Der Fluch der guten Tat
Ich hatte Hunger und ihr habt mir zu essen gegeben (Mt 25,35) – diese einfache biblische Begründung motiviert nicht wenige ehrenamtliche Helfer(innen), bei einer Tafel mitzuarbeiten. Die Zahl der Tafeln und Kleiderkammern in Deutschland wächst rasant. In Großstädten bieten Suppenküchen Armenspeisung. Ehrenamtlich Tätige engagieren sich in Initiativen und Projekten mit oder ohne Anbindung an das professionelle Hilfesystem.
Was aber kann getan werden zugunsten einer guten Lobbyarbeit für Menschen in Armut? Den vielen Arbeitslosengeld-II- und Sozialgeldempfänger(inne)n, Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen oder Ruheständlern mit kleiner Rente gilt es eine Stimme zu geben, um einem getarnten Sozialabbau und einer Entsolidarisierung entgegenzutreten.
Ein Blick nach Frankreich: Wenn die Menschen dort mit der herrschenden Politik nicht einverstanden sind, dann äußern sie sich unmittelbar, unüberhörbar und öffentlich. Damit konnten viele gesetzliche Initiativen gekippt werden, weil die Bürger(innen) sie mehrheitlich als würdelos, falsch oder ungerecht betrachteten.
Auch in Deutschland gibt es Unbehagen und Kritik an den politischen Verhältnissen. Die Menschen sind längst dafür sensibilisiert, dass die Grenzen zumutbarer sozialer Unterschiede permanent überschritten werden. Doch ernsthafter und konstruktiver Protest oder Widerstand regt sich nicht. Er bleibt meistens individuell, vereinzelt, passiv.
Das Soziale ist (noch) nicht völlig verschwunden, aber viele Errungenschaften des Sozialstaates werden zur Disposition gestellt. Die Verteidiger des Sozialstaates werden von den sogenannten „Reformern“ als Blockierer oder rückwärtsgewandte Sozialromantiker diffamiert.
Das Sozialsystem befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel, und der soziale Friede ist gefährdet. Die Armut ist längst in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen. Auch die Mittelschicht ist zunehmend betroffen. Seit Einführung von Hartz IV am 1. Januar 2005 kann der Verlust eines Arbeitsplatzes binnen Jahresfrist in die Armut führen.
Tafeln als stumme Anklage
Mittlerweile gibt es allein in der Bundesrepublik über 800 Tafeln, dazu unzählige Tafelinitiativen mit so malerischen Namen wie Brotkorb oder Brosamen. Diese hohe Zahl an Tafeln und Suppenküchen ist als Reaktion auf die steigende Armut in einem der reichsten Länder der Erde zu sehen. Doch Tafeln können die Ursachen von Armut und gesellschaftlicher Ausgrenzung immer größerer Teile der Bevölkerung nicht beseitigen. Wenn die Stütze nur bis zum Zwanzigsten des Monats reicht, ist die Lebensmittelausgabe für die Betroffenen eine konkrete Hilfe.
Die bloße Existenz von Tafeln und Suppenküchen ist gleichzeitig eine Kritik an den bestehenden sozial- und wirtschaftspolitischen Verhältnissen. Sie ist eine stumme und leise Kritik. Eine Kritik an zu niedrigen Löhnen, zu geringen Renten und zu vielen prekären Arbeitsverhältnissen.
Gefahr der politischen Vereinnahmung
Die Tafelprojekte leben von Ehrenamtlichkeit. Ohne soziales Engagement könnten die vielen Tausend Tonnen Lebensmittel nicht bei den Großmärkten, Discountern, Einzelhändlern und Bäckereien abgeholt, sortiert und ausgegeben werden. Bundesweit wirken inzwischen über 30.000 „Ritter der Tafel(runde)n“, wie manche der freiwilligen Helfer(innen) sich augenzwinkernd nennen, daran mit. Bemerkenswert ist, wie viel Zeit die Freiwilligen aufbringen: im Durchschnitt 14 Stunden pro Woche.
Warum sind diese und andere Projekte so erfolgreich? Weil alle Beteiligten „Gewinn“ daraus ziehen. Die Supermärkte und Discounter können die Ware, die nicht mehr verkauft werden kann, abschreiben, mit ihrer sozialen Verantwortung werben und gleichzeitig die Entsorgungskosten minimieren. Den Initiator(inn)en und Helfer(inne)n von Lebens- mittelausgaben und Suppenküchen ist ebenfalls Anerkennung sicher: Tafeln haben ein hohes gesellschaftliches Ansehen.
Anerkennung kommt freilich vor allem von denen, die den Rückbau des Sozialstaats und die Zunahme von Armut politisch zu verantworten haben. Sie singen das Hohelied auf das Ehrenamt. Es überrascht deshalb nicht, dass die frühere Bundesfamilien-, jetzt Arbeitsministerin Ursula von der Leyen die Schirmherrschaft beim Bundesverband übernommen hat. Man muss sie liebhaben, die Tafeln und ihre Helfer. Schließlich: Für Politiker(innen) stellt ehrenamtliches Engagement „eine zentrale Grundlage für das Gemeinwesen“ dar und ist „eine wichtige Bedingung für ein tolerantes und friedliches Zusammenleben.“ Bürgerschaftliches Engagement wird mit Anerkennungsurkunden oder Ehrenamtskarten honoriert.
Sinn als Gewinn
Auf die Frage, welche Motive die freiwilligen Helfer(innen) zum Engagement bewegen, antworteten viele, dass ihnen die Tätigkeit „persönliche Zufriedenheit“ verschaffe. Denn sie könnten „etwas Sinnvolles“ tun, weil sie sähen, „dass die Hilfe dort ankommt, wo sie hingehört“.
An dieser Stelle gibt es Anknüpfungspunkte für die Zusammenarbeit zwischen den professionell und den ehrenamtlich Mitarbeitenden: Die Verbindung professioneller Arbeit mit freiwilligem Engagement kann falsches Mitleid einerseits und Borniertheit der Fachbranche andererseits verhindern. Am Ende solcher Kooperationen sollten als Ergebnis realistische Sichtweisen und Konzepte stehen.
Klare Kriterien beugen Frustrationen vor
Das Zusammenwirken des professionellen mit dem freiwilligen Engagement eröffnet neue Möglichkeiten: Die hauptamtlichen Mitarbeiter(innen) können sich so stärker auf ihre Kernaufgaben einlassen und ihre definierten Ziele erreichen, beispielsweise in der Wohnungslosenhilfe.
Voraussetzung für das Gelingen sind allerdings klare Kriterien, die für die beteiligten Akteure verbindlich sind. Dazu zählt ein christliches beziehungsweise humanistisches Menschenbild, das von der Würde eines jeden Menschen ausgeht. Gerade die jüdisch-christliche Tradition orientiert sich beim Nachdenken über Gerechtigkeit daran, die sozialen Verhältnisse von unten zu betrachten. Das soziale Konfliktpotenzial eines „Mangels im Überfluss“ lässt sich nur durch Gerechtigkeit beseitigen. Gerechtigkeit darf nicht auf bloße Mildtätigkeit reduziert werden.
Deshalb sollte mit potenziellen freiwilligen Helfer(inne)n immer zuerst ein Gespräch zu ihrer Motivation geführt und dabei über das Leitbild der Caritas informiert werden. Ein solches Gespräch sollte aber auch dazu dienen, die Fähigkeiten, Kenntnisse und Neigungen eines/einer Freiwilligen zu berücksichtigen, um die personellen Ressourcen für die definierten Ziele sinnvoll zu nutzen: Der Manager mit vielfältigen Kontakten zu Wirtschaft und Politik wird in der Lebensmittelsortierung nicht optimal eingesetzt sein, sofern er nicht ausdrücklich gerade dort mithelfen möchte. Eine sinnvolle Aufgabenverteilung dient der Arbeitszufriedenheit aller Beteiligten.
Ausbalancierte Projektstrukturen tragen im Alltag
Die Kooperation mit Freiwilligen ist Arbeit – Mildtätigkeit kann sehr anstrengend sein. Ehrenamtliche Helfer(innen) brauchen neben Koordination auch Ansprache und Anerkennung. Denn Altruismus ist nie nur ein Geben – es bedarf des symbolischen Kapitals (Pierre Bourdieu) als Gegenleistung, Geben und Nehmen müssen in Balance gehalten werden. Nur dann ist die Zusammenarbeit wirklich befriedigend. Gerade deshalb müssen die professionell Mitarbeitenden selber ihre Bedarfslage erkennen, überprüfen und im Zweifelsfall das gut gemeinte Angebot eines Bewerbers ablehnen.
Auch Fortbildungen können den Ehrenamtlichen etwas für ihren Einsatz zurückgeben. Dabei kann es beispielsweise um Themen gehen wie: Umgang mit schwierigen Kunden, Fahrertraining, Lebensmittelhygiene, Hebe- und Tragetechniken, Sponsoring und Fundraising.
In der praktischen Zusammenarbeit bewähren sich demokratische Strukturen und Mitbestimmungsformen (zum Beispiel Freiwilligenrat, Gruppensprecher, Mitwirkung bei strategischen und personellen Fragen, Steuerungsgruppe). Hier können aber auch Fragen der optimalen Organisationsform diskutiert und umgesetzt werden (Trägerschaft; Förderverein, Selbstverwaltung etc.). Diese Diskussionen sind nicht immer spannungsfrei, da die Träger und die freiwilligen Helfer(innen) nicht unbedingt das gleiche strategische Interesse haben. Unabdingbare Kernkompetenzen beider Seiten sind daher Konfliktfähigkeit und demokratische Streitkultur.
Kritische Reflexion des gesellschaftlichen Kontexts
Ebenso wichtig ist die gemeinsame kritische Reflexion der Tafelarbeit. Was hat es eigentlich damit auf sich, dass die Tafeln auch von zahlreichen kapitalkräftigen Sponsoren unterstützt werden? Welche Motivation haben Mercedes-Benz, der Reifenhersteller Continental, die Norddeutsche Landesbank oder Gruner & Jahr, um nur einige zu nennen? Warum kümmert sich der große Unternehmensberater McKinsey – führend bei Rationalisierung und Personalabbau – in Form sozialen Sponsorings um die Opfer der Arbeitsplatzvernichtung?
Aber auch das ist ein Thema: Die Konkurrenz innerhalb der Armutsbevölkerung, der Kampf um das knappe Gut der Lebensmittel wird härter. Auch in der Schlange vor der Ausgabe gibt es sie, die vielzitierte Neiddebatte: Wer bekommt mehr? Steht ihm das eigentlich zu? Deutscher oder Ausländer? Guter oder schlechter Arbeitsloser?
Um diese kritischen Fragen dürfen die haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitenden keinen Bogen schlagen. Supervision kann helfen, und Aufklärung im klassischen Sinne ist erforderlich: Über Ursachen von Armut und struktureller Arbeitslosigkeit und über die Lebenswirklichkeit von Menschen am Rande der Gesellschaft muss informiert werden.
Die genannten Rahmenbedingungen sind lediglich Minimalanforderungen. Sie dienen als Grundlage und Anregung für eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Professionellen und freiwilligen Helfern im Ehrenamt.
Das gemeinsame Ziel ist klar: Neben der konkreten Hilfe im Lebensalltag der Bedürftigen muss es darum gehen, einen Beitrag zu leisten, den fortschreitenden Individualisierungsprozessen und der Entsolidarisierung in der Gesellschaft entgegenzuwirken. Es gilt, die von Armut betroffenen Menschen aus ihrer Sprachlosigkeit zu befreien, sie zu solidarischem Handeln in ihrem Interesse zu motivieren. Tafeln und Suppenküchen dürfen nur eine Zwischenlösung sein, letztlich müssen sie Geschichte werden.
Literatur:
Lutz, Ronald: Zwischen Suppenküche und Protest. In: Recht auf Wohnung, Suppenküchen und Tafeln (Hrsg. v. Störch, Klaus), Kleine Hattersheimer Hefte 8, Hattersheim 2007.
Störch, Klaus: Auch McKinsey hilft den Armen. In: Ossietzky Heft 4/2007, Berlin.
Malyssek, Jürgen; Störch, Klaus: Wohnungslose Menschen – Ausgrenzung und Stigmatisierung. Freiburg : Lambertus, 2009.