Wenn Frauen zu Täterinnen werden
Straffälligkeit ist eine mögliche Reaktion auf Schwierigkeiten und Defizite im Leben. Armut, Wohnungslosigkeit und Arbeitsverlust sind bei straffällig gewordenen Frauen und Männern unter Umständen Auslöser für delinquentes Verhalten. Die Lebensläufe straffällig gewordener Frauen zeigen aber auffallend viele Gemeinsamkeiten. Erfahrungen von Gewalt und sexuellem Missbrauch, frühe Abhängigkeit vom Partner bis hin zur resignativen Konfliktbewältigung durch Flucht in Sucht und Krankheit1 sind nur einige Beispiele, die in Verbindung mit fehlendem Selbstwertgefühl und mangelnder Abgrenzungsfähigkeit in eine Täterschaft münden können. Statistische Zahlen, Berichte von Praktikerinnen aus der Straffälligenhilfe und Ergebnisse aus der Forschung untermauern diese Angaben.
Betrachtet man die Art der Delikte, so fällt auf, dass Frauen hauptsächlich wegen Eigentumsdelikten, vorrangig Diebstahl (vor allem Ladendiebstahl) und Betrug, verurteilt werden. Frauen werden aber auch gewalttätig. Ihr Anteil an Gewalttaten ist gering, nimmt aber zu. Immerhin besteht kaum Wiederholungsgefahr, da die Gewalttaten fast ausschließlich im sozialen Kontext verübt werden: "Frauen wenden Gewalt an, so eine Redensart, um Gewalt zu beenden. Sie töten nach jahre- oder jahrzehntelangem Martyrium. Sie töten, um einen Albtraum zu beenden. Sie töten, weil sie allein gelassen, sitzen gelassen, getäuscht und gedemütigt auf andere Weise aus Labyrinthen ihrer beschädigten Biographie nicht mehr herausfinden."2
Das Alter von inhaftierten Frauen weist ebenfalls Unterschiede im Vergleich mit straffällig gewordenen Männern auf. Während allgemein die Deliktbelastung mit steigendem Alter sinkt, was auch die Zahl delinquenter Männer in dieser Altersgruppe belegt3, ist bei inhaftierten Frauen jenseits der 60 Jahre eine Zunahme für alle Deliktarten zu beobachten. Das vergleichsweise hohe Alter straffälliger Frauen muss oft als Höhepunkt eines langen Leidensweges gesehen werden und stellt damit eine besondere Herausforderung für die Haftentlassungsvorbereitung und die Zeit nach der Haft dar.
Strafvollzug schert Frau und Mann über einen Kamm
Die Mutterschaft - mehr als die Hälfte der inhaftierten Frauen haben Kinder, jede vierte ist Mutter von drei und mehr Kindern4 - ist ein weiterer und gewichtiger Unterschied im Vergleich zu inhaftierten Männern. Denn die Inhaftierung einer Frau und Mutter trifft letztendlich die ganze Familie und wirkt sich besonders auf die Entwicklung und Erfahrung von Kindern aus. Auch aus diesem Grund muss der Genderaspekt im Strafvollzug verstärkt berücksichtigt werden, selbst wenn inhaftierte Frauen seit vielen Jahren nur etwa fünf Prozent der Gefängnispopulation5 ausmachen. Da Frauen seltener (24,2 Prozent6 der Anklagefälle) straffällig werden als Männer, unterliegen sie verstärkt einer Stigmatisierung durch die Gesellschaft, was das Leben während und nach der Haft entscheidend prägt.
Die geringe Zahl inhaftierter Frauen führt dazu, dass die geschlechtsspezifischen Belange im Strafvollzug kaum berücksichtigt werden und sich die Gestaltung des Strafvollzugs, bis auf Sonderregelungen bei Schwangerschaft und Geburt, an den Bedürfnissen inhaftierter Männer orientiert.
Trotz der geringen Gefahr von Täterinnen für die Allgemeinheit sitzen die meisten Frauen ihre Haftstrafe im geschlossenen Vollzug ab, weil die Bundesländer durchschnittlich nur etwas mehr als zehn Prozent der Haftplätze im offenen Vollzug für Frauen bereithalten. Die Zahl dieser Plätze variiert je nach Bundesland erheblich. Die unterschiedliche Handhabung der Unterbringung, so die Juristin Juliane Zolondek, ist "nicht auf eine unterschiedliche Deliktstruktur der Insassen zurückzuführen, sondern vielfach durch kriminalpolitische Orientierungen und Entscheidungen bedingt."7 So sind Frauen im Strafvollzug unmittelbar von strukturellen Nachteilen betroffen. Markante Beispiele sind die Bereiche Arbeit und Ausbildung während der Haft.
Die Autorinnen Danielle von den Driesch und Gabriele Kawamura weisen 1997/1998 auf die strukturelle Benachteiligung inhaftierter Frauen hin.8 Zwölf Jahre später bestätigt Kawamura-Reindl, dass sich an der diesbezüglichen Situation der Frauen kaum etwas geändert hat: "Das Spektrum der haftinternen Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten für Frauen im Strafvollzug ist deutlich geringer als für Männer und wird nach wie vor von Ausbildungsmöglichkeiten in traditionellen, schlecht bezahlten ,Frauenberufen‘ wie Köchin, Textilreinigerin, Bürogehilfin, Schneiderin oder Friseuse dominiert."9 Fraglich ist allerdings, ob der Einstieg in "Männerberufe" die Integrationschancen in die Arbeit für diese Frauen tatsächlich verbessert. Vor dem Hintergrund der verfestigten Vorstellung von weiblichem und männlichem Verhalten muss die Frage aufgeworfen werden, welche Aussichten eine stigmatisierte Frau auf Anstellung hat, die nicht nur durch ihre Straftat die weibliche Rollenerwartung verletzt hat, sondern mit einer in der Justizvollzugsanstalt (JVA) erlernten "männlichen" Tätigkeit das weibliche Rollenstereotyp ein weiteres Mal verlässt.
Kontakt zu Kindern bricht ab
Die Möglichkeit einer gemeinsamen Unterbringung von Mutter und Kind wird von einigen Justizvollzugsanstalten vorgehalten. Auch wenn diese Möglichkeit nicht unumstritten ist, kann damit zumindest die Trennung von Mutter und sehr jungem Kind vermieden werden. Allerdings gibt es bundesweit lediglich acht Mutter-Kind-Abteilungen mit insgesamt 93 Plätzen.10 Vergegenwärtigt man sich, dass jährlich etwa 60 Kinder in der Haft geboren werden11, wird klar, dass das Angebot bei weitem nicht ausreicht.
Parallel dazu wird deutlich, wie wichtig regelmäßige Besuchszeiten für die Aufrechterhaltung der Mutter-Kind-Beziehung sind, wenn das Kind extern untergebracht ist. Aufgrund der geringen Zahl inhaftierter Frauen werden diese in der Regel in einer zentralen Justizvollzugsanstalt untergebracht. Eine Anfahrtszeit bis zu mehreren Stunden kann die Folge sein. Nicht jede Familie oder Pflegestelle ist bereit, diese zeitliche und finanzielle Belastung auf sich zu nehmen. Der Kontakt bricht ab.
Aber auch bei den Besuchen führt oft eine nicht kindgerechte Abwicklung der Begegnung zwischen Mutter und Kind und die Ausgestaltung des Besuchraumes zu beidseitigem Stress. Auch deshalb kann der Kontakt abbrechen. Aus der Praxis wird berichtet, dass viele Mütter die Familienkontakte nach der Haftverbüßung nicht mehr aufnehmen.
Gabriele Scheffler, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Straffälligenhilfe (BAG-S), wirft die Frage auf, ob diese "unzureichende Berücksichtigung der Aufrechterhaltung des familiären Kontaktes zwischen Eltern und Kindern vereinbar ist mit Artikel 6 Grundgesetz, demzufolge Ehe und Familie unter dem besonderen Schutze der staatlichen Obhut stehen."12 Diese Frage wurde auch dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt, das in seiner Urteilsverkündung am 23. Oktober 2006 ausführte, dass dem Schutz der Familie auch im Haftvollzug besondere Bedeutung zukommen muss.13 Das Kind hat ein Recht auf seine Eltern.
Inhaftierte Frauen - ein Thema auch für die EU
Das Europäische Parlament beauftragte den Ausschuss für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter, sich intensiv europaweit mit der vielschichtigen Problematik straffällig gewordener Frauen zu beschäftigen. Der Ausschuss erstellte im Jahr 2008 den "Bericht über die besondere Situation von Frauen im Gefängnis und die Auswirkungen der Inhaftierung von Eltern auf deren Leben in Familie und Gesellschaft".14 Die mit dem Bericht verbundenen Empfehlungen wurden mehrheitlich von den Parlamentariern in einer Schlussabstimmung verabschiedet. Nun gilt es sicherzustellen, dass diese Empfehlungen nicht in der Schublade liegenbleiben. Denn systematisch aufgebaute geschlechtsspezifische Hilfeangebote für Frauen fehlen nicht nur in der Haft, sondern auch in den Angeboten der ambulanten Hilfe. So stellten von den Driesch und Kawamura fest: "Bis in die 80er Jahre gab es kaum ein ambulantes, systematisch ausgebautes Hilfesystem für straffällig gewordene Frauen."15
Der Sozialdienst katholischer Frauen (SkF), Fachverband der Caritas, bietet als Einziger geschlechtsspezifische Straffälligenhilfe bundesweit seit mehr als 100 Jahren an. Der Verband hat sein originäres Engagement für straffällige Frauen und Mädchen sehr früh als eine strukturelle Aufgabe begriffen. Bereits 1956 betonte Elisabeth Zillken, von 1953 bis 1971 Vorsitzende des Vereins (und Generalsekretärin bis 1958), die Notwendigkeit einer nachgehenden Betreuung und eines vernetzten Arbeitens. Sie verwies auf das beachtliche Netzwerk des Verbandes für strafentlassene Frauen und Mädchen.16
Die Hilfe des SkF wird nach dem Durchgängigkeitsprinzip, also vor, während und nach der Haft angeboten. Die folgenden Projektbeispiele zeigen, wie die regulären geschlechtsspezifischen Hilfeangebote ergänzt werden.
Geschlechtsspezifische Projekte des SkF
Gemeinnützige Arbeit statt Ersatzfreiheitsstrafe
Kann jemand eine auferlegte Geldstrafe nicht zahlen, so besteht die Möglichkeit zur gemeinnützigen Arbeit (GA), um eine Ersatzfreiheitsstrafe abzuwenden.
Der SkF München unterstützt diese Option besonders bei Müttern, um eine Trennung durch Inhaftierung zwischen Mutter und Kind zu vermeiden. Die Frauen werden während der GA begleitet und die Situation der Frau mit ihren Kindern umfassend bewertet. Denn erfahrungsgemäß zeichnen sich betroffene Familien durch viele unterschiedliche Problemlagen aus und bedürfen einer weitergehenden Unterstützung, die vor allem auch den Kindern zugutekommt.
Die Problemaufbereitung und die Gelegenheit, durch den Verbleib der Kinder bei ihrer Mutter Unterbringungskosten zu sparen, hat das Stadtjugendamt München dazu bewogen, die Vermittlung in GA für Mütter - zunächst befristet - finanziell zu unterstützen.17
Auf diese Weise setzt der SkF München seit Jahren die Forderung des EU-Parlaments um, den Erhalt der familiären Bindungen und der sozialen Beziehung durch Haftersatzstrafen, wie gemeinnützige Arbeit, verstärkt zu fördern, um dem übergeordneten Interesse des Kindes an seiner Mutter Rechnung zu tragen.18
Regelmäßige Besuche werden gefördert - das Projekt "kid mobil"
Die Inhaftierung einer Mutter führt nicht selten zum völligen Zerfall der Familie. Das Europäische Parlament verweist auf die im Auftrag der Europäischen Kommission durchgeführte Studie zur Situation von inhaftierten Müttern: "Die Trennung von und die Sorge um ihre Kinder wird von den Frauen in Haft als einer der wichtigsten Faktoren für Stress, Depressionen und Ängste bis hin zu selbstzerstörerischen Handlungen genannt."19
Der SkF Berlin übernimmt die Aufgabe, Mutter und Kind in dieser belastenden Situation mit dem Projekt "kid mobil" zu unterstützen. Der Verein fördert regelmäßige Besuche, wenn sich Angehörige oder Einrichtungen, in denen die Kinder für die Dauer der Haft untergebracht sind, aus unterschiedlichen Gründen nicht in der Lage sehen, solche Besuche zu ermöglichen. So profitiert durch das Projekt "kid mobil" das gesamte familiäre Umfeld.
Ehrenamtliche des SkF holen die Kinder ab und bringen sie zu speziellen Spielstunden in die JVA. Dieser Begleitdienst stellt für die Begleiterinnen eine besondere Herausforderung dar. Sie sind die erste Ansprechperson für das Kind, das sich von der Mutter wieder trennen muss. Für Schwierigkeiten oder Ablehnung, die sich durch den Kontakt zu der Mutter im familiären Umfeld des Kindes ergeben, werden oft die beruflichen Mitarbeiterinnen verantwortlich gemacht.
Vorbereitung auf die Haftentlassung - "Frei-Raum"
Mit dem Projekt "Frei-Raum" unterstützt die SkF Landesstelle Bayern seit über zehn Jahren Frauen, sich auf die Haftentlassung vorzubereiten. Jeweils zehn bis vierzehn Frauen erhalten die Möglichkeit, sich mit der Unterstützung zweier Therapeutinnen in einem Tagungshaus außerhalb der JVA vier Tage lang intensiv mit ihrer eigenen Biografie auseinanderzusetzen. Ziel ist es, den Frauen kurz vor ihrer Haftentlassung dabei zu helfen, ihr Lebenskonzept zu überdenken und sich ihre Stärken zu vergegenwärtigen, um künftig eigenständiger handeln zu können. Die Wahrnehmung individueller Bedürfnisse sowie das Beachten der eigenen Grenzen, aber auch der Umgang mit Schuldgefühlen gegenüber Angehörigen, vor allem gegenüber Kindern, steht dabei im Vordergrund. Das Projekt findet einmal jährlich statt und wird zu 100 Prozent vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz finanziert.
Freizeitpädagogische Angebote gegen Vereinsamung
Das Schlimmste an der Haft ist die Entlassung. Es gilt dann, das eigene Leben neu zu ordnen, Eigenverantwortung zu übernehmen - eine für viele Frauen sehr neue Erfahrung und vor dem Hintergrund der weiblichen Sozialisation auch eine Herausforderung. Beziehungen, soweit vorhanden, sind durch die Haft häufig zerbrochen, Menschen haben sich abgewandt. Was bleibt, ist häufig Einsamkeit. Diese trifft vor allem ältere Frauen.
Neben der Unterstützung der Alltagsbewältigung hält der SkF Augsburg auch ein freizeitpädagogisches Angebot für die Frauen vor, in welchem sie Stärke durch die und in der Gruppe erleben. Dieses Angebot wird durch die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen des SkF Augsburg umgesetzt und durch Spenden und Erlöse aus Flohmärkten finanziert.
Mehr Geld ist nötig
Aufgrund der herausragenden Rolle von Nichtregierungsorganisationen bei der sozialen und beruflichen Wiedereingliederung von Frauen fordert der Ausschuss der EU für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter die Mitgliedstaaten auf, diese Organisationen zu fördern, besonders durch eine Aufstockung der ihnen zur Verfügung gestellten Mittel.20 Inhaftierte Frauen sind eine Randgruppe innerhalb einer Randgruppe. Sie sind durch geschlechtsspezifisch bedingte Problemvielfalt belastet, die eigenständige Lösungen und Hilfsansätze erfordert. Die freie Straffälligenhilfe unterstützt den Staat bei der Bewältigung dieser Herausforderungen, ist aber auf finanzielle Unterstützung angewiesen.
Anmerkungen
1. Halbhuber-Gassner, Lydia: "Frei-Raum" für inhaftierte Frauen. In: Caritas-Jahrbuch 2001, S. 371.
2. Gisela Friedrichsen im Vorwort zu "Wenn Frauen töten" von Michael Soyka. Stuttgart: Schattauer Verlag 2004.
3. Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) Bericht 2007.
4. Vgl. Scheffler, Gabriele: In: Bewährungshilfe 2009, St.47.
5. Kawamura-Reindl, Gabriele: Besondere Zielgruppen und Problemlagen, S. 353. In: Cornel, Heinz et al.: Resozialisierung. Baden-Baden: Nomos Verlag, 3. Auflage, 2009.
6. PKS Bericht 2007.
7. Zolondek, Juliane: Lebens- und Haftbedingungen im deutschen und europäischen Frauenvollzug. Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg, 2007.
8. Bundesarbeitsgemeinschaft Straffälligenhilfe (BAG-S) (Hrsg.): Straffälligenhilfebericht 1997/98: Straffällig gewordene Frauen - Lebenslagen und Hilfeangebote. Bonn, S. 51.
9. Kawamura-Reindl, Gabriele: a.a.O.
10. Grote-Kux, Gabriele, unter http://prisonportal.informatik.uni-bremen.de
11. Zolondek, Juliane, a.a.O. , S. 63.
12. Scheffler, Gabriele: In: BewHi 2009, St.47.
13. Scheffler verweist auf den Bundesverfassungsgerichtentscheid vom 23. Oktober 2006, Az BvR 1797/06.
14. Europäisches Parlament: Bericht über die besondere Situation von Frauen im Gefängnis und die Auswirkungen der Inhaftierung von Eltern auf deren Leben in Familie und Gesellschaft (2007/2116 (INI)). Bericht vom 5. Februar 2008.
15. BAG-S Straffälligenhilfebericht 1997/98, S. 63.
16. Zillken, Elisabeth: "Unsere Arbeit in der Strafanstalt als Hilfe und Ergänzung des Seelsorgers", Vortrag bei der Jahrestagung der katholischen Strafanstaltspfarrer in Aachen 1956. In: Der Wegweiser. Kleinschriften der KAG-S.
17. Unveröffentlichtes Konzept SkF München.
18. Europäisches Parlament: Bericht über die besondere Situation von Frauen im Gefängnis, a.a.O.
19. Europäisches Parlament, ebd.
20. Europäisches Parlament, ebd.