagogische Arbeit ein, denn zuerst muss ein(e) Schüler(in) „andocken“: ein bewusst gewählter Begriff, denn nach langer Zeit auf „rauer See“ ist es für die Jugendlichen nicht einfach, wieder einen sicheren Hafen anzusteuern, den Anker zu werfen und Vertrauen zu fassen. Dies geht nur über den persönlichen Kontakt, über Wertschätzung und positive Erfahrung. Erst wenn diese Grundlage gelegt ist, kann es darum gehen, auf schulischer Ebene Lernlücken zu schließen und in der weiteren sozialpädagogischen Arbeit die Probleme im Hintergrund anzugehen.
Persönliche Lernpläne
Jede(r) Schüler(in) hat dabei einen individuellen Stundenplan, in dem er/sie im Lernstoff dort anknüpft, wo er/sie aufgehört hat zu lernen. So kommt es vor, dass ein 16-Jähriger in Deutsch Themen der 8. Klasse bearbeitet, in Mathematik aber schon deutlich früher „ausgestiegen“ ist und nun im Lernstoff der Klasse 5 ansetzt.
Der Unterricht findet in Kleingruppen statt, mehrere Angebote laufen dabei parallel. Besonders lebenspraktische Inhalte wie Hauswirtschaft, Werken, EDV-Unterricht, Berufsorientierung und Projektunterricht fließen dabei immer mit in den Stundenplan ein. Dies hat zum einen den Grund, dass diese Fächer aus der Schulgeschichte der Jugendlichen nicht negativ besetzt sind. Zum anderen fehlen ihnen häufig auch in sozialen und lebenspraktischen Bereichen grundlegende Kompetenzen, die sie sich kleinschrittig erarbeiten müssen.
Vielschichtige Begleitung
Die über die gesamte Zeit laufende sozialpädagogische Begleitung umfasst neben der Beziehungsarbeit verschiedenste Aspekte wie Elternarbeit, Beratung, Lebensplanung, Sozialtraining, Kriseninterventionen, freizeitpädagogische Angebote und vieles mehr. An den Stärken der Jugendlichen ansetzend, versuchen wir, mit ihnen eine realistische Perspektive zu erarbeiten. Das „Tun“ steht im Vordergrund: Lösungen suchen, neue Wege beschreiten, an sich glauben. Unterstützung kann dabei von vielen Seiten kommen, von großer Bedeutung ist hier das über die Jahre entstandene Netzwerk des Projektes, zu dem unter anderem Beratungsstellen, Behörden, Ärztinnen/Ärzte und Therapeut(inn)en gehören.
Mira zum Beispiel
Vieles von dem bisher Geschilderten lässt sich am Beispiel der mittlerweile 17-jährigen Mira verdeutlichen. An ihrer Geschichte ist zu sehen, wie komplex die Hintergründe für den Ausstieg aus Schule sein können, und auch wie anders, als man vielleicht landläufig denkt.
Mira kam mit 13 Jahren ins Projekt. Von der abgebenden Realschule wurde sie als ein ruhiges Mädchen beschrieben, das kognitiv durchaus in der Lage sei, die schulischen Leistungen zu erbringen. Ihre Mutter war vor einigen Jahren verstorben, nun lebte sie allein beim Vater. Mira fand kaum noch den Weg in die Schule und gab immer wieder Krankheiten als Grund für ihr Fehlen an, meist durch Atteste oder Entschuldigungen belegt. Die schulisch angebotenen Hilfen brachten keine Verbesserung der Situation. Ihr Vater signalisierte zwar Bereitschaft zur Mitarbeit, zeigte sich aber in Absprachen unzuverlässig.
Als Mira ins Projekt Motivia wechselte, setzten sich die bekannten Muster zunächst fort. Es dauerte über ein halbes Jahr mit intensiver Beziehungsarbeit, ehe die Hintergründe für ihre Schulabsenz deutlich wurden.
Nach dem Tod ihrer Mutter, der wohl im Zusammenhang mit Drogenkonsum stand, hatte ihr Vater massiv zu trinken begonnen. Die Alkoholprobleme wurden innerfamiliär immer erdrückender. Arbeitslosigkeit, Schulden und Zukunftssorgen nahmen so viel Raum ein, dass die Schule in den Hintergrund rückte. Mira übernahm die Rolle einer Co-Abhängigen und versuchte all das zu regeln, was ihr Vater nicht mehr schaffte. Aus Sorge, ihren Vater durch den exzessiven Alkoholkonsum auch noch zu verlieren, blieb sie zu Hause. Nach Außen wurde die Fassade des intakten Familienlebens aufrechterhalten.
Nachdem die Motivia-Mitarbeiter(innen) Einblicke hinter diese Fassade erhalten hatten, begannen sie, Mira auf ihrem langen Weg hinaus aus dieser Situation zu begleiten. In den folgenden anderthalb Jahren machte sie Schritt für Schritt. Ihr Selbstbewusstsein wuchs wieder, sie nahm Unterstützungen an, besuchte eine Selbsthilfegruppe für Kinder alkoholkranker Eltern und begann eine Therapie.
Parallel lief die Arbeit mit ihrem Vater, der durch Suchthilfe und Schuldnerberatung Hilfe erhielt. Schulische Erfolge stellten sich dann schnell ein, über Praktika und Lernleistung wurden die Grundlagen für Miras Berufswunsch gelegt: Erzieherin. Letztendlich gelang es ihr, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen und in eine Pflegefamilie zu gehen, um ihr eigenes Leben zu leben. Mittlerweile hat Mira ihren Schulabschluss erreicht und lebt in einer eigenen Wohnung.
Psychotherapeutische Hilfen sind zunehmend nötig
Zu jedem Schüler, der das Projekt Motivia besucht, gehört eine solche Hintergrundgeschichte – und jede ist anders, jede ist wichtig. Im Laufe der nunmehr zwölf Jahre seines Bestehens hat das Projekt Motivia etwa 150 Jugendliche begleitet – die meisten von ihnen erfolgreich. Wichtig ist hierbei, die Jugendlichen nicht ins System des Projektes zu pressen. Vielmehr ist dieses ständig auf die Bedürfnisse der jeweiligen Gruppe abzustimmen, zugleich ist aber auch ein klarer Rahmen zur Orientierung vorzugeben.
Es hat jedoch in den letzten Jahren auch Entwicklungen gegeben, denen Motivia noch nicht gerecht werden konnte: Immer häufiger war und ist festzustellen, dass die der Schulabsenz zugrundeliegenden Probleme nicht allein durch die Fördermöglichkeiten im Projekt aufgefangen werden können. Immer mehr Jugendliche zeigen psychische Störungs- oder Krankheitsbilder, die ihre Wurzeln in den ersten Lebensjahren haben und derart manifestiert sind, dass ohne intensive therapeutische oder psychologische Hilfen an schulisches Lernen überhaupt nicht zu denken ist. Ließen sich solche Hilfen direkt vor Ort konzeptionell einbinden, ohne extern über Kliniken beziehungsweise Kinder- und Jugendtherapeut(inn)en in ein neues Setting zu gehen, wäre in vielen Fällen deutlich mehr möglich. Aber wie so oft scheitert dies an den finanziellen Gegebenheiten.
Solche Entwicklungen trotz der widrigen Umstände dennoch umzusetzen, bleibt jedoch der stumme Auftrag, den die Jugendlichen an uns richten. Denn wenn wir von ihnen verlangen, neue Wege zu gehen und nach vorne zu schauen, dann müssen wir das erst recht tun.