Warum fällt uns vergeben so schwer?
Frau Wolf, warum fällt es uns oft so schwer, anderen zu verzeihen?
Die größte Hürde für uns ist die Vorstellung, dass verzeihen auch gleichzeitig gutheißen bedeutet. Wenn wir jemandem innerlich grollen und ihm Vorwürfe machen, haben wir das Gefühl, den anderen so für dessen unangemessenes, unfaires Verhalten uns gegenüber zu bestrafen. Wir denken, der andere habe es nicht verdient, dass wir ihm verzeihen. Manchmal haben wir auch Angst, unser Verzeihen diene dem anderen als eine Art Freifahrtschein für eine Wiederholung des Verhaltens. Oder aber wir glauben, dass wir uns dann aussöhnen oder das Fehlverhalten völlig vergessen müssten. Viele Menschen sehen im Verzeihen auch eine persönliche Schwäche.
Welche Folgen kann es haben, wenn wir nicht verzeihen?
Wenn wir innerlich an unseren Vorwürfen festhalten, binden wir unsere Energie und Aufmerksamkeit an unsere Vergangenheit. Das bedeutet, dass uns Nichtverzeihen Konzentration und wertvolle Kraft raubt. Wir können unsere Talente und Kreativität nicht in der Gegenwart einsetzen. Generell kann die Beziehung zu anderen Menschen leiden. Es kann sein, dass wir uns zurückziehen, unleidlich, aggressiv oder gar depressiv werden. Daneben bleibt unser Körper in konstanter Anspannung und das Herz-Kreislauf- sowie das Magen-Darm-System bleiben in Alarmstellung, unsere Abwehrkräfte fahren herunter, wir sind erschöpft, gestresst und krankheitsanfälliger.
Was kann dabei helfen, nach einem Bruch wieder zueinander zu finden?
Zum Wiederzueinanderfinden gehört natürlich die Bereitschaft beider Personen. Am besten fangen wir bei uns selbst an. Wir können uns selbst beim Vergeben helfen, indem wir unsere Reaktion und die des anderen genauer betrachten und einen neuen Blickwinkel einnehmen. Dabei kann es sehr hilfreich sein, wenn wir ganz konkret Fragen an uns und unser Verhalten stellen.
Können Sie hierfür ein paar Beispiele nennen?
Gerne. Folgende Fragen können uns beim Wechsel der Perspektive helfen: Welches Verhalten hat der andere genau gezeigt? Welche Gedanken, Gefühle und Körperreaktionen habe ich daraufhin gehabt? Ist meine Bewertung der Situation angemessen, verzerrt oder übertrieben? Welche Motive könnten hinter dem Verhalten des anderen stehen? Könnte ich einen Anteil an diesem Ereignis haben? Wie wichtig ist diese Person für mich? Welche Nachteile hätte ich, wenn wir nicht mehr zusammenfinden? Welche Vorteile hätte ich, wenn wir uns versöhnen? Danach können wir uns bewusst für oder gegen das Verzeihen entscheiden. Wenn wir uns dafür entscheiden, hilft die innere Haltung "Ich bin bereit, zu verzeihen, weil …" mir zum Beispiel die Beziehung zu ihm wichtig ist, weil ich gern meinen inneren Frieden wieder haben möchte, weil es mir dieses Ereignis nicht wert ist, mit Wut und Stress weiterzuleben.
Kann ich auch verzeihen, ohne zu vergeben?
Zunächst einmal müssen wir klären, welches der Unterschied zwischen verzeihen und vergeben ist. Verzeihen bedeutet, dass wir das Verhalten als gegeben annehmen und unseren Vorwurf zurückziehen. Vergeben ist ein tieferer Prozess, in dem wir den Beschuldigten von seiner Schuld freisprechen. Wir können also durchaus verzeihen, ohne zu vergeben.
Wie wichtig ist es, sich selbst verzeihen zu können?
Das ist enorm wichtig. Alles, was ich in Bezug auf das Verzeihen anderen gegenüber gesagt habe, gilt auch für uns selbst. Wir schaden unserem Selbstwertgefühl, beeinflussen unser Verhalten negativ und stören unser körperliches und seelisches Gleichgewicht.
Was, wenn der andere partout keinen Frieden mit mir haben will?
Wenn der andere keinen Frieden schließen will, können wir immer noch innerlich Frieden finden. Ob wir uns äußerlich von der Person distanzieren, hängt natürlich von der Situation ab.
Zur Person:
Dr. Doris Wolf kommt aus Mannheim und ist Diplompsychologin. Sie hat die Website psychotipps.com gegründet. Dort erhalten User kostenfrei mehr als 2500 Beiträge mit Informationen, Anleitungen, Übungen, positiven Denkanstößen und Inspirationen, die dabei helfen können, das eigene Handeln besser zu verstehen und in Frieden mit sich und anderen zu leben.