Zwanzig Jahre EU-Osterweiterung: Ein Teil der Spannung blieb bis heute
Drei Jahre später wurden auch Rumänien und Bulgarien (EU-2) Mitgliedstaaten. Aufgrund des starken wirtschaftlichen Gefälles zwischen "alten" und "neuen" Mitgliedstaaten, befürchteten einige der vorher 15 EU-Staaten (EU-15) - nicht zuletzt Deutschland - eine große innereuropäische Zuwanderungswelle. Neben arbeitsmarktpolitischen Bedenken gründete dies in Vorbehalten hinsichtlich einer "Armutszuwanderung in die Sozialsysteme"1.
Angesichts des 20-jährigen Jubiläums zeichnet dieser Beitrag die Entwicklung des Spannungsverhältnisses zwischen EU-Freizügigkeit und nationalen Sozialleistungen in der EU und Deutschland seit den Osterweiterungen nach und erörtert deren Bedeutung für die Situation zugezogener EU-Bürger:innen in Deutschland heute.2
Sozialrechtliche Entwicklung seit der Osterweiterung
Fragen des Zugangs zu den sozialen Sicherungssystemen in den Zielländern im Kontext der Osterweiterung waren eine zentrale Triebfeder für die Entwicklung der Freizügigkeitsregelungen in der EU. Am 29. April 2004, nur drei Tage vor dem Beitritt, wurde die Richtlinie 2004/38 zur EU-Freizügigkeit verabschiedet, die bis dato geltende Regelungen zusammenfasste und konkretisierte. Diese bestätigte die Freizügigkeit und Gleichbehandlung von EU-Bürger:innen als Grundprinzipien des Gemeinsamen Marktes. Gleichzeitig knüpfte sie jedoch das Freizügigkeitsrecht für Aufenthalte zwischen drei Monaten und fünf Jahren an die Eigenschaft "erwerbstätig" und legte in Artikel 24 zur Gleichbehandlung fest, dass andere EU-Bürger:innen von Sozialhilfe-Leistungen ausgeschlossen werden können.3 Mit diesen Regelungen reagierten EU-Kommission und Rat unter anderem auf Bedenken in den "alten" Mitgliedstaaten, die Osterweiterung könne zu einer Belastung der Sozialsysteme führen. Trotz dieser Einschränkungen etablierten die meisten der EU-15-Staaten Übergangsfristen, während derer die Freizügigkeitsrechte für Bürger:innen aus den EU-8- und EU-2-Staaten beschränkt waren. Die Einschränkungen liefen 2011 (EU-8) und 2014 (EU-2) aus. Mit dem Einsetzen der vollständigen Freizügigkeitsrechte für die neuen EU-Bürger:innen flammten die politischen Auseinandersetzungen um Sozialleistungen für EU-Migrant:innen erneut auf. Dies kulminierte 2013 unter anderem in einem Schreiben der Innenministerien von Deutschland, Großbritannien, Österreich und den Niederlanden an den Rat der EU, in dem sie die Einschränkung sozialrechtlicher Ansprüche für nicht erwerbstätige EU-Bürger:innen forderten.4
Auch die Entwicklung der Gesetzgebung zur EU-Freizügigkeit in Deutschland spiegelt diese einschneidenden Momente wider. Schon 2006 wurden Ausschlüsse von steuerfinanzierten Sozialleistungen (sowohl Arbeitslosengeld II als auch Sozialhilfe) für EU-Bürger:innen explizit mit dem Ziel eingeführt, wohlfahrtsstaatlich motivierte Migration aus den neuen Mitgliedstaaten zu unterbinden.5 Mit Unterstützung des EuGH sprachen deutsche Sozialgerichte jedoch zunehmend ALG II-Leistungen zu. In den Rechtssachen Dano und Alimanovic in den Jahren 2013 und 2014 - um den Zeitpunkt des unbeschränkten Freizügigkeitsrechtes und des oben genannten Schreibens der Innenministerien - änderte der EuGH allerdings seine Haltung und bestätigte den Ausschluss als europarechtskonform. Rechtlich festgeschrieben wurden der Ausschluss von nicht erwerbstätigen EU-Bürger:innen dann 2016.6 Bis heute reißen die rechtlichen Auseinandersetzungen um Sozialleistungsbezug von Unionsbürger:innen nicht ab. Aktuell ist etwa strittig, inwieweit der praktizierte Ausschluss bestimmter Gruppen Nicht-Erwerbstätiger vom Kinder geldbezug europarechtskonform ist.7
Die Rolle der "Balance": EU-Freizügigkeit und Zugang zu Sozialleistungen heute
Aktuell sind Debatten um mobile EU-Bürger:innen weitgehend von der gesellschaftlichen und medialen Bildfläche verschwunden. Die Regulierung des Zugangs zu Sozialleistungen stellt jedoch weiterhin den Dreh- und Angelpunkt politischer und rechtlicher Entwicklungen um EU-Freizügigkeit dar. Während unserer Forschung brachte eine EU-Kommissionsmitarbeiterin dies folgendermaßen auf den Punkt: "Es gibt eine Balance. Wenn die Kommission vorschlagen würde, die Bedingungen [für regulären Aufenthalt und den Zugang zu Sozialleistungen] abzuschaffen, könnte man die Freizügigkeit vergessen. Denn dann würden die Mitglieder, vor allem die Reichen, sagen: ‚Wir sind keine sozialpolitische Union.‘ [...] Die Bedingungen abschaffen, das wäre Selbstmord, da sind die Mitgliedstaaten sehr klar." (Interview, DG Just, 6.2.2024, eigene Übersetzung).
Mit "Balance" wird hier das grundlegende Spannungsverhältnis zwischen dem Recht auf Freizügigkeit und Gleichbehandlung für EU-Bürger:innen und dem "Schutz" nationaler Wohlfahrtsstaaten durch dessen Verknüpfung mit ökonomischer Aktivität und dem möglichen Ausschluss von Sozialleistungen bezeichnet, das sich aus der Richtlinie 2004/38 ergibt. Da die Mitgliedstaaten unerwünschte Einwanderung nicht wie im Fall von Drittstaatsangehörigen über migrationspolitische Maßnahmen kontrollieren können, fungieren wohlfahrtsstaatliche Institutionen als zentrale Kontrollinstanzen.
EU-Bürger:innen in Deutschland zwischen Freizügigkeit und sozialrechtlicher Prekarität
Für die soziale Realität von EU-Bürger:innen in Deutschland hat diese grundlegende Logik der EU-Freizügigkeit konkrete Auswirkungen: Einerseits kann der Bezug sozialstaatlicher Leistungen zu einem Verlust des Aufenthaltsrechts als EU-Bürger:innen führen und das Wissen darum von der Inanspruchnahme zustehender Leistungen abhalten. Andererseits kommt dadurch dem Status "Arbeitnehmer:in" eine Schlüsselbedeutung zu, der für den Anspruch auf existenzsichernde Leistungen ausschlaggebend ist. Davon sind insbesondere Menschen in prekären, atypischen und unsteten Beschäftigungsverhältnissen betroffen, die latent Gefahr laufen, diesen Status zu verlieren, und dadurch unter erhöhtem Druck stehen, auch unter schlechten Bedingungen Arbeitsverhältnisse einzugehen.
Wie die Debatten auf EU-Ebene sowie die Entwicklungen in Deutschland zeigen, bleibt der sozialrechtliche Ein- und Ausschluss von EU-Bürger:innen auch 20 Jahre nach den Osterweiterungen und zehn Jahre nach dem Auslaufen der Übergangsfristen der zentrale Konflikt um EU-Freizügigkeit. Wie die oben zitierte Kommissionsmitarbeiterin weiter ausführt, ist es der Druck zivilgesellschaftlicher Organisationen, der die bestehende "Balance" nicht weiter zu Lasten der EU-Bürger:innen kippen lässt. Diesen gilt es also aufrechtzuerhalten.
Anmerkungen
1. Siehe Wolf, C.: EU-Osterweiterung: Erfolgsgeschichte statt "Armutszuwanderung". 2021. Download per Kurzlink: https://tinyurl.com/yaffa5dy
2. Der Beitrag basiert auf Erkenntnissen aus dem Forschungsprojekt "Grenzen der Welt II" an der Humboldt-Universität zu Berlin.
3. Die "Erwerbstätigeneigenschaft" haben laut der Richtlinie Arbeitnehmer:innen oder Selbstständige sowie Personen, "denen dieser Status erhalten bleibt", etwa nach unfreiwilligem Verlust der Arbeitsstelle (Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten).
4. Mikl-Leitner, J.; Friedrich, H. P.; Teeven, F.; May, T. : Letter to Alan Shatter, President of the European Council for Justice and Home Affairs. 2013.
5. Martinsen, D. S.; Werner, B.: No welfare magnets - free movement and cross-border welfare in Germany and Denmark compared. In: Journal of European Public Policy, 26(5)/2019, S. 637-655, S. 643.
6. Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II und in der Sozialhilfe nach dem SGB XII, Bundesgesetzblatt Nr. 65, 28. Dezember 2016.
7. Eckhardt, B.: SGB II/SGB XII-Ausschluss neu zugewanderter EU-Bürger*innen. In: Sozialrecht-Justament. Rechtswissen für die existenzsichernde Sozialberatung, Jg. 11, Nr. 9/2023, S. 11.