Migrationskrise? Eine dringend notwendige Einordnung
All das wird dann, wenig differenziert, unter dem Schlagwort "Migrationskrise" verhandelt. Diese Debatten haben jedoch das gravierende Manko, dass sie das eigentliche Problem verkennen und zudem die Faktenlage grob missachten. Eine Auseinandersetzung mit dem Begriff "Krise" kann sehr hilfreich dabei sein, diese verschobene Debatte wieder zu versachlichen und vor allem nicht zu vergessen, wer die wirklichen Leidtragenden sind.
Klimakrise. Ehekrise. Migrationskrise. Welcher der drei Begriffe passt nicht? Wenn Sie jetzt "Migrationskrise" gedacht haben, liegen Sie richtig. Die anderen beiden Begriffe benennen korrekterweise das, was krisenhaft ist. Bei der "Migrationskrise" ist das anders. Denn tatsächlich ist nicht die Migration in der Krise. In einer Krise befinden sich stattdessen zum einen die Menschen selbst, die sich auf den Weg machen, und zum anderen die Verwaltungs- und Aufnahmestrukturen in Europa sowie - mittelbar - auch die politisch-gesellschaftliche Sphäre. Es ist sicherlich in manchen Gemeinden der Fall, dass die Aufnahmemöglichkeiten erschöpft oder sogar überschritten sind. An vielen anderen Orten, gerade in den großen Städten, ist das aber nicht so. Es wäre also ehrlicher (und auch für die Debatte zielführender), wenn man über eine begrenzte Krise der Aufnahmesysteme sprechen würde. Ein Hinweis auf diese semantische Dimension ist dabei mehr als nur reine Sprachspielerei. Vielmehr lässt sich so auf das blicken, was das Problem tatsächlich entschärfen könnte - einen Ausbau von Aufnahmestrukturen beispielsweise, mehr Stellen in der Verwaltung oder entsprechende Integrationskonzepte.
Es braucht die Hinwendung zu Menschen ...
Noch wichtiger als die begriffliche Dimension ist der Blick zu den betroffenen Menschen. Beim Reden über die "Migrationskrise" geht es in der Regel um deutsche oder europäische Befindlichkeiten, selten um die Menschen, die eigentlich im Mittelpunkt stehen sollten. Dabei gäbe es hierfür mehr als genug Anlass. So sind in den Jahren seit 2014 mindestens 29.720 Menschen bei der Überfahrt von Nordafrika nach Europa gestorben. Dennoch ist die Zahl der Menschen, die diese Überfahrt versuchen, nicht nachhaltig gesunken.
Das zynische Argument, man dürfe die Seenotrettung nicht zu stark machen, da das ein "Pullfaktor" sei, ist nicht zu halten. Die Menschen, die sich zu einer solch gefährlichen Überfahrt entschließen, lassen sich von der sehr realistischen Gefahr, dabei zu sterben, offensichtlich nicht abschrecken. Das sollte zu denken geben: Muss ein Mensch, der sich trotz dieser Gefahr dazu entscheidet, nicht sehr gute Gründe haben? Migration ist in der Regel eine Antwort auf Krieg oder langanhaltende und schwerwiegende Krisen wie den Klimawandel und die daraus resultierende fehlende Perspektive. Schließlich bedeutet Flucht auch oft jahrelange Ungewissheit und Wartezeiten in Asylzentren, finanzielle Belastungen und die sehr reale Gefahr von Gefangennahme, Folter oder Ausbeutung.
... und nicht das Wegducken
Was sind denn eigentlich die Realitäten der europäischen Migrationspolitik, und welche Konsequenzen hat sie? Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) hat 2023 die ungeheuerliche Zahl von 117 Millionen Menschen weltweit als "forcibly displaced", als gewaltvoll vertrieben, eingestuft. Von ihnen sind 65,5 Millionen intern Vertriebene, sie halten sich also innerhalb ihres Herkunftslandes auf. 37,3 Millionen erfüllen die Definition als "Flüchtling" nach der Genfer Flüchtlingskonvention, wovon die Mehrheit innerhalb der Region flieht. In der Folge halten sich drei Viertel der Geflüchteten in ärmeren Ländern auf, in "low and middle income countries", ein Fünftel sogar in den am wenigsten entwickelten Ländern. Die reichen Industriestaaten nehmen nur rund ein Viertel aller Flüchtlinge auf. Das zeigt sich auch an den Hauptaufnahmeländern. Auf den ersten beiden Plätzen liegen der Iran und die Türkei mit je 3,8 beziehungsweise 3,3 Millionen aufgenommenen Flüchtlingen. Deutschland bildet mit 2,6 Millionen insoweit eine Ausnahme, es hält den vierten Platz.2 Diese kleine Übersicht zeigt, dass ein Großteil der Vertriebenen weltweit ihr Land nicht verlässt oder lediglich in ein Nachbarland flieht. Die daraus entstehenden Belastungen müssen von diesen Ländern bewältigt werden - und kaum von der EU.
Das führt zu einem letzten Aspekt: der Auslagerung von Kontrollmechanismen in andere, nichteuropäische Staaten, auch Externalisierung genannt. Das Muster ist dabei immer recht ähnlich. Grenzschutz- und Polizeibehörden von Drittstaaten erhalten Finanzmittel, technische Ausstattung, Fahrzeuge und Trainings von der EU und sollen im Gegenzug Migrant:innen schon in ihrem Land an der Weiterreise hindern. Wohin das führt, zeigt das Beispiel Libyen auf traurige Art und Weise. Wie sich dort die Lage für Migrant:innen gestaltet, ist mittlerweile gut durch Studien von Nichtregierungsorganisationen oder internationalen Organisationen wie dem UN Human Rights Council gezeigt worden: Willkürliche Verhaftungen, Menschenhandel, Folter, Morde und schwere sexualisierte Gewalt sind in großem Ausmaß nachgewiesene Realität. Damit unsere "Krise" etwas kleiner ausfällt, nehmen wir eine echte, tagtägliche humanitäre Krise sehenden Auges in Kauf.
Eine andere Perspektive
Beim Sprechen über Migration erscheint es mir wichtiger denn je, darauf zu achten, dass die Maßstäbe nicht verrutschen. Es ist klar, dass die plötzliche Aufnahme vieler Menschen, die die lokalen Gegebenheiten nicht kennen, herausfordernd sein kann. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass versucht wird, aus dem Thema politisches Kapital zu schlagen, und das Problem in der Öffentlichkeit zugespitzt wird. Das Sprechen von einer "Migrationskrise" verdeckt zudem tatsächliche Lösungsstrategien, nämlich eine Stärkung der Aufnahme-Infrastruktur und Verwaltung sowie Möglichkeiten für geregelte Arbeitsmigration. Nicht zuletzt sollte auch nicht unterschlagen werden, dass Deutschland, aber auch die Europäische Union insgesamt aktuell eine Strategie verfolgen, die zwar sehr krisenbezogen ist, die wahren Krisen aber nur am Rande beachtet und bearbeitet. Ein Perspektivwechsel, der über den eigenen Tellerrand hinausgeht und sich den eigentlichen Krisen zuwendet, wäre ein wichtiger Schritt.