Zahl eins, nimm vier
Die Verbände wollen ein ganz neues Abrechnungssystem erreichen - derzeit laufen die Verhandlungen. Janett Graske, Caritas-Pflegefachkraft und gelernte Krankenschwester, spricht in unserem Interview darüber, was das derzeitige System in der Praxis bedeutet.
Frau Graske, bitte geben Sie uns doch einmal ein Beispiel aus Ihrem Alltag, welches das Problem erklärt.
Angenommen, einer meiner Patienten braucht eine Medikamentengabe, eine Injektion, eine Blutzuckermessung und einen Wundverband. Dann bezahlen die Kassen dem Pflegedienst nur den Wundverband, weil das in ihren Augen die hochwertigste Leistung ist. Es spielt für die Kassen keine Rolle, wie lang der gesamte Einsatz gedauert hat, ob ich vom behandelnden Arzt vielleicht noch Informationen am Telefon erfragen musste oder ob ich den Patienten neben dem Wundverband mit weiteren Dingen versorgt habe.
Das heißt, Sie erbringen alle vier Leistungen zum Preis von einer?
Ja, weil wir als Pflegedienst die anderen drei Leistungen sozusagen ohne Aufschlag mit erledigen müssen. Die anderen Punkte auf meiner To-Do-Liste werden nach dem aktuellen Abrechnungssystem schlicht nicht bezahlt. Das bedeutet, dass ich möglichst in Nullzeit die anderen Punkte abarbeiten muss, aber das gelingt natürlich nicht. Als Pflegedienst machen wir ein Minusgeschäft trotz Arbeit im Akkord mit 30 bis 35 Hausbesuchen, bei einer Vollzeitstelle. Ich arbeite Teilzeit und habe "nur" 16 bis 26 Besuche. Und damit stehen wir nicht alleine da. Die AWO und Diakonie in Niedersachsen drohen aus der ambulanten Pflege auszusteigen, weil sie sich das nicht mehr leisten können und die Kassen eine angemessene Bezahlung verweigern.
Was würden Sie der Politik, den Krankenkassen und allen Verantwortlichen für das Abrechnungssystem in der ambulanten Pflege, gerne sagen?
Ich wünsche mir eine faire Vergütung der Krankenkassen. Ich finde, was ich an Leistung zu Hause bei den Menschen erbringe, das soll auch wertgeschätzt und vergütet werden. Sie gehen ja auch nicht zum Bäcker, bestellen eine Torte und drei Brötchen und bezahlen dann nur die Torte. Würde der Bäcker sich das gefallen lassen? Und in diesem sensiblen Pflegeberuf, der ohnehin auf Wertschätzung angewiesen ist, da passiert so etwas! Wenn ich höre, dass mein Arbeitgeber nicht das finanziert bekommt, was ich leiste, werde ich wütend. Das Gefühl zu haben, als Minusgeschäft zu laufen, ist alles andere als schön. Dazu kommt meine Befürchtung, dass alle Fachkräfte von ambulanten zu stationären Einrichtungen abgeworben werden - und dann würde das System der ambulanten Pflege irgendwann zusammen brechen, vielleicht stehen wir sogar schon kurz davor. Und wie werden dann die Patienten zu Hause versorgt? Werden sie drei Mal am Tag mit dem Krankentransporter zum Arzt gefahren, um eine Insulinspritze zu bekommen? Schließlich hat der Krankenversicherte ein Recht darauf, medizinisch versorgt zu werden, und zwar von Profis.
Es ist kein Geheimnis, dass der Pflegeberuf bei Jüngeren, aber auch in der gesamten Gesellschaft wegen schlechter Rahmenbedingungen ein Imageproblem hat und auch daran etwas geändert werden muss. Aus welcher Motivation heraus haben Sie Ihren Beruf ergriffen?
Ich habe mit 13 Jahren einen Unfall miterlebt und festgestellt, dass niemand erste Hilfe leisten konnte. Daraus entstand mein Wunsch, Krankenschwester zu werden. Teil der Ausbildung war auch die ambulante Pflege. Diesen Part habe ich in der Caritas-Sozialstation Pankow absolviert. Menschen zu Hause zu versorgen hat mir so einen riesen Spaß gemacht, dass ich mich direkt nach meinem Examen beworben habe - und in der Caritas-Sozialstation Kreuzberg wurde ich sofort eingestellt. Seit 20 Jahren bin ich mittlerweile dabei.
Was gefällt Ihnen entgegen aller Widrigkeiten am Pflegeberuf?
Für mich ist es einer der schönsten Berufe, die es gibt und ich möchte auch in 20 Jahren noch darin arbeiten, wenn es meine mentale und körperliche Kraft zulässt. Mir gefällt, dass es abwechslungsreich ist - ich habe ein breites Spektrum an medizinischer Versorgung, die ich leisten kann. Auch für die Patienten ist die ambulante Versorgung zu Hause die angenehmste Form. Ich habe außerdem einen Arbeitgeber, der mich lange halten möchte, ich fühle mich hier wohl und engagiere mich gerne.
Was bedeutet es für das Privatleben, in der Pflege zu arbeiten?
Unsere Pflegedienstleiterin versucht so frühzeitig wie möglich den Dienstplan auszuhängen, so dass wir so gut wie möglich planen können, auch Urlaub. Und trotzdem: Wenn ich Spätdienst habe, kann ich nicht zu Geburtstagsfeiern gehen. Wer mit jemandem aus der Pflege befreundet ist, muss Abstriche machen. Ich habe das Glück, dass mein Freundeskreis momentan um meinen Dienstplan herum ein Osterfeuer plant.
Was muss sich in Zukunft ändern?
Mehr Entscheidungsspielraum und mehr Zeit! Aus meiner Sicht sollte die Krankenkasse der Pflegefachkraft die Entscheidung überlassen, wie lange sie vor Ort braucht. Und wenn es bei meinem Hausbesuch notwendig ist, ein Gespräch darüber zu führen, dass vor bestimmten Medikamenten nicht gegessen werden darf, dann muss diese Zeit vergütet werden. Es ist in Ordnung, dass ich meine Arbeit dokumentiere, aber in den 20 Jahren, in denen ich dabei bin, ist die Dokumentationspflicht immer strenger geworden. Da bleibt kaum Zeit für ein persönliches Wort und das finde ich nicht in Ordnung.
Wir müssen uns auch darauf konzentrieren, Nachwuchs anzuwerben. Wir sollten Kampagnen ohne Ende fahren - aber dabei unbedingt darauf achten, dass das, was in den Kampagnen versprochen wird, auch eingehalten werden kann.
Bei allen politischen Diskussionen zur Zukunft, wie zum Beispiel rund um das Thema Pflegekammern, sollte man außerdem immer diejenigen einbeziehen, die in der Praxis arbeiten.
Info
Herzstück der Kampagne ist die Facebookseite - hier werden Bilder, Beispiele aus der Praxis und Videoclips zu sehen sein, die das Problem verdeutlichen. Sie können uns helfen, eine faire Pflege zu erreichen, indem Sie die Postings teilen und Ihrer Familie, ihren Freunden und Bekannten von der Kampagne erzählen!