Schlusslicht - und trotzdem Sieger
Es war eine kalte Nacht. Erst allmählich steigt die Sonne über die Hügelkette und erwärmt den Lagerplatz. Auf der immer noch morgenfeuchten Wiese stehen 40 Kinder und Jugendliche mit ihren Fahrrädern in erwartungsvoller Spannung. Jeweils vier Teilnehmer(innen) des sportlichen Wettkampfes scharen sich um ihre Pädagog(inn)en, um gemeinsam das Radrennen zu bestreiten. Keine 60 Sekunden nach dem Startschuss ist der Platz menschenleer.
Insgesamt 120 Mädchen und Jungen aus Jugendhilfeeinrichtungen aus dem ganzen Bundesgebiet kämpfen sich vier Tage durch Hessens Hinterland, um am Ende nach vielen Strapazen den Kurt-Hahn-Pokal in Händen halten zu können. Nacheinander müssen die Teams innerhalb von vier Tagen eine bis zu 120 Kilometer lange Radtour bewältigen, eine 40 Kilometer lange Paddeltour auf der Lahn hinter sich bringen, weit über 20 Kilometer durch die Wälder wandern und dabei an verschiedenen Kontrollpunkten noch zusätzliche Aufgaben bewältigen. Den krönenden Abschluss bildet eine klassische Triathlonveranstaltung, die im örtlichen Schwimmbad mit einem Massenstart beginnt und nach einer Lauf- und einer Radstrecke am Zeltplatz endet.
Der Kurt-Hahn-Pokal wurde im Jahr 2009 erstmals anlässlich des hundertjährigen Bestehens des Bundesverbandes katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfe (BVkE) in Limburg veranstaltet. Alle Organisatoren der Veranstaltung verfügten bereits über langjährige praktische Erfahrungen in der erlebnispädagogischen Arbeit mit Jugendlichen: Seit 15 Jahren haben sie in kleinerem Rahmen mit großem pädagogischen Erfolg ähnliche Wettkampfveranstaltungen organisiert.1
Beim Radrennen hat sich das Teilnehmerfeld mit den einzelnen Teams inzwischen auseinandergezogen. Die schnellsten und erfahreneren Radteams haben schon fast die 60-Kilometer-Marke erreicht, an der sie entscheiden können, ob sie eine kurze Strecke von 80 Kilometern oder aber die lange Distanz von 120 Kilometern schaffen wollen. Unerfahrene Teams fallen zurück. Sie versuchen, den Abstand nicht zu groß werden zu lassen. Nach zwei Pannen bildet das Düsseldorfer Team bei Kilometer 25 das Schlusslicht. Die Sonne brennt unbarmherzig vom blauen Himmel. Bei Temperaturen von knapp 30 Grad kämpft ausgerechnet der Pädagoge, der das Team begleitet, mit einem Wadenkrampf.
Kurt Hahn begründet die Erlebnispädagogik
Kurt Hahn (1886–1974) wird üblicherweise als Urvater der Erlebnispädagogik bezeichnet. Er war von 1914 bis 1919 im Auswärtigen Amt in Berlin tätig und ein enger Vertrauter und wichtiger Berater des damaligen Reichskanzlers Prinz Max von Baden. Als Außenpolitiker vertrat er die Ansicht, dass das preußische Staatswesen an verschiedenen „Verfallserscheinungen“ leide. Seiner Meinung nach überschätzten die Menschen in Deutschland, was ihnen die Gemeinschaft schulde und unterschätzten, was sie der Gemeinschaft schuldeten. Besonders die fehlende Vorbildwirkung des Bürgertums und der politischen Führung missfiel ihm. Ein Urteil über die Aktualität dieser Kritik überlassen wir den Leser(inne)n!
Kurt Hahn beließ es nicht bei Worten. 1920 gründete er das Internat Schloss Salem und versuchte als Lehrer seine Idee, Bildung und Erziehung miteinander zu vereinen, zu verwirklichen.2
Das Radrennen entwickelt sich allmählich zur Tortur. Das führende Team ist inzwischen bei Kilometer 80, hat damit die Ebene verlassen und kämpft sich durch die hügelige Landschaft Hessens. Die vier Jungs und ihre Pädagogin wollen das Rennen unbedingt gewinnen. Aber der Jüngste im Team ist am Ende seiner Kräfte und auch die Pädagogin kann das Tempo nicht mehr mithalten. Jetzt übernimmt der älteste Jugendliche die Initiative und nimmt beide nah zu sich in den Windschatten. Alle anderen Teammitglieder gruppiert er um die zwei tapferen Radler herum, damit sie es im Schatten leichter haben. So kämpft sich das kleine Peloton durch die Mittagshitze, immer noch fest entschlossen, Sieger zu werden.
Das Düsseldorfer Team am Ende des Feldes hat zu diesem Zeitpunkt die 40-Kilometer-Marke passiert, und der begleitende Pädagoge sieht den noch vor ihm liegenden 40 Kilometern mit Schrecken entgegen.
1933 emigrierte Kurt Hahn nach einer vorübergehenden Verhaftung durch die Nationalsozialisten nach England. Überzeugt von seiner Idee, mit deren Umsetzung er in Schloss Salem begonnen hatte, ließ er sich in Schottland nieder. Dort gründete er 1934 die „British Salem School“ in Gordonstoun, ein englisches Pendant zu Schloss Salem.
Mehr Anteilnahme, Initiative und Sorgsamkeit
Kurt Hahn war ein Macher. Er hinterließ wenig Schriftliches, stattdessen probierte er vieles aus. Mit seinem erlebnispädagogischen Konzept wollte er den folgenden „Verfallserscheinungen“ entgegenwirken, die er als das eigentliche Problem der damaligen Zeit diagnostizierte:
- Mangel an menschlicher Anteilnahme,
- Verfall körperlicher Tauglichkeit,
- Mangel an Initiative und Spontaneität,
- Mangel an Sorgsamkeit.
Auch wenn Kurt Hahns Begrifflichkeiten in unseren Ohren seltsam altertümlich klingen, so lenken sie den Blick prägnant auf wesentliche kognitive, emotionale und körperliche Kompetenzen, deren Entwicklung und Förderung heute zentraler Bestandteil der Hilfen zur Erziehung sind.
Kurt Hahn entwickelte ein mehrwöchiges Kursprogramm mit vier Elementen:
- das körperliche Training durch Natursportarten wie Kanufahren, Bergwandern oder Segeln;
- den Dienst am Nächsten;
- ein Projekt, das die Kinder und Jugendlichen selbstständig durchführen sollen;
- eine Expedition, bei der die Jugendlichen sich über mehrere Tage selbstverantwortlich in der Natur bewegen sollen.3
Bis zu seinem Tod im Jahr 1974 in Salem begründete Kurt Hahn noch viele Initiativen. Eine davon, das Konzept „Outward Bound“, eine vierwöchige Kurzschule, in der Kinder aus sozial völlig unterschiedlichen Schichten miteinander und voneinander lernen, ist weltweit an verschiedenen Standorten etabliert.4
Das Düsseldorfer Team flucht bei Kilometer 58. Schon wieder ist ein Reifen platt! Mit der zwischenzeitlich vorhandenen Übung ist das Problem schnell behoben.
Wie selbstverständlich möchte der mitfahrende Pädagoge bei Kilometer 60 die Abzweigung zur kürzeren Streckenalternative zum Ziel wählen. Zu seiner Überraschung widerspricht das Team. Die Jungen wollen sich nicht die Blöße geben, nach nur 80 Kilometern als Letzte am Lagerplatz einzurollen. Der Hinweis des Pädagogen, dass das Ziel unmöglich vor Mitternacht erreicht werden kann, kann sie nicht umstimmen. Plötzlich hat das Team einen ungeahnten Kampfgeist entwickelt und möchte auf jeden Fall die große Strecke fahren. Nicht sehr begeistert erklärt sich der Pädagoge einverstanden. Während er sich den nächsten Aufstieg emporquält, sucht er noch nach einer Erklärung für die neue Willensstärke der Gruppe.
Derweil hat auch das führende Team Pech. Bei einem steilen Anstieg reißt eine Kette. Nun heißt es, möglichst schnell das Werkzeug aus dem Rucksack holen und die gebrochenen Kettenglieder zusammenfügen. Am vor Hitze schwirrenden Horizont erscheint das nächste Team. Die Jugendlichen toben. Ein mit viel Mühe und Fleiß herausgefahrener Vorsprung droht sich aufzulösen, und es sind noch 30 Kilometer zu fahren.
In den letzten Jahrzehnten wurde die Erlebnispädagogik neu entdeckt, vielfältig und facettenreich, praktisch und wissenschaftlich weiterentwickelt. Der BVkE engagiert sich als Fachverband seit vielen Jahren, diese Methode gemeinsam mit seinen Mitgliedern zu qualifizieren. Als Methode ist Erlebnispädagogik kein geschützter Begriff. Die Qualifizierungsangebote reichen von Wochenenden bis zu mehrjährigen anspruchsvollen Weiterbildungen5. Die Ausgestaltung von Erlebnispädagogik in der Praxis ist extrem bunt. Dennoch lassen sich bestimmte Merkmale definieren, die diese Methode ausmachen und einzigartig erscheinen lassen.
Der Erlebnischarakter
Kinder und Jugendliche lernen am intensivsten, wenn das Umfeld ungewöhnlich und vielfältig ist. Ausnahmesituationen erfordern die Aufmerksamkeit aller Sinne.
Die Gruppenorientierung
Die Jugendlichen erleben am eigenen Leib, dass schwierige Situationen in der Natur im Miteinander oft leicht gelöst werden können, was für eine einzelne Person unmöglich wäre.
Der Ernstcharakter
Der Erwachsene kann viele Male darauf hinweisen, dass es notwendig ist, den Schlafsack bei der Wanderung wasserdicht zu verpacken. Er wird damit zumeist auf taube Ohren stoßen. Wenn der Jugendliche die erste Nacht in einem nassen Schlafsack geschlafen hat, wird er zukünftig sorgfältiger sein.
Die Ganzheitlichkeit
Bei erlebnispädagogischen Unternehmungen sind nicht nur der Kopf, sondern auch die Hand und das Herz gefordert. Bei einer Bergtour nützt Kondition nur, wenn auch die Karte richtig gelesen wird und die Gefahren richtig eingeschätzt werden.
Die Freiwilligkeit
Gerade weil erlebnispädagogische Maßnahmen häufig auch eine intensive Grenzerfahrung darstellen, ist die Freiwilligkeit ein unbedingtes Muss. Auch bei vorgegebenen Zielen sind grundsätzlich Entscheidungsspielräume zu gestalten. Die Jugendlichen beschließen selber, ob sie 80 Kilometer oder aber die vollen 120 Kilometer fahren wollen. Ist einmal die Entscheidung getroffen, so müssen sie die Konsequenzen bewältigen. Somit ist die Grundhaltung der Partizipation in der Erlebnispädagogik eine unbedingte Voraussetzung. Es wird ein Setting konstruiert, in dem die Beteiligten ernst genommen werden. In der Jugendhilfe fällt auf, dass Jugendliche dies häufig erstmalig in ihrem Leben erfahren.
Bei den Düsseldorfer Radlern schwindet langsam die Kraft. Nun sind sie in dem hügeligen Gelände und kämpfen sich tapfer Anhöhe um Anhöhe empor. Sie wissen sehr wohl, dass sie ins Dunkle radeln werden, aber sie haben sich für die Strecke entschieden und das gemeinsame Wissen, dass sie den Mut hatten, diese Entscheidung zu treffen, lässt alle entschlossen weiterkurbeln.
Währenddessen nähert sich das erste Team der Ziellinie. Der Kettenriss führte dazu, dass sie von einer nachfolgenden Gruppe überholt wurden. Aber die Wut im Bauch über dieses technische Missgeschick gab ihnen so viel Kraft, dass sie nach nur wenigen Kilometern das Team wieder überholten. Die 120 Kilometer sind geschafft! Müde, durstig und hungrig rollen sie die letzten Meter ins Lager ein.
Für die Pädagogin war es ein neues Erleben. Normalerweise gibt sie den Jugendlichen vor, was zu tun ist und hilft ihnen bei Hausaufgaben und der Bewältigung des Alltags. Heute war alles anders. Sie war müde, fast verzweifelt und sehr froh darum, dass ihre Jungs sie in den Windschatten genommen haben. Mit dem befriedigenden Gefühl, die 120 Kilometer gemeinsam als Sieger bewältigt zu haben, rollen die fünf unter dem Jubel der Zuschauer über die Ziellinie.
Verschiedene Studien zur Wirkung von erzieherischen Hilfen haben bestätigt, dass Erfolge daran gekoppelt sind, ob den Kindern und Jugendlichen etwas zugetraut wird und ob sie sich selbst etwas zutrauen. Viele Kinder und Jugendliche, die eine Hilfe zur Erziehung in Anspruch nehmen, verfügen vor allem über reichhaltige Erfahrung des Scheiterns und des Versagens. Eine 80 bis 120 Kilometer lange Radtour durchzuhalten erfordert wahrlich ganzen Einsatz, bleibt aber trotz allem eine überschaubare Anforderung. Eine Wettkampfsituation bietet dabei hohen Motivationscharakter, vorausgesetzt, die Beteiligten wissen, dass sie eine Chance haben, mithalten zu können. Der Jubel und die Anerkennung ihrer Leistung bei der Zieleinfahrt ist für viele der Jugendlichen eine absolut neue Erfahrung. Eine Kunst bleibt es, Anforderungen, Settings und Atmosphäre bei erlebnispädagogischen Projekten so zu gestalten, dass Jugendliche ihre Selbstwirksamkeit und ihr Potenzial erfahren und erleben können.
Sieg und Niederlage gehören zusammen
Realistische Herausforderungen bieten Kindern und Jugendlichen große Entwicklungsmöglichkeiten für unterschiedlichste Kompetenzen fern von Schulbank und Lehrplänen. Sieg und Niederlage gehören dabei als grundlegende Erfahrungen zusammen. Denn Herausforderungen beziehen ihren Reiz auch immer durch ein gewisses Risiko, sie nicht zu bewältigen –andernfalls wäre es langweilig.
Inzwischen ist die Dunkelheit hereingebrochen. Es ist schon kurz nach 23 Uhr. Hinter dem Düsseldorfer Team leuchten seit fast zwei Stunden die Warnblinker eines Begleitfahrzeuges. Eine zusätzliche Verpflegungsration hat die Kraftreserven noch einmal mobilisiert. Die Aussicht, das Ziel bald zu erreichen, tut das Übrige dazu.
Auf dem Lagerplatz findet gerade der gemeinsame Tagesabschluss am Lagerfeuer statt. Die meisten freuen sich auf den wohlverdienten Schlaf. Alle wissen, dass ein Team noch unterwegs ist und dass das Team trotz der Schlusslichtposition die 120-Kilometer-Variante gewählt hat.
Als die Fahrradlichter sichtbar werden, herrscht großer Andrang an der Ziellinie. Das Team wird mit gebührendem Applaus und großem Respekt von allen Jugendlichen und Erwachsenen in Empfang genommen!
Der Pädagoge kann es immer noch kaum glauben, was seine Jungs an diesem Tag geleistet haben, und ist voller Stolz auf sie. Ein neues Gefühl für ihn und die Jungs, die es in vollen Zügen genießen und sich irgendwie trotz allem auch als Sieger fühlen!
Anmerkungen
1. Der Kurt-Hahn-Pokal 2009 wurde organisiert vom Jugendhilfezentrum Raphaelshaus, Dormagen (Daniel Mastalerz und Tom Pfeiffer), vom Kinderheim Pauline von Mallinckrodt, Siegburg (Thomas Fischer und Jürgen Schmitz), der Kinder- und Jugenddorf Marienpflege, Ellwangen (Markus Barth), vom Geradingerhaus, Kempten (Marion Dodenhöft).
2. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_Hahn
3. Ebd.
4. www.outwardbound.de
5. Der BVkE ist Träger einer qualifizierten Weiterbildung Erlebnispädagogik. Informationen dazu finden Sie unter: www.bvke.de