Grenzüberschreitende Hilfen für Straffällige und Angehörige
Europa rückt näher zusammen. Die Träger der freien Straffälligenhilfe in Deutschland merken, dass es an der Zeit ist, mit Partner(inne)n aus den Nachbarländern zusammenzuarbeiten. Ein Beispiel für dieses Erfordernis aus eigenem Erleben: Wohnhaft im Ruhrgebiet und mit einer deutschen Frau verheiratet, war ein griechischer Staatsbürger in Frankreich inhaftiert. Um in den Genuss einer vorzeitigen Entlassung kommen zu können, musste er nachweisen, dass er in Deutschland einen festen Wohnsitz hat und einer Arbeit nachgehen kann. Er wandte sich an einen deutschen freien Träger, der wiederum, wegen meiner Vertrautheit mit dem französischen System und der Landessprache, mit mir Kontakt aufnahm. Nach entsprechender Vermittlung zwischen dem deutschen Verein und den französischen Behörden wurde der Mann in der Tat frühzeitig entlassen.
Viele Faktoren zu beachten
Bei grenzüberschreitender Arbeit von Deutschland aus ist zunächst die persönliche Situation des straffällig gewordenen Mitmenschen zu klären:
- als deutsche(r) Staatsbürger(in), der oder die sich außerhalb Deutschlands befindet, oder als europäischer Bürger beziehungsweise Ausländer mit oder ohne Aufenthaltstitel aus dem europäischen Raum, der sich in Deutschland aufhält;
- als eine zu gemeinnütziger Arbeit, einer Geld- oder einer Bewährungsstrafe mit Auflagen beziehungsweise zu einer Freiheitsstrafe verurteilte und daher möglicherweise inhaftierte Person;
- mit oder ohne Angehörige.
Zu berücksichtigen ist ferner die jeweilige nationale Organisation der Justiz und das Netz der Nichtregierungsorganisationen (NGO), hierbei insbesondere die Strukturen und Zuständigkeiten der Sozialdienste der Justiz beziehungsweise der NGO. Außerdem zu beachten sind Übereinkommen zwischen den Ländern, wie zum Beispiel jenes, das die Verbüßung einer Freiheitsstrafe im Heimatland ermöglicht.
Die Zusammenarbeit kann über vorhandene Institutionen stattfinden oder dank persönlicher Kontakte, die engagierte haupt- beziehungsweise ehrenamtlich Mitarbeitende aus einem Land mit Mitstreiter(inne)n aus anderen Ländern geknüpft haben. Dies gelingt in den meisten Fällen im Rahmen des sogenannten kleinen Grenzverkehrs, zum Beispiel in der Euroregion Belgien - Deutschland - Holland, zwischen Deutschland und Polen in Görlitz (s. neue caritas 14 2009, S. 21) oder auch zwischen Frankreich und Deutschland in Straßburg.
Von Voteil - wenn nicht zwingend erforderlich - sind gute Sprachkenntnisse und fundierte Informationen über die Institutionen und Vorgehensweisen in dem Land, mit dem der Kontakt geknüpft wird. Wer die Sprache des Partnerlandes beherrscht, kann bereits sehr viel über meistens gut ausgebaute Internetseiten erfahren.
Ratsam ist eine Teilnahme an entsprechend angebotenen Aus- und Fortbildungen. Dazu gehören zum Beispiel ein Praktikum im Ausland während des Studiums oder auch die Teilnahme an Tagungen, bei denen ausländische Kolleg(inn)en referieren. Beispiele sind die jährlichen Tagungen der Caritas Schweiz in Zürich oder des Europäischen Forums für angewandte Kriminalpolitik (EFK) für Praktiker(innen) aus verschiedenen Berufszweigen.
Wege der Zusammenarbeit
Bei der grenzüberschreitenden Kooperation kann es sich um in weitem Sinne juristische oder sozialarbeiterische Fragen handeln, aber auch schlicht um praktische persönliche Dinge wie etwa das Ermöglichen des familiären beziehungsweise Angehörigenkontakts mit dem/der Straffälligen. Dazu ein paar Beispiele
- aus dem institutionellen Bereich:
a. In der europäischen Anlaufstelle für Straffällige in Straßburg ist eine Mitarbeiterin tätig, die sowohl in Deutschland als auch in Frankreich eine Ausbildung in Sozialpädagogik beziehungsweise Sozialarbeit absolviert hat. Sie sucht französische Inhaftierte in Deutschland und deutsche Inhaftierte in Frankreich auf.
b. Die europäische Beratungsstelle für Straffälligen- und Opferhilfe in Görlitz arbeitet seit 2003 mit dem Nachbarland Polen zusammen. Ziele des Projektes sind Prävention und Resozialisierung. Dabei geht es um die Betreuung und Beratung polnischer Bürger(innen), die in Deutschland straffällig geworden sind, und deren Angehöriger sowie um die Zusammenarbeit zwischen dem Freistaat Sachsen und der Woiwodschaft Niederschlesien (Dolny Âlàsk). Auch hier funktioniert die Kooperation in umgekehrter Richtung ebenso.
c. Initiative eines Mitglieds der französischen ANVP (Association Nationale des Visiteurs de Prison) aus Mulhouse: Ziel ist, einander in der Grenzregion durch Gespräche, Treffen von Mitstreiter(inne)n aus Frankreich und Deutschland und auch Teilnahme an Fortbildungen besser kennenzulernen und damit eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu fördern. Diese Initiative wurde von der Robert-Bosch-Stiftung unterstützt. Die ANVP mit Sitz in Paris hat mittlerweile eine Europagruppe gebildet, und fünf Student(inn)en der berühmten Pariser Hochschule für politische Wissenschaften SciencesPo schließen gerade eine Studie über das Ehrenamt im Strafvollzug in fünf europäischen Ländern ab.
d. Zusammenarbeit zwischen der Union Nationale des Fédérations Régionales des Associations de Maisons d’Accueil de Familles et Proches de Personnes Incarcérées - Uframa (Nationaler Verband der ehrenamtlichen Angehörigenhilfe) und dem EFK: Die Uframa hat verschiedene Broschüren herausgegeben, die den Angehörigen Inhaftierter wertvolle Informationen über den Strafvollzug und ihre Möglichkeiten, den/die Inhaftierte(n) zu unterstützen, vermitteln. Das EFK hat die Uframa-Broschüre zur Untersuchungshaft ins Deutsche übersetzt.
2008 hat das EFK in Kooperation mit der ANVP und der Uframa in Straßburg eine Tagung zum Thema Ehrenamt in Europa veranstaltet.
- Kooperation über einzelne Mitarbeitende von NGOs:
a. Französisch-deutscher Fall: Ein deutscher Staatsbürger war in Frankreich inhaftiert. Er bekam Besuch von einem französischen ehrenamtlichen Betreuer, der Deutsch spricht. Dieser half ihm bei seinen Bemühungen um eine schnelle Überstellung nach Deutschland - mit Erfolg. Der Kontakt blieb bestehen, der Betreuer besucht den Inhaftierten nun in Deutschland.
b. Belgisch-deutscher Fall: Ein Belgier wurde am Düsseldorfer Flughafen festgenommen und zwecks Auslieferung inhaftiert. Zu seiner Familie und seiner Freundin konnte ich Kontakt aufnehmen, ihnen Möglichkeiten erklären, wie sie ihn aufsuchen, ihm Geld überweisen konnten, und so alle betroffenen Personen erst einmal beruhigen. In beiden Fällen nahm ich direkten Kontakt zu den zuständigen Behörden auf, um zu erfahren, welche konkreten Nachweise die französische Justiz brauchte beziehungsweise wie das Auslieferungsverfahren für den Belgier beschleunigt werden konnte. In dessen Fall betonte der zuständige deutsche Oberstaatsanwalt, wie wichtig solche Vermittlungen seien.
c. Bulgarisch-deutsch-französischer Fall: Eine bulgarische Mutter schrieb einen Caritas-Migrationsdienst an der deutsch-polnischen Grenze an, um zu erfahren, ob ihre Tochter tatsächlich in Südfrankreich inhaftiert war. Ein kollegialer Anruf bei der Anlaufstelle der Uframa (s. neue caritas 14 2009, Seite 21, Kasten oben), die Besucher(inne)n aus anderen Ländern bei fast allen Justizvollzugsanstalten in Frankreich beisteht, brachte die Bestätigung. Die Auskunft wurde nur erteilt, weil die Anruferin als sehr vertrauenswürdig eingeschätzt wurde.
Zu betonen ist hier die Tatsache, dass im institutionellen Bereich bestimmte Leistungen zu erwarten sind. Es stehen bestimmte Mitarbeiter(innen) zur Verfügung, die klar definierte Aufgaben zu erfüllen haben. Das gilt natürlich nicht in Fällen, in denen durch persönliche Kontakte und Kenntnisse über bestehende Systeme fast Unmögliches möglich gemacht wird - hier sind Fantasie und Durchsetzungsvermögen gefragt. Bei den einzelnen Fällen wird nach einer geeigneten Lösung gesucht. Das wirft die Frage der Grenzen auf.
Grenzen der Kooperationsmöglichkeiten
Zwar ist Europa fast ohne Grenzen. In der Straffälligenhilfe gibt es aber noch Schranken, die unmittelbar mit den unterschiedlichen Staats- und Justizsystemen zusammenhängen und/oder auch ethischer beziehungsweise praktischer Art sind. Hier - neben den Sprachbarrieren - einige wichtige Punkte:
- Nach wie vor gilt im Straf- und im Strafprozessrecht das Prinzip der Territorialität. Andererseits greift der sogenannte europäische Haftbefehl immer mehr, so dass die Anzahl der Auslieferungsverfahren zunimmt. Nicht zufällig stammen alle konkreten Beispiele aus dem Strafvollzug - im Bereich der ambulanten Maßnahmen bleibt die grenzüberschreitende Straffälligenhilfe schwierig. Die Sanktionspraxis ist von Land zu Land sehr unterschiedlich (dies gilt insbesondere für die Geldstrafe und die Voraussetzungen und Durchführung einer Maßnahme mittels gemeinnütziger Arbeit). Bei den Bewährungsauflagen werden Fortschritte erzielt. Das Euro-Institut in Straßburg bietet hier besondere Kurse für Mitarbeiter(innen) der Verwaltung, um die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu fördern.
- Datenschutz: Persönliche Daten dürfen nicht ohne weiteres weitergegeben werden. So wurde die Auskunft für die bulgarische Mutter nur deswegen gegeben, weil die Anruferin bei der französischen Anlaufstelle bekannt war. In Görlitz werden die polnischen Straffälligen nur auf Anfrage ihrerseits unterstützt. Vertrauen zu erwecken und aufzubauen ist ein wesentliches Merkmal in diesem diffizilen Bereich.
- Finanzielle Grenzen: Zwar stellt die Europäische Union vielfältige Geldmittel zur Verfügung. Allerdings muss es sich um Projekte handeln, die eine sehr große Infrastruktur verlangen - kleinere Projekte und erst recht persönliche Initiativen haben kaum Chancen.
Das beste Mittel, um diese Grenzen zu überwinden, ist eine intensive Kontaktpflege, die eine breite Vertrauensbasis schafft. Grenzen können zudem durch eine fundierte Aufklärung über Systeme und Rechte abgebaut werden. Dadurch werden Ängste bei den Straffälligen und ihren Angehörigen überwunden.