Es muss im Kopf Klick machen
Weil er keine feste Bleibe hat, trägt er sein Geld stets bei sich. "Ich war in der Kneipe, ein paar Bier trinken, und da muss jemand gesehen haben, dass ich viel Knete in der Tasche habe …" Rüdiger Kelch landet im Krankenhaus, lässt sich dort helfen - und zieht auf Anraten in eine Berliner Wohnungslosenunterkunft. Das war 1998.
Gut ein Jahr zuvor war Kelchs gutbürgerliches Leben den Bach runtergegangen: "Meine Frau hat sich von mir scheiden lassen und das hab ich einfach nicht gepackt." Der Vater von zwei Töchtern lässt seine Wohnung verwahrlosen, fängt an zu trinken, verliert den Kontakt zu seinen Kindern und steht wenig später ohne eine feste Bleibe da. "Es war im Grunde meine eigene Dusseligkeit, dass ich die Wohnung verloren hab", sagt Kelch. "Naja, und dann hab ich halt immer bei Freunden oder so irgendwo übernachtet und eben gesoffen."
Die Arbeit war der letzte Halt
Das einzige, was ihn vorm totalen Absturz rettet, ist seine Arbeit. "Mein Chef und die Kollegen haben mich nicht hängenlassen", berichtet der gelernte Konditor. Seit mehr als 30 Jahren arbeitete er damals schon in der Bäckerei, ist "Ofenchef" und quasi der zweite Mann im Betrieb. Der akkurate Ostpreuße behält trotz allem ein gewisses Pflichtgefühl - und dadurch seinen Job. Das ist Kelch wichtig: "Es war nie so, dass ich kein Geld gehabt habe. Ich hatte meinen festen Job und den Willen zu arbeiten."
In der Wohnungslosenunterkunft bewohnt Kelch ein 19 Quadratmeter großes Zimmer. Teilt sich das Heim mit gut 45 anderen wohnungslosen Männern: "Da ist man einfach nicht sein eigener Herr und es halten sich natürlich nicht alle an die Regeln…" Trotz allem bleibt er fast zehn Jahre dort.
Kochen, Torten backen, Kleinigkeiten reparieren - Kelch packt gern an und ist schon bald der gern gesehene Mann für alles. "Aber die Heimleitung und meine Sozialarbeiterin haben sich auch wirklich sehr um mich bemüht", berichtet er mit großer Anerkennung. Haben ihm wieder einen Ausweis besorgt, "Behördenkram" mit ihm erledigt, ihn gefordert und ihm Aufgaben geben. Kurzum: nach und nach die Schienen gelegt für die Rückkehr in ein normales Leben mit eigener Wohnung.
Trocken und seit zwei Jahren in der eigenen Wohnung
Heute ist Rüdiger Kelch 72 Jahre alt, trocken - und lebt sei zwei Jahren wieder in einer eigenen Wohnung. Zwei Zimmer, Küche, Bad - alles ordentlich eingerichtet, die Möbel - hölzerne Schrankwand, Ledercouch-Garnitur, Esstisch, Schlafsofa und Schreibtisch - alles vom eigenen Ersparten gekauft, erzählt Kelch nicht ohne Stolz und serviert mit fröhlichem Lächeln eine Erdbeertorte. Selbstgebacken. Natürlich.
Kelch engagiert sich ehrenamtlich in der benachbarten Kirchengemeinde, backt und kocht bei Gemeindefesten. Mittlerweile hat er auch wieder Kontakt zu seinen Töchtern, zu den Enkeln und sogar seinen ersten Urenkel hatte er schon auf dem Schoß. "Wir wissen umeinander, haben gegenseitig unsere Telefonnummern und wenn einer das Bedürfnis hat, kann er sich melden."
Ich schau immer wieder mal vorbei
In seinem alten Wohnungslosenheim, nur wenige Straßen entfernt, schaut Kelch regelmäßig vorbei, mindestens ein, zwei Mal im Monat: "Die mögen mich da und freuen sich immer, wenn ich komme." Für diejenigen unter den Bewohnern, die sich dort für den Rest ihres Lebens eingerichtet haben, hat er wenig Verständnis. Aber eine Erklärung: "Denen fehlt einfach der eiserne Wille."